Warum ich bei Godard nicht weinen muss

Die Retrospektive zum Frühwerk von Jean-Luc Godard im Österreichischen Filmmuseum neigt sich langsam dem Ende (des Kinos?) entgegen, es dämmert schon länger über den Stätten des Kinos, aber wir dürfen nicht vergessen wie schön ein Dämmerlicht wirkt und dass nach der Dunkelheit wieder eine Dämmerung einsetzen wird. Die frühen Filme von Godard haben seinen Namen zu einer Marke gemacht, die er trotz aller Versuche nie wird abstreifen können. Es kann zwar nur bei einer Behauptung bleiben, aber ich würde vermuten, dass ihn das schmerzt, denn sein Kino besteht in jedem Bild aus dem zermürbenden Bewusstsein der eigenen Existenz, dem Spiegel, der das was er sieht immer wieder herausfordern will, damit er es nicht mehr erkennen muss. Filme, die eine Richtung einschlagen, um sie zu wechseln, es sei denn der Wechsel würde antizipiert werden. Dabei geht es immer gleichermaßen um JLG (den Menschen, den Künstler, die Marke) als auch um das Kino.

Das gleiche gilt in gewisser Weise für meine Tränen. Das mag jetzt erst mal überraschend kommen, aber meine Tränen fließen nicht, wenn sie wollen, weil ich sie dann spüre und etwas anderes machen möchte. Die Überwältigung kann nicht einsetzen, weil ich sie nicht zulasse. Genau wie Godard das Kino und dessen Überwältigung nicht zulässt, weil er es so sehr sucht. Dieses Gefühl, wenn man weinen will und nicht kann. Vielleicht ist es deshalb so eindeutig, wenn Godard seine damalige Frau Anna Karina in Vivre sa vie : film en douze tableaux gegen die Tränen von Maria Falconetti in Carl Theodor Dreyers La passion de Jeanne d’Arc schneidet, weil hier das Kino ein Spiegel voller Tränen ist und das Bild eine Sehnsucht nach eben diesen Tränen, die auf den Knopfdruck durch das Ebenbild fließen, durch das identifikatorische Leiden nicht an sich selbst, sondern am Kino, am Leben. Godard macht Kino wie auf einer Beerdigung und weil es ihm komisch vorkommt auf Knopfdruck zu weinen, denkt er lieber über das Weinen nach.  Ebenso wenig überraschend scheint es, dass JLG am meisten Überwältigung wohl in seinem Le mépris zulässt. Ein Film (wie die meisten dieser frühen und auch der späten Filme) über das Ende (des Kinos u.a.). Dort wo es nichts mehr gibt, darf es überwältigen. Vielleicht hätte er einen Film über die letzte Träne machen sollen. Vielleicht macht er ihn noch. Friedensreich Hundertwasser hat Tränen gemalt. Aber immer wieder hat er sie in Analogie zu Regentropfen gesetzt. Tränen, die am Fenster entlanglaufen, auf den Boden prasseln, was vor allem in Wasserfarben einen einzigartigen Effekt erzielt und darauf hinweist, dass ein ähnliches Begehren nach dem Weinen im Maler wie im Filmemacher lungerte. Denn wenn die Tränen auf dem Fenster entstehen statt in den Augen, dann ist da etwas dazwischen, die Leinwand, die Kamera, der Pinsel.

Godard Die Verachtung

Aber es besorgt mich, wenn ich nicht weinen kann, weil mich jemand daran erinnert, dass ich im Kino bin oder mich darauf aufmerksam macht, dass man jetzt weinen sollte. Ich will weinen können, gerade weil ich im Kino bin. Dieses Ausweichen des Offensichtlichen verkommt schnell zur Attitüde und oft kanalisiert sich dieses Abwehrverhalten dann so stark, dass man über Banalitäten und kleine Momente einen Ausbruch erleidet, den man sich selbst kaum erklären kann. Ein Blatt im Wind hat im Kino schon zu Tränen gerührt. Also sollte diese ewige Selbstreflexion, die natürlich auch zu formalen Höhen führt, eigentlich gar nicht den Tränen hinderlich sein. Es ist noch etwas anderes und ich glaube, dass es mit der fehlenden Konzentration von Godard zu tun hat. Da ein Bild nicht einfach nur ein Bild sein darf, aber durchaus ein Bild sein muss und da es immer eine neue Idee gibt, die einen Frame weiter lauert, bekommt man keine Zeit für das eigene Gefühl und jenes seiner Bilder. Stattdessen gibt es eine Überforderung, die durchaus sinnlich sein kann (man denke an Alphaville oder manches zerbrechliche Flüstern in Une femme mariée oder Bande à part), aber nie Reinheit zulassen möchte. Godard ist immer abwesend, aber nicht im Modus von Thom Yorke und seinem How to disappear completely zwischen Selbstauflösung und Beruhigungsmantra, sondern indem er aufmerksam ist. Diese Aufmerksamkeit für jedes Licht, jeden Gedanken und jedes Wort im Kino und in der Zukunft und Geschichte des Kinos verhindert letztlich den Blick in den eigenen Abgrund, obwohl man nichts anderes sieht als diesen Abgrund. Vielleicht muss ich dies an einem anderen Beispiel veranschaulichen. Eine junge Frau blickt jeden Morgen in den Spiegel und verliert sich in ihrem Bild. Sie entdeckt tausend kleine Details in ihrem Spiegelbild bis sie schließlich den Spiegel an sich untersucht, das Glas, die Herstellung von Spiegelglas, die symbolischen Funktionen von Spiegeln, Farbeffekte in ihren nassen Augen, das kleine Lämpchen, das sich im Spiegelhäuschen befindet, alles , was sich hinter ihr befindet, alles was der Spiegel verdeckt, Illusionen und fremde Welten, die Bewegungen ihres Spiegelbildes und irgendwann, ja irgendwann wird sie nicht nur zu ihrem eigenen Spiegelbild (JLG gebraucht die Geschichte des Doppelgängers in seinem Pierrot le Fou und reflektiert mehrmals die Poe-Frage Frage nach dem Verlieben in ein Bild, nach dem Lebendig-Werden dieses Bildes), sondern zum Diskurs und zum Gedanken über und mit dieses Bildes. Sie wird sich nicht mehr sehen und genau das droht mir bei jedem Kinobesuch, es droht wohl jedem Menschen, der lange Zeit und viel Aufmerksamkeit mit etwas verbringt. Er wird es nicht mehr wirklich sehen. Und das ist wirklich traurig und wäre dann vielleicht das Ende des Kinos, der Liebe und des Lebens.

Aus diesem Blickwinkel ist es absolut beruhigend, dass das Kino kein Spiegel ist.