Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Schneegestöber und Durchlichtbilder: All the Beauty and the Bloodshed von Laura Poitras

In der ersten Einstellung schneit es. Man sieht ein Gebäude von außen, ein Straßenlicht leuchtet, es leuchtet das Schneegestöber an. Kleine Flocken fliegen hernieder, während sie ihre kaum sichtbaren Schatten auf die Schneedecke werfen. Jede Flocke ist einzigartig. Das hatte ich als Kind gelernt und dabei vergeblich versucht, ihre Form mit bloßem Auge zu entziffern. Bevor ich eine einzelne Flocke aus dem Gewimmel isolieren konnte, schmolzen sie alle in meiner Hand zusammen zu einem kleinen Tropfen.

Es schneit weiter und nun sieht man in das Innere des Gebäudes. Nan Goldin sitzt in einem abgedunkelten Raum. Der Lichtstrahl eines Diaprojektors leuchtet, das Rauchgeschwader ihrer Zigarette füllt den Raum. Cembalomusik erklingt. Der Klang des Cembalos wird durch ein Zupfen erzeugt, das Ende einer Feder – dasselbe Ende, das man zum Schreiben in Tinte taucht – reißt die Saite mit sich. Ein kleiner Tupfer erklingt. Mein Klavierlehrer erklärte mir, dass es deshalb in den Stücken für Cembalos viele Verzierungen gibt. Ein Tontupfer hält nicht lang. Indem man schnell zwei Halbtöne abwechselnd erklingen lässt, erzeugt man die Illusion eines langen Tones.

Die spitzen und fragilen Töne vermischen sich mit dem rhythmisch-mechanischen Klicken des Projektors. Es ist ein mir fremdes Geräusch. Ich war nie mit dem endlosen Kreisen einer solchen Apparatur vertraut. Es hat etwas Unaufhaltsames, die Maschine, die einem gerade genug Zeit gibt, sich zu erinnern. Es ist ein Mittel konstanter Überforderung und Konfrontation. Vielleicht ist es daher das richtige Mittel, sich mit vergangenen Geschichten zu beschäftigen. Laura Poitras erzählt den Film in Dias, in Kapiteln, in Fotosammlungen. Das Licht erleuchtet die Durchlichtbilder, eines nach dem anderen, und eine Ruhe legt sich über mich, wie eine Schneedecke. Man legt sich in die Dunkelheit und schaut.

Goldin beginnt mit ihrer Kindheit. Sie erzählt von ihrer Schwester, ihrer Rebellion und ihrem tragischen Schicksal, worüber ihre Eltern schweigen. Sie selbst sei lange Zeit verstumm. Es macht Sinn, alles um einen scheint sich zu drehen, man bleibt ruhig und sieht dabei zu. Eine geliebte Person verschwindet spurlos aus dem Leben und alle schauen weg, als ob nichts passiert wäre. Ist es die Trauer, die einen dann wortlos überfällt? Ist es die Taubheit in den Fingerspitzen, die Taubheit in einem, die bewirkt, dass man versucht, die eigene Wahrnehmung festzuhalten? Die Fingerspitzen, die den Weg zum Auslöser finden und abdrücken. Erst mit ihrem neuen Namen, der ihr von ihrem Freund gegeben wird – Nan –, scheint sie diejenige zu sein, die ihr Karussell selbst antreibt. Sie entflieht dem Vorort, lebt mit ihren Freunden in New York, lebt mit Künstler*innen zusammen. Sie drehen Filme, machen Kunst und Fotos, veranstalten Parties, um ihre Arbeiten zu zeigen. Einmal verdient sie ihr Geld mit einer Buttonmaschine. Aus Fotos werden Buttons, die sie auf der Straße verkauft. Sie verwandeln sich zum Gegenstand, zu Sammlungen, zu tragbaren Erinnerungen. Kleines Kreise, die den Moment festhalten. Ihre Erinnerungen spritzen mit Lust, stechen mir mit ihren farbenvollen Bildern direkt ins Herz.

Zwischen den Dias sind Bilder der Gegenwart geschaltet. Die aktivistische Gruppe um Nan Goldin, die sich gegen die Sacklers und ihren Einfluss einsetzt und sie zur Rechenschaft für ihre Verbrechen zieht, wirft Flyer, klebt blutiges Falschgeld auf ihre Leiber, wirft leere Medikamentendosen ins die Kunsthallen. Mit dem Geld, das die Sacklers mit Oxycodon verdienen, mit der Sucht der Menschen, die diese Droge auslöst, benennen sie die Flügel und Hallen der Museen und Universitäten. Im Film fällt ein Ausdruck – »Blizzard of Prescription«. Ein schreckliches Bild, überall ein Film von hartnäckigem Papier, das sich auf die Menschen niederlegt. Mit ihren Aktionen machen sie das Bild konkret, man sieht wie sich die Zerstörungskraft der Droge manifestiert.

Der Film zeigt die Geschichte Goldins Lebens, ihrer Kunst und ihres Aktivismus. Der Tod und die Gewalt sind verwoben mit ihrer Geschichte. Sei es ihre Kindheit in den 1950ern in den Vororten, die Erinnerungen an ihre Schwester oder die an ihre Freunde und Wahlfamilie in New York während der AIDS Epidemie. Oder ihre eigene Sucht. Eine Sucht die in Berlin beginnt, nachdem sie von ihrem Freund geschlagen wird, dabei beinahe erblindet. Man gibt ihr die Pillen, die sie abhängig macht. Berlin, Blind, The Ballad of Sexual Dependency. Eine Ballade, die beißt, die blutet, die zerrt, die zerrüttet. Ballad, Battered, Body. Im Film treffen fragile Momente zusammen mit der Gewalt des US-amerikanischen Gesundheitssystems und einer Gesellschaft, die Probleme nicht anspricht, sondern betroffene Menschen noch weiter marginalisiert und zum Schweigen bringt. Zum Schluss wendet sich der Film nochmal Goldins Schwester zu, den Akten, die während ihres Klinikaufenthaltes über sie verfasst wurden. Goldin findet ihre Worte: All the Beauty and the Bloodshed – die beiden Extreme, das unerträgliche Gefühl, das Goldins Schwester beschreibt. Die Fragmente von ihr finden zu uns.