Wörter für die Welt da draußen #3 Flügelnuss

Kürzlich stand ich im kalten Schatten eines von Moosen bedeckten Felsens an der Donau bei Grein, als ich hinter mir ein Flattern bemerkte. Ich sah einen zu früh erwachten Falter, vom schmelzenden Schnee oder einem kalten Windstoß aufgeweckt. Er glitt mit schwachen, panischen Flügelschlägen langsam zu Boden. Als ich ihn inspizieren wollte, bemerkte ich, dass es sich gar nicht um einen Schmetterling handelte, sondern um eine trockene Ahornfrucht.

Als Kind nannte ich das einen Nasenzwicker. Diese im Winter ganz fahle, spitzwinklige Engelserscheinung mit ihrem kugelrunden Körper zwischen den Flügeln, nennt man auch eine Flügelnuss. Sie erwartet am Ast hängend, flügge zu werden und stürzt sich dann in einen rotierenden Todessprung, der eigentlich ein Lebenssprung ist.

Ich sah wie der Wind sie wieder aus dem nassen Moos hievte, sodass sie flackernd und unwirklich ihren kurzzeitigen Hafen hinter sich ließ, um weiter durch die Luft zu wirbeln, als würde sie von einem Propeller angetrieben, ehe sie hinabstürzte in eine dunkle Felsspalte, in der sie kein Wind mehr würde erreichen können. Vielleicht, dachte ich, wächst hier in hundert Jahren ein Ahornbaum aus dem Felsen.

(Ivana Miloš, Sjemenke javora noću, 2021, Cyanotypie auf Papier, 21 x 31 cm)

Wörter für die Welt da draußen #2 Fruchtmumie

Im Garten eines von den Nationalsozialisten geliebten Heimatdichters, entdeckte ich gleich neben seinem Grab einen majestätischen Apfelbaum. Unzählige Äpfel, die gar nicht alle von diesem einen Baum stammen konnten, vergammelten um ihn auf der braunen Winterwiese. Würmer schlängelten sich im Paradies und an den Ästen entdecke ich noch manche Frucht, die wie ein Kokon im schlaffen Sonnenlicht zerfiel. Tiefe Furchen hatten sich in der Schale gebildet und erzeugten ein unwirklich farbloses, eingefrorenes Bild der Verkrampfung. Man nennt diese ausgetrockneten Äpfel Fruchtmumien.

Es roch nach Moos und Morphium. Die Pilzgattung Monilinia erzeugt diese in der Luft hängenden Mumien. Wie ein zitronenförmiges, gischtfarbenes Geflecht benetzt dieser Pilz die Frucht und lässt das Bild eines konservierten Absterbens zurück. Dass die einbalsamierten Äpfel der parfümierten Erinnerungskultur rund um den „Heurigenhölderlin“ Josef Weinheber nur allzu gut stehen, muss nicht erwähnt werden. Ob man die Mumien als Krankheit betrachtet oder als pastorale Verzückung, wird hier jedem selbst überlassen.

Dass sich die Marktgemeinde Kirchstetten mit der Poesie identifiziert, liegt weniger an der von überall durch die beschaulichen Gärten schallenden Autobahn als an den ehemaligen Bewohnern dieses Ortes. Denn nur einige Meter durch einen kleinen Wald getrennt, lebten eben jener Weinheber und W. H. Auden. Letzterer war in Fragen der Wortwahl und politischen Gesinnung deutlich näher am Leben als der Verwesung und vielleicht fiel ihm die folgende Zeile ein, als er eines Tages einen Blick auf Weinhebers Fruchtmumien warf:

The trees encountered on a country stroll

Reveal a lot about that country’s soul.

Bila jabuka, Ivana Miloš, 2021 (Naturdruck auf Papier)

 

Wörter für die Welt da draußen #1 Wintergoldhähnchen

Viele meiner Freunde interessieren sich nicht für bukolische Beschreibungen, weil man einem Baum oder einer blühenden Wiese nur schwer mit dem Zynismus oder der Wut begegnen kann, die sonst alles beherrschen, worüber geschrieben wird. Oft fehlt auch ganz einfach das Vokabular. Da geht es mir nicht anders, obwohl ich mich inzwischen (seit ich aufgrund einer plötzlich, mir selbst nicht ganz nachvollziehbaren Eingebung begonnen habe, Flusswasser und Schneckenhäuser zu sammeln) beinahe täglich in Wäldern, Berglandschaften, Flusstälern und wer weiß wo, möglichst weit von festen Straßen finde.

Nun muss es aber einen jeden Menschen ermüden, wenn immer nur von Bäumen, Vögeln oder Wolken gesprochen wird. Vor allem, wenn man mit sich selbst spricht, so wie ich es gern tue, um sicherzugehen, dass ich noch da bin. Daher werde ich von nun an an dieser Stelle von Wörtern berichten, die ich nicht kannte, solange ich sie nicht gesehen hatte. Ich bilde mir ein, dass man immer ein bisschen von der Erde rettet, wenn man etwas benennen kann.

Zum Beispiel ging ich kürzlich entlang eines matschigen Pfades durch die Hagenbachklamm. Es war wahrlich kein Vormittag, der von sich aus zum Wandern verführte; eine kalte, graue Suppe, in der Luft stehender Atem, alles versank in sich selbst, außer meiner Schuhe, die im Schlamm verschwanden. Die Hagenbachklamm liegt im Naturpark Eichenhain, in dem sich unter anderem die bemerkenswerten Patienten der Landesnervenklinik Gugging auf Spaziergängen verloren. Auch unter ihnen gab es welche, die alles benennen wollten, die, wenn es sein musste, Wörter erfanden, um das zu beschreiben, was sonst verloren wäre.

In dieser außergewöhnlichen, ständig im Verfallen begriffenen Sandsteinlandschaft erspähte ich (oder er erspähte mich) einen gelblich schimmernden, erstaunlich kleinen Vogel, der ziemlich keck vom dünnen Ast einer jungen Fichte auf mich pfiff und mit unglaublich hoher Stimme trillerte, ja hauchte. Was mich neben der Zerbrechlichkeit, dieses nur wenige Zentimeter großen Geschöpfs faszinierte, waren vor allem die grün-gelblichen Lamellenflügel. Das Farbenspiel verführte mich für einige Sekunden zu glauben, dass dieser Vogel ganz körperlos unter seinem Federkleid durch die Luft zog oder zumindest, wie manche Kopffüßer, in der Lage wäre, seinen Körper in sämtliche ihm angenehme Formen zu wandeln. Ein Geist gewissermaßen. Dieser Vogel nennt sich Wintergoldhähnchen und sobald ich den Namen ausgesprochen hatte, war er auch schon wieder zwischen den Bäumen verschwunden.

Ivana Miloš, Zlatoglavi kraljić, 2021 (Aquarell auf Papier)