Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Pedreira de São Diogo von Leon Hirszman

Text: Maja Roth

Rio de Janeiro besticht mit seiner spezifischen Geografie: In den Serra do Mar – einer mächtigen Hügelkette, die sich parallel zum Atlantischen Ozean erstreckt – eingebettet, sammelt sich die Stadt in den Becken der Täler. In dem ungewöhnlichen Setting eines urbanen Steinbruchs siedelt Leon Hirszman, Sohn eines jüdisch-polnischen Einwanderers, in diesen Granitfelsen seinen Beitrag des Episodenfilms Cinco Vezes Favela an, der den Grundstein für Hirszmans filmische Karriere wie auch die Strömung des brasilianischen Cinema Novo legt. 

Cinco Vezes Favela wird von dem zwei Jahre später durch die Militärdiktatur zerschlagenen Centro Popular de Cultura (CPC) initiiert. Angebunden an die Studentenvereinigung UNE interessiert deren Mitglieder, zu denen neben Hirszman auch der Soziologe Carlos Estevam Martins zählt, eine gesellschaftskritische und revolutionäre Kulturpolitik im Dienst der Unterdrückten. Kunst soll, wie Martins im Manifest des CPC 1962 schreibt, als Volkskunst aus der bürgerlich-elitären Sphäre befreit und in eine historisch-existentielle Schlagkraft der Massen rücküberführt werden. Während im avantgardistischen Theater Rio de Janeiros, dem Teatro de Arena, das mit seiner namensgebenden Form das Verhältnis von Publikum und Bühne herausfordert, Bertolt Brechts Die Gewehre der Frau Carrar aufgeführt wird, konfrontiert Hirszman im Kessel eines Steinbruchs das Verhältnis von Industrieherr und Arbeitern, von Grenzen und Ausgegrenzten. 

In steilen Perspektiven – extremen Aufsichten und Untersichten, Nahaufnahmen, in denen Schweißperlen eine grafische Haptik bekommen, und Totalen, in denen der Granit Menschen in den Schatten stellt – erzählt die Kamera von den Blickhierarchien Rio de Janeiros. Wider die Bauchnabelperspektive gerät die Ordnung um den Steinbruch kurz vor der nächsten Explosion ins Wanken: »In der Fotografie gibt es alte Blickwinkel, Standpunkte des Menschen, der auf der Erde steht und geradeaus blickt, oder, wie ich es nenne, Aufnahmen vom Bauchnabel aus, den Apparat auf dem Bauch. […] Fotografiert von allen Standpunkten aus, nur nicht vom Bauchnabel aus, bis alle diese Blickwinkel anerkannt sind«, fordert Rodtschenko 1928 ein. In Rio de Janeiro, der Stadt der vertikalen Unterbrechungen, entspricht der Perspektivwechsel in der Senkrechten einem Spannungsfeld, das sich vom Topographischen ins Soziale überträgt. Während das Neue Sehen der 1920er Jahre den Blick von Hochhäusern oder wie László Moholy-Nagy 1928 vom Berliner Sendeturm wirft, wird bei Hirzman die steile Abbruchkante des Steinbruchs zum Brennpunkt. 

In Pedreira de São Diogo entwickelt er zusammen mit Flávio Migliaccio ein filmisches Argument, wie es im Vorspann heißt. Der Steinbruch, Grundlage für den Wachstum von Stadt und Staat, zieht seinen Arbeitern und allen weiteren Bewohner:innen der unmittelbar angrenzenden Favela den Boden unter den Füßen weg (Hirszman ist auch einer der ersten brasilianischen Filmemacher:innen, der in den 1970er Jahren den Raubbau am Regenwald thematisiert). Der Umbarmherzigkeit kapitalistischer Gier stellen sich die vereinten Kräfte der Favela gegenüber. Standpunkt und Gegenstandpunkt kollidieren in rhythmischen Attraktionsmontagen, die Hirszman den Titel des ›Brazilian Eisenstein‹ (Sarah Ann Wells) einheimsen. Die Arbeiter werden – diesmal in der Horizontale – zur Zündschnur einer politischen Explosion; die Mitstreiter:innen der Favela bilden nun den nicht kleinzubekommenden Granit, der die Maschinen stilllegt. Und der Presslufthammer, der eingangs den Vorspann nervtötend überdröhnte, wird schließlich von einer neuen rhythmischen Qualität, von einer Verschiebung der Betonung – dem Samba – übertönt: er ist »A Voz do Morro« (Zé Keti), wie es schon in Nelson Pereira dos Santos’ Rio, 40 Graus hieß.