Il Cinema Ritrovato 2017: Break Up von Marco Ferreri

Marco Ferreris Filmographie besteht aus einer enormen Anzahl an Filmen, bei denen das Nacherzählen einer „Handlung“ ein diebisches Vergnügen bereitet. Oft ist die Erfahrung einer Nacherzählung von Ferreri spektakulärer als die Filme selbst. Das liegt an seiner subversiven Ader, die seine Fähigkeiten als Filmemacher übersteigt. Das heißt nicht, dass wir es hier mit einem mittelmäßigen Filmschaffenden zu tun haben, es ist nur so, dass sein radikaler Existentialismus in der Narration nicht unbedingt in der sehr klassischen, wenn auch von Surrealismus und Avantgarde beeinflussten Form gespiegelt wird.

Break Up, den man auch als L’uomo dei cinque palloni kennt, ist ein solches Beispiel. Der Film entfaltet sich wie eine mehr auf Komödie gerichtete Version von Dillinger è morto. Marcello Mastroianni spielt den männlichen Mann Mario, einen reichen Bonbonverkäufer im Anzug, der eines Tages auf ein riesiges Problem stößt: Wie viel Luft kann ein Luftballon aufnehmen bevor er platzt? Diese Frage, der Mario wie besessen nachgeht, bewirkt eine Krise, die sich auch auf das sowieso schon unausgeglichene Voreheleben mit Giovanna (Catherine Spaak) auswirkt. Im Endeffekt sieht man über fast zwei Drittel des Films Mastroianni beim Luftballonaufblasen, mal spontan, mal mit fast wissenschaftlichem Aufbau, während um ihn herum seine verzweifelte Frau versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen. Nein, der Luftballon ist wichtiger. In einem plötzlich farbigen Traum (der Film ist ansonsten in schwarz und weiß) befindet sich Mario auf einer Ballonparty samt Flugeinlagen und Ballonorgien. Doch selbst dort will er sich lange Zeit den Frauen entziehen und sich um seinen Ballon kümmern. In der Wohnung von Mario gibt es außerdem noch ein junges Dienstmädchen, das ihm gefällt und einen riesigen Hund, dem Mario eine Suppe zu essen gibt. Der Film gliedert sich in vielerlei Hinsicht in das herumdriftende Schaffen der frühen 1960er Jahre an, man denke an die Filme von Fellini oder Godard aus dieser Zeit. Nach der Einführung des großen Ballonkonflikts wendet sich der Film in einer Abwärtsspirale in sich selbst, es gibt keine Entwicklungen mehr, sondern nur Folgen dieses Konflikts. Dabei kommt aber immer wieder Leben in diese Situation, weil sich die Figuren häufig in andere Richtungen neigen bevor sie doch wieder in ihre ursprüngliche Krise zurückfallen. Dadurch entsteht eine absurde Ausweglosigkeit. Aber Ferreri ist wilder als viele seiner Kollegen, was auch daran liegt, dass Mario schlimmer ist als jede noch so narzisstische Figur bei den genannten Regisseuren. Der Ballonmann ist derart widerlich im Verhalten zu seiner Umgebung, dass man das ganze eigentlich nur als Komödie begreifen kann.

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Nun ist es aber nicht so, dass der Film einzig aus Luft oder Lachern besteht. Ferreri zeichnet hier äußerst präzise das Bild einer in sich gekehrten Männlichkeit, die im souveränen Zynismus einer Selbstbemitleidung ertrinkt. Diese Männlichkeit ist auch eine des Kapitalismus. Mario definiert sich zu großen Teilen über seinen materiellen Erfolg, seine Führung durch die eigene Wohnung erinnert fast an Patrick Bateman in American Psycho. Die Krise erinnert ihn auch an eine Abwesenheit. Was wir hier haben ist Luft und Ferreri macht Luft sichtbar. Nicht nur vor dem Hintergrund einer System- und Männlichkeitskritik droht der Ballon hier und da zum Symbol zu werden. In einer frühen Szene legt der Film einen Phallusballon nahe, später ist es eher die Luft, die diesen füllt, die  metaphorisch interessiert. Es gibt einen erkrankten Blick hier, der noch nicht so obszön ist wie einiges, was Ferreri später machte, aber der durch den Ballon ein Symptom bekommt, das eine ganze Krankheitsgeschichte verdeutlicht. Dieser erkrankte Blick gehört letztlich einer Depression an, die vermutlich durch äußere Umstände bewirkt wurde.

Der Film, der aus einer schlimm gekürzten Version durch Produzent Carlo Ponti von der Cineteca Bologna restauriert wurde, erfuhr seine Aufführung auf dem Piazza Maggiore, wobei jemand die glorreich bescheuerte Idee hatte, Luftballone auf die Sitze zu legen. Im Publikum befanden sich eine ganze Menge Marios, die es sich zur Aufgabe machten, herauszufinden wie viel Luft in einen Ballon passt bevor er platzt. Hätte man wissen können, Film war trotzdem gut.

Il Cinema Ritrovato 2017: The Power and the Glory von William K. Howard

Manchmal bedarf es des zeitigen Anstoßes durch einen Mitbetrachter, um zu erkennen, dass man bei der Beurteilung eines Films einem Kurzschlussurteil unterlegen ist. Der Wert des Schweigens nach dem Kino – insbesondere des Schweigens über den gesehenen Film – sollte nicht unterschätzt werden; denn es gibt dem eben Aufgenommenen die Möglichkeit, weiterzuwirken, sich zu entfalten, Wurzeln zu schlagen. Aufzugehen in den Tiefenschichten des persönlichen Bildreservoirs, auf dass es irgendwann in neuem, ungeahntem Gewand wiederauferstehen kann. Doch genauso leicht vermag die unventilierte Filmerfahrung eines Cinephilen und Vielsehers zu verkrusten und ins Unbewusste abzusinken, in einer Form, die dem zugehörigen Kunstwerk in keiner Weise gerecht wird. Womöglich hat man schon beim Schauen gespürt, dass in den Bildern mehr steckt, als der erste Blick verrät. Doch irgendein Denkreflex hat sich quergestellt und die Intuition abgebügelt. Das kenne ich schon, ich weiß, wie das funktioniert. Ein klarer Fall nach Schema F, etc. pp. Man kommt aus dem Kino und tut seine fundierte Geringschätzung kund, mit wohliger Abgeklärtheit in den Augen. Und man beginnt bereits damit, zu vergessen. Womöglich zu Recht – doch vielleicht auch nicht. Und lauscht man dem, was andere über den Film zu sagen haben, jene, die anderer Meinung sind und diese auch zu begründen wissen, so gibt es hier, in dieser kurzen, empfindlichen Phase zwischen Ersteindruck und Bilanz, die Hoffnung einer Rettung.

The Power and the Glory von William K. Howard

Eine solche erfuhr für mich William K. Howards The Power and the Glory (1933) beim heurigen „Il Cinema Ritrovato“. Ein Film, der mich beim Sehen relativ kalt ließ – abgesehen von der Irritation durch ein paar stilistische Eigenheiten, die ich allerdings sehr schnell unter der Kategorie „gescheiterte Experimente“ verbuchte. Er handelt vom Leben und Tod des (fiktiven) Railroad-Tycoons Tom Garner, der in jeder Altersstufe von Spencer Tracy gespielt wird. Erzählt wird Garners Geschichte von seinem Sandkastenfreund und langjährigen Wegbegleiter Henry (Ralph Morgan). Der Film beginnt mit einer Totenmesse für den verschiedenen Magnaten, die ein sichtlich niedergeschlagener Henry gesenkten Hauptes verlässt. Zuhause spricht er mit seiner Frau über den Toten. Diese hat kaum gute Worte für ihn übrig. Henry sieht sich veranlasst, Garner (oder Tom, wie er ihn nennt) in Schutz zu nehmen, und seine Imagekorrektur-Bestrebung setzt seine Reihe von Rückblenden in Gang (die markante Flashback-Struktur des Film legt einen Einfluss auf Orson Welles‘ Citizen Kane nahe, wie Pauline Kael und Dave Kehr – der Kurator der Howard-Schau in Bologna – vermerkt haben).

Die Rückblenden zeichnen Garners Werdegang in groben Zügen nach. Einerseits ist die knapp 80-minütige Erzählung sehr elliptisch. Man sieht die Hauptfigur als Kind, und kurz darauf heißt es im Voice-Over: „Ehe man sich’s versah, war er einer der erfolgreichsten Eisenbahnunternehmer des Landes“. Andererseits gibt es eine komplexe narrative Schichtung mit vier Zeitebenen, zwischen denen zickzack-artig hin- und hergesprungen wird: Garners Kindheit, seine Prä-Tycoon-Phase als einfacher „track walker“ (eine Art ambulanter Schieneninspektor), der spätere Zenit seines Erfolgs und die Rahmenhandlung nach seinem Tod. Auf den ersten Blick entsteht dabei (im Unterschied zu Citizen Kane) der Eindruck der Apologie eines missverstandenen Self-Made-Mannes, der vielleicht etwas überambitioniert, aber (fast) immer rechtschaffen und ehrlich war. Dessen Unglück in erster Linie auf die Schwäche und Ignoranz seiner Nächsten zurückzuführen ist. Ich nahm diese Präsentation, die wie ein Schlüsselreiz auf meinen ideologiekritischen Reflex wirkte, für bare Münze – obwohl es durchaus Momente gab, in denen gewisse Widersprüchlichkeiten der Form leise Zweifel in mir weckten, ob der Film sich wirklich derart vorbehaltlos hinter Garners Figur stellte, wie ich meinte, glauben zu müssen. Weiters erschien mir Henrys aufdringlicher Voice-Over als unnötige Doppelung der Bildebene – ein weiters Reflexurteil, diesmal formalistischer Natur. Wenn’s bei Blade Runner nicht passt, warum sollte es hier Sinn machen?

Nach dem Film war ich bereit, ihn sofort ad acta zu legen, als müde Aufsteiger-Story und holprige Spielerei mit fragwürdiger Botschaft. Doch das kurze Gespräch mit einem Freund unmittelbar nach dem Screening belehrte mich eines Besseren – vor allem, weil seine Argumente andocken konnten an Aspekte meiner Wahrnehmung, die ich zwar verdrängt, aber noch nicht verbaut hatte. Der bloße Hinweis auf eine Handvoll offenkundiger Doppelbödigkeiten rückte den Film umgehend in ein anderes Licht und zwang mich, ihn nochmal unter anderen Vorzeichen Revue passieren zu lassen.

The Power and the Glory von William K. Howard

Zentral für dieses Umdenken war die Bewusstwerdung der eigentümlichen Perspektive von The Power and the Glory. Nahezu alles, was wir über Tom erfahren, wird durch Henrys rosarote Brille gefiltert. Und Henry ist eine ziemlich jämmerliche Figur. Ein pedantischer Angsthase und geborener Lakai, der sein Leben lang zu Tom aufgeblickt hat, stets in dessen Schatten stand und vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt war, ohne es sich selbst einzugestehen – eine Art Smithers ohne Pragmatismus. Der Film macht dies in jeder dritten Szene deutlich. Zeigt, wie er sich als Kind nicht traut, ins Wasser zu springen, als Tom sich beim Tauchen zwischen zwei Steinen verheddert. Wie er als Studierender genüsslich eine schnörkelige Schönschrift kultiviert – in einem Brief an den verehrten Kameraden. Wie er als Toms Sekretär Arbeit findet und aus Knausrigkeit beinahe dessen Anlagetipps ausschlägt, die ihm schließlich zu seinem gemütlichen Heim verhelfen.

Zugleich spricht aus jedem Wort Henrys die rückhaltlose Anbetung, die er Tom entgegenbringt, diesem ur-amerikanischen Machertypen, der all das verkörpert, was er nie sein konnte. Auf den er dermaßen viel projiziert, dass jede noch so zaghafte Kritik an diesem Idol um jeden Preis auf Abstand gehalten werden muss. Sein Versuch, das eherne Erinnerungsbild seines Freundes intakt zu halten, äußert sich gerade in der schon erwähnten Aufdringlichkeit seines Voice-Overs, der sich manchmal über die Stimmen der Figuren legt und diese in Handpuppen verwandelt – etwa in einer parabelhaften Szene über die Annäherung zwischen Tom und seiner Frau Sally (Colleen Moore), bei der Henry, wie auch bei vielen anderen von ihm geschilderten Ereignissen, gar nicht zugegen war. Diese „Geschichtsklitterung“ macht ihn auf subtile Weise zum unzuverlässigen Erzähler und verleiht den Rückblenden eine faszinierende Ambivalenz. Das Karikatureske mancher Passagen, die Garner als „simple country boy“ verklären oder ihn zum klarsichtigen „maverick“ krönen (der zwar nichts von Rechnungswesen versteht, aber weiß, wie man ein Bahnunternehmen zu führen hat, verdammt nochmal!) tritt unter diesem Blickwinkel deutlich hervor. Der Umstand, dass der damals 33-jährige Spencer Tracy seine Figur auch als unbedarften, analphabetischen Jungspund spielen darf, erscheint plötzlich nicht mehr wie eine befremdliche Hollywood-Eigenheit, sondern als Kommentar auf den unhintergehbaren Idealcharakter dieses verbrämten Gedächtnis-Garners. Und eine besonders ärgerliche Sequenz hat nun etwas von einer Verblendungs-Apotheose: Der Großindustrielle besucht eine Fabrik, die von einem Streik stillgestellt wurde. Ein garstiger Gewerkschafter mit russischem Akzent peitscht die dumpfen Arbeitermassen auf. „Wenn ich diesen Garner in die Hände bekomme, dann…“ – „Was dann?“, ertönt es aus der Menge. Der Chef, im Herzen nach wie vor ein Mann des Volkes, besteigt die Bühne, verweist den Hetzer auf seinen Platz und hält eine Brandrede, die jeden noch so renitenten Kommunisten zur Räson bringen würde. Aber leider gab es damals ein paar Sturköpfe, wie man erfährt, der Streik musste blutig niedergeschlagen werden, Hunderte kamen ums Leben. Sind das die Taten eines guten Mannes, mahnt Henrys Frau? Papperlapapp, eine bedauernswerte Notlösung, sagt ihr Mann. Und überhaupt – hast du schon mal über seine Gefühle nachgedacht? Zuweilen manifestiert sich Henrys Opfermythos sogar in der Ästhetik. Für die Kameraarbeit zeichnet der eminente Schattenmaler und Tiefenschärfenspezialist James Wong Howe verantwortlich, viele Einstellungen neigen zum Sakral-Monumentalen. Doch keine so sehr wie die, in der Garner nach seinem Selbstmord im Schlafzimmer aufgefunden wird. Henry und der Sohn des Toten fügen sich in eine Komposition, die stark an Pietàs und klassizistische Todesdarstellungen erinnert, gerinnen förmlich zu Elementen eines symbolischen Gemäldes. Von links fällt durchs Fenster ein göttliches Licht. Es ist derselbe Schimmer, der in der Eröffnungsszene die Totenmesse beehrte. Die Heiligsprechung ist vollendet. Und man begreift, dass es in „The Power and the Glory“ eigentlich gar nicht um Tom Garner geht, sondern um Henry. Nicht um die Macht und die Herrlichkeit, sondern um die unstillbare Sehnsucht danach, die den amerikanischen Traum bis heute am Leben hält. Um die Weigerung, dessen Kehrseiten ins Gesicht zu blicken und die Trauer eines Stellvertreterdaseins.

Natürlich ist diese Lesart nicht die „Richtige“. Ohne die Anregung von außen hätte sich meine anfängliche Interpretation mit ziemlicher Sicherheit durchgesetzt, und es ist sehr gut möglich, dass andere Zuseher ihr den Vorzug geben würden. Aber die beschriebenen Ambiguitäten sind fraglos im Film enthalten – und wenn man bedenkt, dass das Drehbuch von Preston Sturges stammt, liegt die Spekulation, dass es sich dabei um Absicht handelt, nicht fern. Hätte ich nach der Sichtung geschwiegen, wäre mir diese Facette entgangen – passend bei einem Film, der nicht zuletzt von hermetischen Weltbildern erzählt.

Il Cinema Ritrovato 2017: Until They Get Me von Frank Borzage

Unsettled Moments of Harried Nerves: Die Fragen der aktiven Handlung und genremäßigen Action in Frank Borzages frühen Western Until They Get Me, der im Rahmen der „Time-Machine“-Sektion mit Filmen aus dem Jahr 1917 gezeigt wurde, erledigt sich mit dem Beginn des Films: Ein Titel verortet den Zuseher in Zeit und Raum und teilt mit, dass ein Mann dringend ein Pferd suche. Mit einer Cache-Blende eingeführt, reitet dieser Mann durchs Bild: ACTION, möchte man meinen, doch Borzage ist Borzage und war auch schon in jungen Jahren Borzage. Die nächste Einstellung ist eine Totale. Sie zeigt einige Gestalten unter einem majestätischen Baum lungern. Der Baum weht im Wind, es ist als würde der Filmemacher daran erinnern, dass es Bäume gibt im Westen und Natur und später auch Frauen und Romanzen und Begehren. Es ist bezeichnend, dass der Baum in der Sequenz um den einzigen tödlichen Pistolenschuss des Films ständig ins Bild ragt. Die Zeit hält sich an, der Film sagt uns, dass wir schauen sollen, nicht erblinden. Immer wieder bleibt Borzage einige Frames länger auf Bildern, die bereits von Figuren verlassen wurden beziehungsweise bevor diese eintreten. Das gilt besonders für Bäume, aber auch für das Feuer eines Kamins, die Spiegelung eines Pferds im Wasser oder das Gras einer Wiese.

Drei Schicksale verknüpft der Film mühelos und man könnte sagen, dass sich drei Figuren von Stereotypen in komplexe Figuren verwandeln im Lauf des Films. Mehr noch werden aus Figuren Menschen. Es geht um Kirby, einen Mann, der auf dem Weg zu seiner gebärenden und sterbenden Frau einen Mann tötet, es geht um seine Flucht und den kanadischen Polizisten Selwyn, der ihn verhaftet, dann verfolgt, aber auch versteht (man achte auf eine Nahaufnahme des Polizisten, als er Kirby festnimmt und dessen Baby sieht) und um die junge Margy, die als Dienerin auf einer Farm arbeitet und diesem Schicksal entkommen will, schließlich mit Selvyn im Ford lebt.  Margy wird von der fantastischen Pauline Stark gespielt, die öfter mit Borzage zusammenarbeitete und unter anderem auch für D.W. Griffith und John Ford vor der Kamera stand. Sie hat – wie auch alle Männer im Film – etwas – und man zögert, es zu schreiben – was man ein Borzage-Gesicht nennen kann. Es ist als würden Darsteller in seinen Filmen in den Augen und im Gesicht häufig eine Sanftheit haben, die direkt aus dem Herzen kommt. Passend dazu findet er häufig spezifische Gesten (das gilt für seine Tonfilme genau wie für seine Stummfilme), die etwas unvergleichbares in seine Figuren legen. In Until They Get Me ist das ein trotziger Wisch mit der Hand zwischen Nase und Mund, den Margy dem Sohn ihrer Arbeitgeberfamilie zuwirft.

Die Figuren handeln nicht einfach, sie sind zuerst. Wenn Kirby sein Pferd sucht und mit einem Mann verhandelt, dann ist er verzweifelt und nervös und das prägt seine Handlung. Die Souveränität von Westernhelden geht diesem Film völlig ab. Als Kirby auf sein Baby trifft, steht er verängstigt, zärtlich in einer Tür. Er ist erschöpft von seinem Ritt, aber überwältigt als ein Lächeln über sein Gesicht huscht. Borzage gibt diesen Augenblicken der Liebe mehr Zeit als den Augenblicken der Gewalt. Sein Konflikt entsteht aus der Gegebenheit, dass die Gewalt und Angst immer wieder die Liebe durchkreuzt. Aus einem Moment der Wärme, wie jenem der Begegnung zwischen Kirby und seinem Kind, entsteht eine immense Verzweiflung, weil er kurz darauf erfährt, dass seine Frau die Geburt nicht überlebt hat. Borzage macht ein Kino der verzweifelten Menschlichkeit im Schatten und im Licht einer menschlichen Verzweiflung. Das heißt nicht, dass seine Filme und auch Until They Get Me nicht einiges an trotzigem Humor aufweisen würden.

Der Mörder auf der Flucht handelt aus Liebe, der kanadische Polizist ist irgendwann von seinen Emotionen überwältigt und die junge Frau ist ähnlich wie John Fords Seven Women oder noch mehr Barbara Lodens The Frontier Experience eine Erinnerung an die Existenz eines besonders in diesem Genre bisweilen völlig übergangenen Geschlechts. Nicht nur als erstaunlich moderne Geschichte einer Emanzipation, sondern allein die Tatsache, dass auch die Männer im Film Familien haben, um die sie sich kümmern wollen, ist Until They Get Me bezüglich seiner repräsentativen Arbeitsweise bemerkenswert. Noch ein Wort zur Dramaturgie, die nach den anstrengenden Zeiten ewiger Episodendramen des letzten Jahrzehnts etwas erschöpft hätte sein können. Aber Borzages Geheimnis ist Rhythmus. Man hat das Gefühl, dass sich der Film eigentlich um die Geschichte von Kirby entzündet. Margy und der Polizist Selwyn werden ähnlich der Flash-Forwards von Alain Resnais (etwa in La Guerre est finie) mir kurzen, scheinbar unzugehörigen Szenen eingeführt um via Parallelmontage eine Engführung mit der bis dato dominanten Handlung zu erreichen. Es ist erstaunlich wie flüssig das gelingt, ein wenig erinnert insbesondere die Einführung von Margy gar an Virginia Woolf und ihre dramaturgischen Sprünge, die erst rückwirkend im großen Bild gefunden werden können. Da der Film für die Triangle Film Cooperation entstand, jene Firma, die auch hinter Intolerance von Griffith steckt, sei kurz bemerkt, dass Borzage diese Verknüpfungen niemals an große philosophische Ideen knüpft, sondern lediglich an Relationen zwischen Zeit, Ort und vor allem Menschen. Am Ende steht eine menschliche Geste von Selwyn, der nach Jahren Kirby gefangen hat. Es ist eine Geste, die vielleicht nichts wert ist, vielleicht alles. So oder so fügt sie alles zusammen und löst alles auf.

„And so I ran away. But every year, until they get me, I’m going back on the seventh of September to see my little kid.“

Il Cinema Ritrovato 2017: La nuit américaine von François Truffaut

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Lass uns gleich ins kalte Wasser springen. Es gibt in La nuit américaine mehrere Szenen, in denen sich Cast und Crew in einen freien Nachmittag oder Abend verabschieden. Der Schauspieler Alphonse, der im Film von Jean-Pierre Léaud gespielt wird, sagt seinen Kollegen dabei jedes Mal ab und geht lieber allein ins Kino. Eigentlich ein running gag, aber als Kinobegeisterter findet man sich denke ich automatisch in dieser Figur wieder. Es ist prinzipiell sehr charmant von Truffaut die cinephile Schrulligkeit – hier, aber auch in anderen Szenen – zu würdigen, aber so sehr ich mich mit diesen Figuren und Momenten identifizieren kann, so sehr erschöpft sich diese Geste aber auch, wenn ich länger darüber nachdenke.

Sebastian: Du hast natürlich recht. So charmant dieser Witz ist, es wirkt manchmal fast so, als ob Truffaut versucht seine Cinephilie zu beweisen. Dass gerade Jean-Pierre Léaud, diesen Satz immer wieder sagt, ist auch auffallend. Obwohl Truffaut selbst in diesem Film spielt, erscheint Léaud immer noch wie eine Art Alter Ego. Aber irgendwie ist das Ganze sehr passend für den Film. Allgemein entwirft er ein Bild, das vor allem behauptet, dass alle Filmschaffenden absolut verrückt nach Kino sind. Es gibt ja auch die Szene, in der Truffaut selbst verschiedenste Bücher über große Filmemacher (Bunuel, Godard, Dreyer…) zeigt. In einer Szene in der nicht gedreht werden kann, und deshalb Hintergrundgeräusche für den Film gemacht werden, muss der Tonassistent darauf hinweisen, dass sich bitte niemand über Filme unterhalten soll. Ob das Bild realistisch ist, darüber kann man wohl streiten. Es scheint natürlich sehr utopisch, andererseits habe ich vor kurzem ein Interview von Kogonada gehört, in dem er erzählt, wie überrascht er war, dass Johnnie Cho ein riesiger Truffaut-Fan ist (wie passend), und das einer seiner Produzenten, der bei Twilight mitgewirkt hat, ein riesiger Ozu-Fan ist. Vielleicht ist die Darstellung der Filmlandschaft in La nuit américaine gar nicht so realitätsfern, wie man zuerst denken mag.

Außerdem passt das Ganze (auch wenn es schon sehr dick aufgetragen ist) ganz gut zu einem der Themen des Filmes. Truffaut scheint zu behaupten: Film ist gegenüber dem wahren Leben zu bevorzugen.

Rainer: Es geht mir da gar nicht um Realitätsnähe oder -ferne, und auch nicht darum, ob ein Filmemacher seine Vorbilder so offensiv nach außen tragen sollte, sondern darum, was er daraus macht. Er macht das ja zunächst sehr raffiniert: ein Film über das Filmemachen, der aber nicht den Anspruch erhebt, einen authentischen Blick hinter die Kulissen eines Filmdrehs zu werfen, sondern eine Art Parallelwelt konstruiert. Diese Welt setzt sich aus diversen anekdotenhaften Episoden zusammen, bei denen auch ohne viel Fantasie vorstellbar ist, dass sie sich tatsächlich hätten zutragen können. Die Frage, die ich mir stelle, ist nur, wo darin die Liebeserklärung an das Kino aufhört und wo eine narzisstische Liebeserklärung an sich selbst beginnt. Das ist jetzt gar nicht als rhetorische oder Suggestivfrage gemeint, sondern ich stelle sie mir tatsächlich. Ich mochte den Film auch, aber irgendetwas daran, lässt mich doch sauer aufstoßen.

Sebastian: Wenn man dem Film eines vorwerfen kann, dann wahrscheinlich das. Truffaut spielt selber den Filmregisseur und lässt seine Figur keine böse Tat vollbringen. Er ist oft gestresst, vielleicht sogar etwas überfordert (sein Kontakt mit den Schauspielern ist immer unbeholfen), dennoch immer gutmütig. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er einen schlechten Film macht. Auch die Tatsache, dass er die Figur zumindest scheinbar biographisch anlegt (die Episode mit dem Stehlen von Filmbildern in seiner Kindheit) lässt das ganze als verherrlichendes Selbstbild wirken.

Die Liebeserklärung an das Kino ist eine Liebeserklärung an den Filmschaffenden. Dieser wird von Truffaut gespielt. Ob der Film weniger selbstverherrlichend wirken würde, wenn Truffaut nicht die Rolle des Regisseurs selbst übernommen hätte?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Vielleicht hilft es, sich genauer anzusehen, welcher Film da eigentlich gedreht wird. Ein junges Ehepaar reist zur Familie des Mannes, um die Schwiegertochter vorzustellen. Die brennt aber schließlich mit dem Vater durch. Der Cast ist international, die Finanzierung ebenfalls und allgemein scheint der Film eher ein mittelgroßes Allerweltsprojekt eines Studios zu sein, als ein Autorenfilm. Truffaut dreht hier einen Film im Film, den er auf diese Weise so wohl nie gedreht hätte, aber in einem System und in einer Größenordnung, die den Hollywood-Produktionen nahekommt, die seine cinephile Generation in Frankreich sehr stark geprägt hat. Umso mehr ich darüber nachdenke, umso weniger sehe ich den Film vor lauter Verbeugungen.

Die Vermischungen zwischen tatsächlicher, imaginierter und vergangener Produktionsrealität, zwischen Parodie und Loblied, zwischen Verherrlichung des Autorengenies und seiner Dekonstruktion sehe ich dann doch etwas problematisch, denn sie verleihen dem Film keine Brüchigkeit, sondern nehmen ihm ganz einfach seine Transparenz, seine Ehrlichkeit. Mit Ehrlichkeit meine ich, wie gesagt, nicht eine vermeintliche Realitätsnähe, sondern die Frage, ob sich der Film seinem Publikum auf Augenhöhe annähert.

Sebastian: Ich verstehe schon, welche fehlende Ehrlichkeit du da ausmachst. Der Film scheint sich jeglicher Haltung zu entziehen. Als Godard Truffaut für diesen Film kritisierte, nannte er ihn einen Lügner. Vielleicht ist Truffaut gar nicht so sehr ein Lügner. Die Frage ist, ob der Film nur ein naives Loblied aufs Kino ist, oder ob mehr dahinter steckt. Allerdings ist das unmöglich auszumachen. Der Film hat im Endeffekt keine Haltung.

Das Einzige, was ich ausmachen kann, scheint die Behauptung zu sein, dass Filmemachen eine Tugend ist. Dabei ist egal, ob der Film gut, oder schlecht ist. Hauptsache man macht Filme. Gesund erscheint mir die Haltung nicht. Dennoch ist sie die einzige, die ich stützen kann. Truffaut selbst sagt im Film „Cinema is King“, alles andere ist irrelevant. Wenn Filme wirklich „wie Züge in der Nacht“ sind… Wohin fährt dieser Zug?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Ich würde glaub ich nicht ganz so weit gehen, wie Godard, aber gerade wenn man sich ansieht, wie konsequent Godard in seinen Filmen eine Haltung zur Welt artikuliert, dann lässt La nuit américaine so eine Haltung schon vermissen. Denn, wie du sagst, interessiert sich der Film weniger für die Welt, als für eine filmische Sphäre, die nach ihren eigenen Regeln abläuft und ganz gut ohne die Welt zurechtkommt. Diese Fantasie ist natürlich sehr schön und verführend – gerade für jemanden, der das Kino liebt –, aber sie ist auch gefährlich.

Es tut mir fast etwas leid, dass ich so hart mit dem Film ins Gericht gehe, weil es gibt ohne Zweifel viele, viele Filme, die in vielerlei Hinsicht problematischer sind. Der Film hat auch mich bis zu einem gewissen Grad verführt, aber in Retrospektive fällt es mir ein wenig schwer zu akzeptieren, dass diese Verführung kaum einer Reflektion standhält.

Sebastian: Man kann dem Film vielleicht zugutehalten, dass er selber Bescheid weiß. Darüber, wie sehr er sich der Welt verschließt. Er ist wie eine Einladung diese falsche Welt zu akzeptieren. Alles weist auf diese Falschheit hin. Der Titel „Die amerikanische Nacht“ weißt auf ein filmisches Verfahren hin, bei dem Nachtszenen untertags gedreht werden mit einem besonderen Filter. Es könnte also eine Einladung zu einer Abwendung von weltlichen Problemen sein. Genauso wie eine Filmcrew sich ein paar Wochen zusammen zurückzieht, um einen Film zu drehen (mit ihren eigenen Konflikten und Problemen), so ist dieser Film ein Rückzug für zwei Stunden.

Das ist natürlich legitim. Truffaut beschränkt sich in gewisser Weise in diesen zwei Stunden nichts anderes zu tun, als das Kino zu preisen. Es geht um Freude, um Emotionen und für Truffaut um einen Sinn fürs Leben.

Il Cinema Ritrovato 2017: Hana Chirinu von Tamizo Ishida

Hana Chirinu von Tamizo Ishida ist ein äußerst untypisches Jidaigeki. Das Genre ist oft bekannt für seine actionreichen, in Blut getränkten Filme über ehrenvolle Samurai. All dies sind Themen, die im Film zwar angesprochen, allerdings nie gezeigt werden. Stattdessen werden in Hana Chirinu die Geschichten derer gezeigt, die in der Geschichte oftmals vergessen wurden: Frauen. Die gesamte Handlung des Films spielt im Laufe einer Nacht und eines Tages und verlässt nie die Räumlichkeiten eines Okiyas (ein Geisha Wohnhaus).

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Dies verrät uns schon der Vorspann: Ein Aquarium voller Fische, über die die Titel eingeblendet werden. Die Fische sind wunderschön anzusehen, allerdings sitzen sie alle fest in diesem Aquarium, wie in einem durchsichtigen Gefängnis. Der Film erinnert in seltsamer Weise an ll deserto dei tatari von Valerio Zurlini. Draußen tobt eine Revolution, die später zur Meiji Restauration führen soll: eine Epoche in der Shogun abgeschafft wurden und unter anderem auch die Rolle der Geisha umfunktioniert wurde. Doch wir sehen keinen dieser Kämpfe, keinen Samurai, nicht einen einzigen Mann. Stattdessen beobachten wir das tägliche Leben der Geishas. Es gibt Rivalitäten, Romanzen, Freude und Eifersucht. Abends werden Kunden unterhalten (auch wenn die Geishas sich lieber einen Spaß erlauben und zum Großteil des Filmes ihre Kunden ignorieren), und untertags wird gestritten, gewaschen, gekocht. Nur manchmal dringen die Geschichten der Außenwelt nach innen. Was gezeichnet wird ist ein Sittenbild Japans, in dem nur Frauen auftauchen. Traditionelle Vorstellungen stoßen auf neue Ansichtsweisen: Akira (die Tochter der Inhaberin des Okiya) hat zwar einen Liebhaber, will ihn aber nicht heiraten. Allerdings hat sie Angst, dass eine Rivalin (die unter den Geishas als Hure gilt) ihr diesen ausspannt. Diese jedoch hat ganz andere Probleme, versucht verzweifelt ihrem Mann zu entfliehen.

Das Ganze wird eingefangen von einem fast allsehenden Auge, andauernd eilen Menschen durch das Bild, wir bewegen uns dabei mit gewissen Figuren von einem Gespräch in das nächste. Ishida webt ein komplexes Geflecht, schafft es aber dabei einen Überblick zu bewahren. Wir wissen, wer wen liebt, wer wen hasst und warum. Die Kameraarbeit dringt sich dabei nicht auf. Dennoch fällt etwas ungewöhnliches auf: In den Gesprächen (und davon gibt es viele) verzichtet Ishida auf Schuss – Gegenschuss. Stattdessen wechselt er mit fast jedem Schnitt die Komposition, den Winkel. Wir sehen nicht nur zwei „talking heads“, sondern auch Nacken aber vor allem Körper im Raum. Aus verschiedensten Winkeln sehen wir Frauen, die sich gegenüber stehen, voneinander abwenden, aneinander vorbeireden. Manchmal sagen uns diese Einstellungen mehr, als die Figuren.

Doch der Alltag kann im Krieg letztendlich nie alltäglich bleiben. Als Akira auf ihren Liebhaber wartet, klopft es nach einer langen Nacht endlich an der Tür. Aber sie wird zurückgehalten sie zu öffnen. Draußen ist ein Tumult, ein Samurai wird getötet. Die Sorge wird immer größer, und als Akiras Mutter auch noch von zwei Männern weggebracht wird, entscheiden sich alle zu fliehen. All diese Frauen, die aus den verschiedensten Gründen festhängen an diesem Ort: seien sie verkauft worden, von zuhause weggelaufen, oder andererweise gezwungen, sind nur imstande zu fliehen, als sie der Krieg dazu zwingt. Doch Akira bleibt. Auf ihre Mutter wartend, bleiben nur sie und ihre Rivalin zurück. Diese berichtet von draußen; Kyoto ist zerstört. Es ist ganz gleichgültig wer den Krieg gewinnt, das Haus würde fallen und seine Bewohner mit ihm. Und doch bleiben die beiden. Das Kanonenfeuer wird immer lauter und regelmäßiger und der Film lässt uns zurück mit einer wartenden Akira.

„Women like us were born to suffer“ sagt eine Geisha in diesem Film. Ein Satz, wie bei Naruse. „You never know what might come tomorrow“ erwidert eine andere darauf. Ein Film, der das Ende einer Epoche portraitiert und in den 30ern das Ende einer anderen in Japan vorwegnimmt.

Il Cinema Ritrovato 2017: Alexandre Promio in Ägypten

Les Pyramides (Vue Générale) von Alexandre Promio

Die ersten Gehversuche des Kinos würde ich als „acquired taste“ einordnen. Als ich zum ersten Mal Filme der Gebrüder Lumière und ihrer Operateure sah, maß ich ihnen eher historische als künstlerische Bedeutung bei. Die kurzen, ausschnitthaften Ansichten von öffentlichen Plätzen, Gebäuden und Sehenswürdigkeiten erscheinen recht willkürlich, außer dem einen oder anderen Blick eines Passanten in die Kamera fehlt das Spektakel. Dem Auge fehlt der rote Faden, dem es folgen kann, wie es das gewohnt ist.

Ein „acquired taste“

Kurz: Lange Zeit fand ich es eher mühsam und etwas langweilig mir eine halbe Stunde am Stück diese Filme anzusehen (und ich vermute, es ging nicht nur mir so). Es war hier in Bologna, wo ich in den letzten Jahren eine neue Wertschätzung für die vues Lumière entwickeln konnte. Das hat vielerlei Gründe: Zunächst bekommt man hier eine breite Auswahl an unterschiedlichem Material vorgesetzt, das über die paar dutzend anerkannten, und immer wieder gezeigten Lumière-Klassiker der ersten Stunde (von L’arrivée d’un train über La sortie de l’usine bis zu Repas de bébé), hinausgeht. Zudem sind die Programme exzellent zusammengestellt, ob nach ausführenden Operateuren, geographischen Begebenheiten oder wiederkehrenden Motiven. Und außerdem, und das ist vielleicht der gewichtigste Grund, wird die Präsentation den Filmen gerecht: ein dunkler Kinosaal, eine große Leinwand, Live-Begleitung am Klavier, ein lebendiges Publikum.

Die Seherfahrung in dieser Konstellation ist eine andere, als bei einem pixeligen Youtube-Video zuhause oder in einem zu hellen und technisch schlecht ausgestatteten Hörsaal. Diese Filme können sich am besten entfalten, wenn sie sich entfalten können, wenn das Auge eingeladen wird über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Ich erkennen meinen Blick wieder, mit dem ich Lumière-Filme sehe, er ist verwandt mit der Art, wie ich Loznitsa sehe, wie ich Akerman sehe, wie ich Tsai Ming-liang sehe, man könnte diese Liste weiter fortsetzen.

Rue Sayeda-Zeinab von Alexandre Promio (Vue N° 374)

Rue Sayeda-Zeinab von Alexandre Promio (Vue N° 374)

Kino des Vermessens

Die vues Lumière laden zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die Ansichten – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und dann als Zeitkapseln. Es ist, denke ich, nötig hinzuweisen, dass sich diese Filme nicht in ihrer Funktion als historische Aufzeichnungen erschöpfen. Selbstverständlich hat die Faszination mit den Filmen auch damit zu tun, dass sie einen Blick auf die Vergangenheit freigeben, die Möglichkeit bieten mit den Augen eines Menschen von vor einhundertzwanzig Jahren zu sehen, den Vergleich zwischen Damals und Heute nahelegen. Zu gleichen Teilen sind sie aber Beispiele für eine filmgeschichtlich vernachlässigte Form des Sehens, und für das Öffnen des Bilds für den Zufall, wenn Passanten die Kamera blockieren oder wenn Pferde scheuen (ich habe bereits letztes Jahr kurz darüber geschrieben, wie die Unreinheiten diese Filme bereichern).

Stummfilme sind selbst in den meisten Programmkinos und Cinematheken nur selten zu sehen, auch ihre Restaurierung hat keinen hohen Stellenwert. Was historischen Wert hat wird gerne (wie auch Wochenschauen) als Materialsammlung veröffentlicht, auf DVD oder gar in einer Online-Mediathek. Die Vermittlung dieser Filme wird aus dem Kinosaal ausgelagert auf die eigenen vier Wände des Publikums. Obwohl gerade diese Filme von einer lebendigen Auseinandersetzung profitieren. Hier in Bologna sprach Aboubakar Sanogo über die Ägypten-Filme des produktivsten Lumière-Operateurs Alexandre Promio.

Für mehr Lumière in den Kinos!

Sanogos Kommentare waren augenöffnend. Da ging es weniger um die Entstehungsgeschichte der Filme oder um ihre genaue Verortung und Verzeitlichung, sondern um allgemeine Fragen des Filmischen. Er problematisierte die Besonderheit der Seherfahrung, den dokumentarischen Gehalt dieser Bilder und wie sie sich von anderen unterscheiden – von anderen Bildern aus der gleichen Zeit, die an anderen Orten aufgenommen wurden, und von nachfolgenden Bildern, die andere Politisierungen der Orte und Menschen zum Ziel haben (die Filme der Lumières waren Produkte des Kolonialismus).

Es scheint, kaum eine Filminstitution fühlt sich heute mehr verpflichtet diese Filme zu zeigen, die wunderbar katalogisiert, in passablem Zustand und recht gut verfügbar sind. Das ist ein Versäumnis, denn nicht nur wer nach Bologna reist, sollte Gelegenheit dazu bekommen sich diesen „acquired taste“ anzueignen.