Othon und Jean-Marie Straub

von Jean-Claude Biette (in Cahiers du Cinéma, N°218, März 1970)

Man weiß, wie in Straubs Filmen gesprochen wird, bildet ein wichtiges Element. So hat er es in Interviews erzählt – und man musste ihm glauben, weder der »Bachfilm«, wo sich der Kommentar großartig von Partituren unterscheidet, noch Nicht versöhnt, wo der obligatorische Verweis auf eine relativ erkennbare und eingreifende Realität den Text mit seinen Echos konfrontiert, außerhalb des Films, in uns, aber dennoch mit einem geringen Abstand, erlaubte ein freies Spielen zwischen den Schichten der Vergangenheit und der beweglichen Emulsion der Gegenwart, ohne dabei einen Text als Vorlage zu haben. Der Stoff von Straubs neuem Film Les Yeux ne veulent pas en tour temps se fermer – ou Peut-être qu’un jour Rome so permettra de choisir à son tour hat nun einen vollständigen Text – und nur diesen – einer der letzten Tragödien von Corneille: Otho.

Die Schichten der Vergangenheit liegen weiter auseinander und sind mannigfaltiger als je zuvor. Als inneres Zentrum gibt es das imperiale Rom – die Konflikte und Komplotte – weit entfernt und kaum bekannt, aus dem Tacitus’ erster Bericht über den untersuchten Machtkampf hervorgeht, der Otho als Maßstab und Fragestellung dient, über den Corneille seinen Leser folgendermaßen warnt: »Das Thema stammt von Tacitus, der seine ›Historien‹ damit beginnt; ich habe noch keine für das Theater geschrieben, dem ich mehr Treue gehalten und Erfindung geliehen habe. Die Charaktere, die ich dort sprechen lasse, sind dieselben wie bei diesem unvergleichlichen Schriftsteller, den ich, so viel ich konnte, übersetzt habe«, und ferner: »Ich wollte nicht über die Geschichten hinausgehen«.

Worin besteht also für Straub die Vergegenwärtigung des Otho-Textes? Denkbar wäre, Corneilles Alexandriner in einer größtmöglichen Dialektvielfalt sprechen zu lassen, vielleicht um die große Einheit der klassischen Verben zu sprengen oder um systematisch die freiwillige Verarmung des Vokabulars Corneilles mit möglichst unterschiedlichen individuellen Stimmen umzuverteilen. So neigt der ganze Text nicht dazu, einen einheitlichen Duktus zu verkörpern, wodurch sich der Text mittels einer Interpretation erschließen ließe, die Straub den Schauspielern, dem Text Corneilles, dem Film aufzwingen könnte, sondern vielmehr zur Ablehnung jeglichen Stils, was erlaubt, die vielfältigsten und unwillkürlichsten Fragmente einzufangen, die auf filmische Weise begreifend die Kulturen beinhalten. Dies geschieht unter bestimmten Bedingungen, Bedingungen, die Widersprüche in sich tragen: sehr verbissene, systematische Arbeit daran, sich dem Text zu unterwerfen. Es gab tatsächlich drei Monate lang für die Akteure tägliche Proben, als der Text dann Szene für Szene bekannt war, befassten sich die Proben mit der szenischen Umsetzung – sofern sie Teil der Einheiten für die Akteure waren –, dann wurden die Proben am jeweiligen Ort durchgeführt: eine Terrasse auf dem Palatin über Rom für die drei ersten Akte, ein barocker Garten mit einem Brunnen für den vierten Akt und eine steinerne Ecke in den Bädern des Palatin für den fünften Akt. Von Anfang an gab es innerhalb der Pläne Anweisungen zur Position der Akteure in der Kadrierung (in einer Quasi-Unbeweglichkeit, die es zu einem Maximum ermöglichte, sich während der Dreharbeiten auf den Text zu konzentrieren) und ihren Verschiebungen (die es zu einem Maximum während der Dreharbeiten ermöglichten, den Text beim Gehen gewissermaßen zu vergessen – wir kommen darauf zurück – als ein Hindernis für einander oder die anderen). Nun sind die Sprechrollen so verteilt, dass Plautus vom sehr leichten Schweizer Akzent profitiert, Camilla vom florentinischen Akzent, Otho vom sanften römischen Akzent, Albinus vom italo-kanadischen Akzent, Vinius vom englischen Akzent, Laco vom lothringischen Akzent, Marcianus vom Pariser Akzent, Albiane vom römischen Akzent, Flavia vom cremonesischen Akzent, Galba von einem schwer zu definierendem Akzent, Atticus vom argentinischen Akzent, Rutilius vom breiten römischen Akzent. Der Anspruch vor der Kamera war, zu sprechen, ohne eine Silbe zu vertauschen – und für die Mehrheit der Akteure (nicht die Franzosen) war es notwendig, den Akzent zum richtigen Ausdruck der Schriften Corneilles zu bringen – nach einer totalen Literalität – und um sich zu orientieren mit Hinweisen zum Rhythmus und zur Entintensivierung (Andante und Allegro ist die Norm, Adagio die Ausnahme) – was jedoch jedem Akteur einen Spielraum zum persönlichen Beitrag ließ, ohne sich mit der Rolle zu identifizieren, eher wie ein Impuls, der aus einer zwingend begrenzten Interpretationsidee entspringt (Wörter, die das Seelische oder Katastrophische befürworten, werden gnadenlos abgehobelt), aber gegen seinen Willen entweicht. Kurzum, man konnte davon ausgehen, dass Spontaneität, Natürlichkeit und Tiefe mitspielen, die sich darin ausdrücken. Aber es gab die Hindernisse des Einprägens, der nervlichen Anstrengung (eine Mehrheit von Laiendarstellern; der Zuschauer mag herausfinden, wer ein professioneller Schauspieler war oder ist), die Drehorte durchgehend unter der Sonne Ende August, und natürlich die Anstrengung des Rhythmus, der gegen jegliche Abweichungen der regulären Sprache um jeden Preis aufrechtzuerhalten war, um jede psychologische Äußerung zu verhindern, jeder verändernde individualistische Eingriff, sodass nur die rhythmischen Akzente aufblitzen können. Was sich bei den Akteuren in diesem Film tatsächlich zeigt, ist nicht eine explosive Freiheit wie bei Marc’O in Les idoles oder bei Chytilova in Les Petites Marguerites (Sedmikrásky), es ist im Gegenteil dank der mikroskopischen Wiederholungen eine methodische Unterdrückungsstruktur, eine freiwillig angenommene Struktur wie eine Arbeit für die Akteure, die aufdeckt, was in jedem Menschen vergraben liegt, natürlich nicht die Koketterie, die den Naturalisten und Post-Neorealisten am Herzen liegt, sondern die anonymen, vielfältigen Spuren: Blicke, einmal fixiert in eine Richtung, unterschiedlich verteilt, musikalische Hierarchie und die Tonalität der Worte in den Sätzen (der bestimmende Vers, er auch, ein Hindernis), all diese bürgerlich-revolutionäre Ausdruckskraft, sichtbare und hörbare Spuren des Begriffspaares von Freiheit und Unterdrückung, hier rekonstruiert aus Elementen, die einer historisch erforschbaren Kultur entlehnt sind (die Unsrige, heute), aber diese Spuren sind vor allem ablenkend und nicht zu entziffern, sie sind weit davon entfernt, Corneilles Text zu illustrieren, sein Zugang zu erleichtern oder ein für alle Mal Erklärungen oder Aufklärung anzubieten, sie banalisieren das Geheimnis, verstreuen es überall, brechen die gelernte Logik des Verses auf und verschleiern Stellen, die sie sich ohne Vorankündigung über den Text erheben.

Weitere Informationen zu Straubs Film, um anzugeben, was darin passiert, lassen sich mithilfe Flavias im zweiten Akt zitieren:

Otho hat der Prinzessin ein Kompliment gemacht,
mehr als Mann von denn als wahrhafter Liebender.
Seine artige Beredsamkeit, mit Anmut kettend
die Entschuldigung des Schweigens an die der Kühnheit,
klagte in zu gewählten Ausrücken den Respekt an,
diese verdächtige Huldigung so sehr verzögert zu haben.
Seine gezierten Gesten, seine abgemessenen Blicke
ließen darin kein Wort auf Abenteuer gehen,
man sah nur Pomp in allem was er malte,
bis in seine Seufzer herrschte die Richtigkeit,
und folgte Schritt um Schritt einer Gedächtnisanstrengung,
die leichter zu bewundern als zu glauben war.

Camilla schien sogar ziemlich dieser Ansicht,
ihr hätten besser geschmeckt weniger fortlaufende Reden,
ich habe es in ihren Augen gesehen, aber dieser Argwohn
hatte mit ihrem Herzen zu wenig Einverständnis.
Von diesem gerechten Verdacht ihre entrüsteten Wünsche
haben ihn sofort zerstört oder verschmäht.
Sie hat alles glauben wollen, und welche Zurückhaltung
zu wahren gewußt habe die Liebe, von der sie eingenommen ist,
man hat gesehen an dem wenigen, was sie entschlüpfen ließ,
daß sie Vergnügen nahm, sich täuschen zu lassen,
und daß, wenn manchmal das Grauen vor dem Zwang
den traurigen Otho nötigte, ohne Heuchelei zu seufzen,
plötzlich die Begierde, über sein Herz zu herrschen,
der Liebe zuschrieb diesen Schmerzensseufzer.

(Aus dem Französischen von Ronny Günl. Das Zitat aus Otho von Pierre Corneille am Ende des Artikels stammt aus der erstmaligen Übersetzung ins Deutsche von Herbert Linder, gemeinsam mit Danièle Huillet und Jean-Marie Straub)