Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Aysa von Jorge Sanjinés

Text: Rainer Kienböck

Im Westen Boliviens, wo die Anden hoch gen Himmel ragen, liegt auf fast 4.000 Höhenmetern die Stadt Huanuni, Verwaltungssitz der Provinz Pantaleón Dalence, und „Zinnhauptstadt“ Boliviens. Die Region ist geprägt vom jahrhundertelangen Abbau – und Raubbau – seiner Bodenschätze. Ebenso ihre Bewohner. In den bolivianischen Andenprovinzen sind das überwiegend Indigene. Amerikanische und europäische Minenkonzerne haben die Ausbeutung sowohl der Bodenschätze als auch der Bevölkerung jahrzehntelang vorangetrieben. Einigermaßen stabilisiert hat sich die politische und ökonomische Lage des Landes erst in den 2000er Jahren, als der Aymara Evo Morales als erster Indigener zum Präsidenten gewählt wurde.

Anfang der 1960er Jahre liegt diese Zeit noch in weiter Ferne. Eingebettet in die Geschichte und die Geschichten des Landes, drehte damals Jorge Sanjinés in Huanuni seinen Kurzfilm Aysa. Der namenlose Protagonist ist ein sogenannter Pirquiñero, ein Bergarbeiter, der auf eigene Faust in den Minen schürft, die von den großen Bergbauunternehmen aufgegeben wurden. Sanjinés verzichtet zum Großteil auf Kontextualisierungen, die Entbehrungen dieses Lebens werden ohnehin offensichtlich. Mit Hammer und Meißel treibt der Mann Löcher in den Stein, den er im Anschluss mit Dynamitstangen sprengt. Jede Explosion vom Bangen begleitet, ob denn der notdürftige Stollen standhält.

Das Erzählen übernehmen im Film in erster Linie die Bilder. Abgesehen von einer kurzen Gesangseinlage, ist in den 20 Minuten Laufzeit nur ein einziges Wort zu hören: „Aysa“, Erdrutsch. Unübersehbar ist der Einfluss des sowjetischen Kinos auf das Frühwerk von Sanjinés – die Großaufnahmen von Gesichtern könnten auch aus einem Film von Sergei Eisenstein oder Lev Kuleshov stammen. Aber anders als in Kuleshovs berühmten Experiment liegt die Deutungshoheit über den Ausdruck dieser Gesichter letztlich beim Publikum.

Was hier schon angedeutet ist, wird Sanjinés später als prägend für sein Kino bezeichnen: das non-lineare Zeitverständnis der Aymara und Quechua. Es bestimmt in Aysa die elliptische Schnittfolge, die eine fein-säuberliche, chronologische Nacherzählung der Handlung verunmöglicht. Sanjinés hat, laut eigenen Angaben, als Erster in Bolivien Filme in indigenen Sprachen gemacht. Sein gesamtes Œuvre dreht sich um die Sichtbarmachung der indigenen Bevölkerung und den Kampf gegen Kolonisatoren und deren Kollaborateure. Dabei hat er nach und nach eine Form gefunden, die besser dafür geeignet ist, die Lebenswelten der Bolivianer darzustellen, als jene, die die amerikanisch-europäische Filmindustrie dominiert. Deshalb wird sich Sanjinés im späteren Verlauf der Karriere auch der Nahaufnahme entledigen und stattdessen Planeinstellungen aus der Totale vorziehen. In Aysa können wir aber noch in den Gesichtern des Bergbauprekariats lesen und bei jeder Dynamitexplosion mitbangen.