Text: Lucas Barwenczik
Der Tod hat das Gleichmachen verlernt, noch im Jenseits hungern die Armen. Die enttäuschten Geister in Hiroshi Teshigahara Otoshi-Ana unterscheidet viel zu wenig von den Lebenden. Wer sich nicht mit noch pochendem Puls den Bauch vollgeschlagen hat, wird für immer ungesättigt bleiben. Ein Film über Menschen, die nichts zu fressen haben.
Der namenlose Protagonist hat einen kleinen Sohn und einfache Träume. Er schuftet in einer Mine und kann kaum an eine andere Existenz glauben. Aber er möchte zumindest von einer Gewerkschaft geschützt werden und wenigstens einmal seinem Boss „in den Hintern treten“. Ein verlockendes Arbeitsangebot führt ihn schlussendlich in eine ruinierte Geisterstadt. Wenn sich nachts seine Augen schließen, sieht er rieselnde Steinkohle, leerstehende Städte und aufgeblähte Kinderbäuche. Dafür werden tatsächliche Nachrichtenbilder gezeigt, Tesigahara nannte seinen Debütfilm eine „Dokumentarfantasie“.
Surreale Kapriolen auf einem realistischen Fundament also, oft mit stufenlosen Übergängen. Überall stilistische Jumpcuts: Tod wird plötzlich Leben, Zeit verfliegt, geordnetes zerspringt in erschütterte Bildsplitter. Otoshi-Ana verwandelt sich immer wieder, vermengt Ideen, Ästhetiken und Sphären. Anstelle von Geschichten werden Pannen und Zufälle erzählt, die Menschen irren verloren von Verwechslung zu Verwechslung. Es gibt Morde und Ermittlungen, denen die Erstochenen leicht brüskiert beiwohnen. Die Willkür des Todes ist schmerzlich, wenn so viel in unserem Leben dazu dient, das unvermeidbare Ende mit Bedeutung aufzuladen. Es gibt einen in weiß gekleideten Mörder mit unklaren Motiven und es gibt eine phallische Kamera, von der so wenig Antworten zu erwarten sind wie von den Bergen.
Was Tote und Lebende vereint ist, dass sie ihre Mitmenschen teilnahmslos betrachten, als wären sie nicht echt. Es ist ein Film des Hindurchsehens, Blicke fallen durch Jalousien, Spalte im Holz oder eingestaubtes Fensterglas. Mehr liegt eigentlich nicht zwischen den Toten und Lebenden, dennoch scheinen sie einander unendlich fern. Der utopische Horizont ist verstellt und Solidarität bleibt eines unter vielen Gespenstern. Zwei Untergruppen einer zersplitterten Gewerkschaft geraten aneinander und bringen sich gegenseitig um. Ein langer, kräftezehrender und weitestgehend sinnloser Kampf – linke Politik. Danach schwimmt ein Band mit dem Aufdruck „Einheit“ in brackigem Wasser. Ein spöttisches und melancholisches Bild. Tesigahara ist einer dieser unvollendeten Zyniker, die ihre Trauer nie ganz verbergen können.
Dem türmenden Pessimismus der „Geschichte“ tritt ein Optimismus der Form entgegen. In Stunden der Verzweiflung muss der Mensch erfinderisch werden. Der Filmemacher wühlt im Instrumentarium des Kinos wie ein Kind in der Bonbon-Auslage. Die Kamera wird herumgerissen, zuckt und zoomt, die Bilder springen und laufen rückwärts. Menschen werden aus dem Blick verloren und wieder entdeckt, die Welt verwischt. Die Revolution wird nicht mehr kommen, aber zumindest neue Bilder. Kuchen statt Brot, ein schwacher Trost.
Bevor der Film endet, läuft der Junge des Bergmanns davon. Er hat den Tod gesehen und früh gelernt, was Menschen einander antun können. Was in ihm vorgeht und wer er einmal werden wird, verrät sein starres Kindergesicht nicht. Die Kamera folgt ihm, bis er in der Ferne verschwindet, entlang von Serpentinen, die sich am Horizont verlaufen. Zuvor hat er sich seine Taschen mit Süßigkeiten vollgestopft, gierig und mit vollen Händen. Zumindest er wird im Jenseits keinen Hunger leiden.