Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

La Empresa – Und Ich?

Ein deut­sches Film­team bewegt sich suchend durch ein mexi­ka­ni­sches Dorf, El Alber­to. Es gibt ein Schwimm­bad, Ber­ge, ein Rat­haus, des­sen Uhr Time to say Good­bye spielt. Doch gekom­men ist die Grup­pe wegen der Cami­na­ta Noc­tur­na, einer (wört­lich über­setzt) Nacht­wan­de­rung, die es Tourist*innen ermög­li­chen soll, eine ‘authen­ti­sche‘ Flucht über die mexi­ka­ni­sche Gren­ze zu erleben.

La Empre­sa, André Sie­gers zwei­ter Lang­film, zeigt den Ver­such des Teams, das ört­li­che Gesche­hen sowie die Situa­ti­on der Ansäs­si­gen ein­zu­fan­gen, wel­che eine Indus­trie rund um die Cami­na­ta Noc­tur­na und die mit ihr ver­bun­de­nen Bil­der geschaf­fen haben, um ihre von Armut bedroh­te Exis­tenz zu sichern. Neben die­sen zwei Per­spek­ti­ven gibt es eine drit­te, die aus­ge­spart wird. Die der­je­ni­gen, die die­se Tourist*innenattraktion in Anspruch neh­men. Es fällt mir schwer, an die­ser Stel­le den Begriff der ”Attrak­ti­on“ zu ver­wen­den, aber es ist das Framing, das in Rei­se­por­ta­len, auf Wer­be­schil­dern und Fly­ern von Sei­ten des Dorfs vor­ge­nom­men wird. In Arti­keln über die Cami­na­ta Noc­tur­na beto­nen Ver­ant­wort­li­che, dass es sich hier­bei um eine erns­te Ange­le­gen­heit han­delt, die für das Erleb­te von Geflüch­te­ten sen­si­bi­li­sie­ren und über die Gräu­el, die even­tu­el­len Todes­ur­sa­chen eben jener auf­klä­ren soll. Durch­sa­gen in Frei­bä­dern, in denen in hei­te­rem Ton auf freie Plät­ze hin­ge­wie­sen wird, wäh­rend im Hin­ter­grund Kin­der im Plansch­be­cken tol­len, erwe­cken bei mir jedoch einen ande­ren Ein­druck. Aber dar­um geht es mir eigent­lich nicht. Ist es per­vers, dass sich Men­schen, die zu einem nicht gerin­gen Teil selbst Flucht­er­fah­run­gen gemacht haben, gezwun­gen sehen, in die Rol­le der­je­ni­gen zu schlüp­fen, die das Vor­ha­ben von Flie­hen­den ver­ei­teln, das eige­ne Trau­ma zur Empa­thie-Maschi­ne oder zum Aben­teu­er­spiel­platz für Tourist*innen auf­le­ben zu las­sen, damit ihr Dorf nicht zur Geis­ter­stadt ver­kommt? Natür­lich, aber deren Beweg­grün­de, so trau­rig sie auch sind, sind nach­voll­zieh­bar. Was ich – so sehr ich auch dar­über nach­den­ke – nicht ver­ste­hen kann, ist, wer als Teilnehmer*in einem sol­chen Schau­spiel bei­woh­nen möchte.

Auf die­se Fra­ge sucht und fin­det La Empre­sa kei­ne Ant­wort. Der Film wirft mich, in die­ser Fra­ge, auf mich selbst zurück. Und jetzt sit­ze ich hier. Tja. Ich ver­su­che mich anhand von Fra­gen einer Ant­wort anzu­nä­hern. Wür­de ich an der Cami­na­ta Noc­tur­na teil­neh­men? Okay, ein­fa­che Fra­ge, nein. Ken­ne ich Men­schen in mei­nem nähe­ren Umfeld, die eine Teil­nah­me, stün­de sie nicht mit einer Rei­se ans ande­re Ende der Welt in Ver­bin­dung, rei­zen wür­de? Ich möch­te mei­ne Ant­wort wie­der­ho­len, sagen, dass ich mir das nicht vor­stel­len könn­te, sicher bin ich mir aber nicht. Es wäre also ver­mut­lich falsch, davon aus­zu­ge­hen, dass ich nichts mit ‘die­sen’ Men­schen – eine For­mu­lie­rung, die mir leicht über die Fin­ger geht, da sie eine Distanz impli­ziert, in der ich mich sehr wohl füh­le, die wohl auch eine gewis­se Erhö­hung, viel­leicht gar eine Über­hö­hung mei­ner­seits aus­drückt – gemein habe.

Sagen wir, wie es ist. Eigent­lich habe ich kei­ne Ahnung, wie durch­schnitt­li­che Teilnehmer*innen der Cami­na­ta Noc­tur­na aus­se­hen, was sie tun, oder was ihre Beweg­grün­de sind. Nach dem Film hat­te ich aller­dings ein recht kla­res Bild von gut situ­ier­ten, wei­ßen Men­schen, die sich einen spa­ßi­gen Aben­teu­er­ur­laub gön­nen möch­ten, vor Augen. Die Wut auf, der Ekel vor Men­schen, die in der ‘Simu­la­ti­on’ einer Grenz­über­que­rung, wel­che für weni­ger Pri­vi­le­gier­te eine bit­te­re Rea­li­tät dar­stellt, einen unter­halt­sa­men Wochen­end­trip sehen, war mein Aus­gangs­punkt für die­sen Arti­kel. Aber sehr wahr­schein­lich ist die Rea­li­tät um eini­ges kom­ple­xer. Ich glau­be durch­aus, dass das Feind­bild in mei­nem Kopf eine Ent­spre­chung in der Rea­li­tät besitzt, aber mitt­ler­wei­le fra­ge ich mich, was es zu die­sen Per­so­nen über­haupt zu sagen gäbe, was sich nicht mit eini­gen Sät­zen der Ableh­nung zusam­men­fas­sen lässt.

Also den­ke ich wei­ter nach, suche im Inter­net nach Erfah­rungs­be­rich­ten und fin­de Beweg­grün­de, die ich grund­sätz­lich nach­voll­zie­hen, wenn auch nicht tei­len kann. Der Wunsch, die Erfah­run­gen ande­rer, viel­leicht Freund*innen, viel­leicht Ver­wand­te, die einen Flucht­ver­such unter­nom­men haben, erfolg­reich oder erfolg­los, etwas bes­ser ver­ste­hen zu kön­nen, erscheint mir prin­zi­pi­ell ver­ständ­lich. Das möch­te ich des Anstands wegen sagen, mir liegt nichts dar­an, die Trau­er­ar­beit von Betrof­fe­nen abzu­wer­ten. Trau­er über den Tod, Gewalt in all sei­nen For­men, das Nicht-Wis­sen, die Distanz zu Ange­hö­ri­gen, oder auch das Trau­ma von Rückkehrer*innen. Aber ins­ge­heim hal­te ich die­se Her­an­ge­hens­wei­se für fun­da­men­tal fehl­ge­lei­tet. Empa­thie für Grup­pen oder Indi­vi­du­en soll­te nicht davon abhän­gig sein, ob mir ähn­li­ches wider­fah­ren ist. Ich habe vor eini­gen Jah­ren, im Rah­men eines Semi­nars an der Uni Bay­reuth, mit einer Thea­ter­grup­pe von geflüch­te­ten Schüler*innen gear­bei­tet. Die Schil­de­run­gen ihrer Stra­pa­zen haben viel in mir geweckt: Mit­leid, Über­for­de­rung, Trau­er, Wut, aber ganz bestimmt nicht das Bedürf­nis, ‘ähn­li­ches’ durch­zu­ma­chen. Und selbst wenn man mir an die­ser Stel­le nicht zustim­men soll­te, so hal­te ich die Vor­stel­lung, dass der Akt, sich wil­lent­lich, ohne jeden Zwang, einem Ser­vice aus­zu­set­zen, für den man bezahlt, den man kon­se­quenz­los abbre­chen kann, zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis für die Erfah­run­gen von Geflüch­te­ten führt, für min­des­tens frag­wür­dig. Woher kommt die­ser Drang, ver­gleich­ba­re oder ver­meint­lich ver­gleich­ba­re Momen­te, Lebens­la­gen und Emo­tio­nen zu suchen? Ist es ein Schuld­ge­fühl, ein Ein­ge­ständ­nis der eige­nen Pri­vi­le­gi­en, oder der Ver­such eben­die­se zu verschleiern?

Als ich 13 Jah­re alt war, starb mei­ne 15 jäh­ri­ge Schwes­ter eines Mor­gens bei einem Unfall mit dem Fahr­rad. Wann immer ich Men­schen ken­nen­ler­ne, ist mir klar, dass die­ser Fakt, meist in Fol­ge einer eigent­lich all­täg­li­chen Fra­ge, “Hast du Geschwis­ter?”, frü­her oder spä­ter, so ich mein Gegen­über nicht anlü­gen möch­te, die meist gelas­se­ne Stim­mung, min­des­tens für einen kur­zen Moment, ins Schwan­ken brin­gen wird. Die Reak­tio­nen hier­auf sind viel­fäl­tig. Ich wer­de sie nicht alle auf­lis­ten, aber auf­fäl­lig ist, dass vie­le Men­schen, nach einer Bekun­dung ihres Mit­leids, den Drang ver­spü­ren, mir von einem ihrer Ver­lus­te, mei­nem Alter geschul­det meist ihren Groß­el­tern, in ein­zel­nen Fäl­len auch Haus­tie­ren, zu erzäh­len, um eine Art Gleich­ge­wicht wie­der­her­zu­stel­len und mir mit­zu­tei­len, sie wüss­ten, wovon ich rede, sie hät­ten ähn­li­ches erlebt. Ich möch­te an die­ser Stel­le Trau­er und Leid nicht qua­li­ta­tiv bewer­ten, glau­be aber, dass es sich hier­bei um sehr unter­schied­li­che Erfah­run­gen han­delt. Ich schät­ze ehr­li­ches Mit­ge­fühl, unab­hän­gig vom Erfah­rungs­schatz mei­nes Gegen­übers. Mir geht es nicht bes­ser, wenn Gesprächspartner*innen ähn­li­ches wider­fah­ren ist. Und die Vor­stel­lung, jemand wür­de sich einer kom­pli­zier­ten Ver­suchs­an­ord­nung aus­set­zen, um sich bes­ser in mich hin­ein­ver­set­zen zu kön­nen, fin­de ich sowohl anma­ßend als auch äußerst amüsant.

Was ich ger­ne ver­schwei­gen wür­de, ist der Fakt, dass ich mich lei­der nicht von Reak­tio­nen die­ser Art frei­spre­chen kann. Oft genug habe ich reflex­ar­tig von dem Tod mei­ner Schwes­ter erzählt, obwohl es eigent­lich gera­de um Väter, Freun­din­nen, oder sons­ti­ge Ange­hö­ri­ge und ganz bestimmt nicht um mich ging. Schlägt nicht viel­leicht sogar die­ser Text in eine ähn­li­che Ker­be? Schließ­lich lässt sich mein indi­vi­du­el­les, dem Zufall geschul­de­tem Schick­sal nur schwer mit einem glo­ba­len Phä­no­men ver­glei­chen. So viel zu der Fra­ge, was ich mit die­sen Men­schen gemein­sam habe. Es ist sicher nicht immer ein­fach, jeden­falls nicht für mich, aber ver­mut­lich wür­de man gut dar­an tun, es La Empre­sa gleich­zu­tun, Betrof­fe­ne in den Fokus zu rücken und sich mit den eige­nen Unsi­cher­hei­ten hin­ten anzustellen. 

von Chris­to­pher Doerr