Die Quadratur des Kinos

Was passt in ein Quadrat? Das fragte ich mich nach der Sichtung von Rick Alversons The Mountain in Venedig. Ein Film, der mir emblematisch für gewisse Tendenzen in jener Domäne der zeitgenössischen Laufbildwelt zu sein scheint, die manche „Kunstkino“ titulieren. Kurz nach der Filmpremiere las ich apropos einen Text, der durchaus überzeugend argumentierte, dass die Verwendung von Formulierungen wie „emblematisch für gewisse Tendenzen“ im Rahmen von Filmtexten etwas ausgesprochen Anmaßendes an sich hat. Mag sein. Dennoch bleibe ich in diesem Fall dabei.

The Mountain von Rick Alverson

Lassen Sie mich den Gedanken näher ausführen. The Mountain ist ein Film, der im sogenannten Academy Ratio gedreht wurde, d. h. 1,37:1, manchmal auch „Normalbild“ genannt. Die englische Bezeichnung verweist auf den Hollywood-Ursprung des Formats, das 1932 von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences als technischer Standard für Studioproduktionen festgelegt wurde. Ein Großteil dessen, was man heute „klassisches Hollywoodkino“ nennt, fügte sich in diese Form. Abweichungen fielen auf.

Mittlerweile gilt das Gegenteil. Bildformate von Filmen, die sich an ein breites Publikum richten, sind in der Regel selber breit, namentlich „widescreen“, entfalten sich also irgendwo zwischen 1,77:1 und 2,39:1. Alles, was erheblich schmaler wirkt, macht sich bemerkbar. Ein Superheldenblockbuster im Academy Ratio wäre gegenwärtig nur schwer vorstellbar: Er würde zu wenig „episch“ und „immersiv“ anmuten und einen nicht unbeträchtlichen Teil der intendierten Zuschauerschaft kraft seiner offenkundigen Andersartigkeit irritieren – zumindest temporär.

Inimi cicatrizate von Radu JudeJauja von Lisandro Alonso

Im „Kunstfilm“-Bereich, i. e. in Festival- und Programmkinogefilden, sieht die Sache buchstäblich anders aus. Auch hier fällt die Verwendung schmalerer Formate auf, doch sie wird meist als Stilmittel gewertet – als Teil der formalen Gesamtkonzeption eines Films, und manchmal sogar als subtiler Indikator von „Kunst“-igkeit per se. Die Rechnung geht wie folgt: Schmales Format (oder der Einsatz unterschiedlicher Formate innerhalb eines Films, siehe The Grand Budapest Hotel) = Filmemacher, die sich „was trauen“ bzw. Filmemacher, die sich über die Form ihrer Arbeit Gedanken machen = Kunst.

Ich nehme an, dass jede/r Regisseur/in auf die Frage, ob hinter der Nutzung eines schmalen Formats auch das Kalkül stehen könnte, eine „künstlerische“ Aura zu generieren, antworten würde, dass es sich hier wie bei der Wahl der Kameralinse oder des Speichermediums schlicht um eine ästhetische Technik handelt, mit der sich bestimmte Dinge ausdrücken lassen, die man anders womöglich nicht vermitteln könnte. Und sie/er hätten fraglos Recht. Dennoch habe ich den Eindruck, dass derzeit eine Verbindung besteht zwischen dem Gebrauch des Academy Ratios (oder vergleichbarer Schmalformate) und der Signalisierung einer gewissen Art von Raffinement.

The Grand Budapest Hotel von Wes Anderson

Oftmals geht der Wechsel zum Quadrat-Format nämlich mit anderen bildsprachlichen Veränderungen Hand in Hand, die ein gesteigertes Gefühl von „Qualität“ erzeugen: Eine kontrolliertere Mise en Scène; eine präzisere, stimmungsvollere Lichtsetzung und Farbgebung; eine angenehmere, samtigere Bildtextur; eine Vorliebe für symmetrische, zentrierte Kompositionen. The Mountain scheint mir im Vergleich zu Rick Alversons Vorgänger Entertainment ein gutes Beispiel für diese Art der Entwicklung zu sein. Ein anderes aus dem Venedig-Wettbewerb wäre Jennifer Kents The Nightingale in Kontrast zu ihrem Breitwand-Langfilmdebut The Babadook. Beide Filme repräsentieren überdies kraft ihrer Uraufführung im kompetitiven Rahmen eines bedeutenden A-Festivals einen symbolischen und prestigetechnischen Aufstieg ihrer Urheber in ein höheres Arthaus-Stockwerk. Ich möchte klarstellen: In beiden Fällen geht es mir nicht um die Unterstellung eines Kalküls, sondern um die Erläuterung einer Wahrnehmung.

Und zwar jene der Herausbildung und Verstetigung einer Ästhetik, die mir im „Kunstkino“-Bereich immer öfter unterkommt und bei mir oft bereits beim Anblick eines Fotogramms zur Kategorisierung des betreffenden Films als „künstlerisch ambitioniert“ führt – mit allen positiven und negativen Untertönen, die bei diesem Wort mitschwingen. Ein positiver ist, dass der Filmemacher seine Arbeit ernst nimmt. Ein eher negativer, dass es ihm ausgesprochen – und vielleicht sogar über alle Maßen – wichtig ist, dass seine Arbeit von einem spezifischen Publikum ernst genommen wird. Das Academy Ratio ist nicht ausschlaggebend für diese Kategorisierung, erhöht ihre Wahrscheinlichkeit aber wesentlich.

A Ghost Story von David Lowery Krizácek von Václav Kadrnka Skhvisi sakhli von Russudan Glurjidze Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier

Hier eine unvollständige Liste völlig unterschiedlicher, jüngerer Schmalformat-Filme, die ich nahezu unwillkürlich auf diese Weise kategorisiert habe, manchmal noch bevor ich sie gesehen hatte (oder ohne sie zu sehen): Krizácek von Václav Kadrnka; Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes von Julian Radlmaier; A Ghost Story von David Lowery; Jauja von Lisandro Alonso; Classical Period von Ted Fendt; Skhvisi sakhli von Russudan Glurjidze; Der traumhafte Weg von Angela Schanelec; Inimi cicatrizate von Radu Jude; Notes on an Appearance von Ricky D’Ambrose; Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas; Zimna wojna von Pawel Pawlikowski; The Assassin von Hou Hsiao-Hsien.

Alle diese Filme ticken anders und hatten, sofern ich sie gesehen habe, eine andere Wirkung auf mich. Bei den meisten von ihnen meine ich triftige künstlerische Gründe zu erkennen, warum sie sich für ihr Format entschieden haben. Doch der eigentümliche Nobilitierungseffekt, den das Schmalformat im Verbund mit einer Reihe von komplementären ästhetischen Markern erzeugt, wirkt unabhängig vom Film selbst. Er beeinflusst die Rezeption schon im Vorfeld oder schiebt sich ungefragt zwischen den Blick und den Gegenstand.

Dies ist weniger ein Vorwurf als eine (selbst-)kritische Notiz. Der Effekt ist zuvorderst eine Folge von Veränderungen im ästhetischen Diskurs des Kinos. Obwohl es vermessen wäre, Filmemachern pauschal eine Anwendung von „Veredelungstricks“ zu unterstellen, lässt sich derzeit die Entstehung diverser Distinktionsstrategien beobachten, die durch den digitalen Wandel aus Vermarktungssicht notwendig geworden sind, um den ästhetischen Mehrwert einzelner Filme deutlich zu kennzeichnen. Das filmische Material, dessen unnachahmliche Textur lange Zeit einiges zur Abgrenzung von „Kino-Qualität“ gegenüber stärker konsumorientierten Einwegbilderflüssen des Fernsehens oder der Schludrigkeit von Amateuraufnahmen beigetragen hat, ist keine produktionstechnische Selbstverständlichkeit mehr (ironischerweise kann sie nun genau aus diesem Grund wieder verstärkt als Alleinstellungsmerkmal fungieren). Jede Kinodomäne signalisiert Qualität auf unterschiedliche Weise. Und inzwischen scheint mir der Einsatz des Academy Ratios, wie gesagt, ein mögliches „Kunstfilm“-Signal in diese Richtung zu sein, vor allem, wenn er mit einer bestimmten Vorstellung visueller Konzentration und Reinheit verkoppelt ist. Wenn die Bilder also den Anschein akribisch gepflegter Bonzai-Bäume erwecken: Jede Einstellung ein „Gemälde“, makellos hergerichtet wie ein rasierter Schambereich.

Letztlich liegt es aber am Zuschauer selbst, so ein Signal auszudeuten. Eine apodiktische Abwehrhaltung gegenüber bestimmten ästhetischen Mustern ist bei der kritischen Auseinandersetzung mit Filmen oft ebenso kontraproduktiv wie ihre willfährige Anbetung. Ich war mir etwa schon nach ein paar Einstellungen von The Mountain sicher, dass einer der Vorwürfe gegen Rick Alverson lauten würde, seine neue Arbeit sei ein Paradebeispiel für zynisches Kunstgewerbe. Doch dieser Vorwurf kann, reflexartig vorgebracht, selbst etwas Kunstgewerbliches annehmen. Ohne hier näher auf Alversons Film einzugehen, möchte ich festhalten, dass seine ästhetische Konzeption zumindest eines vorweisen kann, was vielen nicht minder “kunstigen” Arbeiten abgeht: Konsistenz und Stimmigkeit. Und der bereits erwähnte Fokus auf Reinheit und visuelle Konzentration, der seinen Bildern anhaftet, ist bei ihm jedenfalls nicht reiner Selbstzweck, sondern dient periodisch der Herstellung eindringlicher Kontrast-Momente und Brüche.

Fazit? Fehlanzeige. Nur zwei Dinge: Nicht alles, was quadratisch ist, ist automatisch gut. Und wer zu sehr aufs Format schaut, kriegt irgendwann viereckige Augen.

Notes on an Appearance von Ricky D'Ambrose

Viennale 2014: Court von Chaitanya Tamhane

Vira Sathidar in "Court"

Chaitanya Tamhane ist offensichtlich nicht sehr zufrieden mit einigen Vorgängen in seinem Land. Court, der Debütlangfilm des erst 27-jährigen Inders aus Mumbai, setzt sich unter anderem mit dem indischen Rechtssystem auseinander. Diese Auseinandersetzung exerziert Tamhane am Beispiel des fiktiven Volkssängers und Poeten Narayan Kamble durch. Neben seinen Auftritten als politisches Sprachrohr der indischen Unterschicht, unterrichtet der halbgreise Narayan Kamble an einer Schule. In dieser Funktion bekommen wir ihn auch zum ersten zu Gesicht und folgen ihm schließlich von seinem Arbeitsplatz zu einer Demoveranstaltung, wo er auftritt. Während des Auftritts wird Narayan Kamble jedoch von der Polizei verhaftet. Bis zu diesem Zeitpunkt stand der Musiker im Mittelpunkt des Geschehens und Tamhanes Kamera folgte ihm auf Schritt und Tritt. Kaum im Gefängnis verschwindet Narayan Kamble nicht nur aus der diegetischen Öffentlichkeit, auch sein Platz als Protagonist wird von seinem Anwalt Vinay Vora (großartig gespielt von Vivek Gomber, der auch als Produzent tätig war) übernommen. Vinay Vora stammt aus wohlhabender Familie, ist schick gekleidet und lebt in einer austauschbaren, westlich-geprägten Parallelwelt, die mit dem gängigen Bild des „armen Indiens“, also der Lebenswelt seines Klienten, wenig gemeinsam hat. Auffallend scheint zu sein, dass Vinay Vora den Narayan Kamble eher aus philanthropischen Motiven, als aus finanzieller Notwendigkeit vertritt (später stellt er sogar dessen Kaution). Als er später bei einer Veranstaltung über die Probleme und Willkür im indischen Rechtssystem referiert wird diese Vermutung bestätigt. So erinnert Vinay Vora ein wenig an klassische Jimmy-Stewart-Charaktere (wenngleich auf einer anderen gesellschaftlichen Ebene), der in Josef-K.-Manier einen Spießrutenlauf von Anhörung und Anhörung über sich ergehen lassen muss und sich mehr und mehr im Paragrafendschungel verliert.

Der namensgebende Gerichtssaal in Die Frage nach Vinay Voras Antrieben bleibt aber offen. Er unterstützt jene Menschen, die in bester gesellschaftskämpferischer Manier gegen jenes Establishment ankämpfen, dem er selbst angehört. Vinay Vora wirkt jedoch keineswegs wie ein edler Ritter in glänzender Rüstung, der bereit ist sein Vermögen oder seinen Lebensstil für soziale Gerechtigkeit aufzugeben. Andererseits, scheint er sein gemütliches Leben auch nicht wirklich zu genießen – das Verhältnis zu seiner Familie ist schlecht, Frauen und Freunde scheinen ebenfalls keine große Rolle in seinem Leben zu spielen. Was ihn antreibt ist ein vager Wille für eine gerechtere Rechtsprechung und weniger Korruption, ein Wille der von den Mühlen der Justiz langsam zermürbt wird, denn das Leben als Anwalt in Indien ist Sisyphusarbeit – als Narayan Kamble schließlich gegen Kaution wieder freikommt, wird er sogleich wieder verhaftet und wieder ist die Anklage ein bloßer Vorwand, den die Polizei mit Hilfe der Staatsanwaltschaft aus der Luft gegriffen hat, um den Dissidenten und ein für alle Mal hinter Gitter zu bringen und endlich Ruhe zu haben vor der bürokratischen Mühsal der Durchsuchungsbefehle, Gerichtstermine und Zeugenaussagen.

Vivek Gomber in Schlussendlich wird man das Gefühl nicht los, dass die indische Mentalität und das von den Briten vor mehreren Jahrhunderten eingesetzte Rechtssystem nicht so recht zusammenpassen. So ist Court nicht bloß ein Aufschrei gegen juristische Willkür, sondern auch ein gewichtiges post-koloniales Statement.