WdK Tag 5: „Apparatus“ – Die Selbstkritik der Anderen: I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Der Apparat. Der Staatsapparat. Der totalitäre Staatsapparat? Der Apparatschik? Seit Verabschiedung der bipolaren Weltordnung, ruft die Verbindung der Wörter Staat und Apparat seltsame Nicht-Erinnerungen, weil meist nie selbst erlebte, an Fünfjahrespläne, Arbeitserfüllungsquoten und weit verzweigte Labyrinthe kahler, mit Linoleum ausgelegter Korridore hervor; und hinter jeder Tür, dahinten am tiefen Ende jedes Spanholzschreibtisches ein Mann vom Apparat.

Im daran anschließenden Denken ist der Apparat für den einzelnen Bürger einerseits ein Außen, übergestülpt, die Gottmaschine, die alles am Laufen hält, verbunden mit kafkaesken Vorstellungen von Unübersichtlichkeit, Unadressierbarkeit und Unbeeinflussbarkeit. Andererseits ist der Apparat höhere Vorsehung, in welche der Bürger eingeordnet ist, die er als Zahnrad oder Dichtungsring oder Schraube und so weiter in reibungs- und verlustfreier Bewegung hält, allerdings ohne seine genaue Funktion oder seinen genauen Platz in Beziehung zu den anderen Teilen des Apparats zu kennen.

Die westliche Kunst- und Kulturszene erwartet aus jenen Regionen der Welt, denen man im ersten Schritt zuschreibt, nach dieser Logik des Apparates zu verfahren, im zweiten Schritt eine dissidente Kunst, die doch bitte erkennt, wie schlimm das alles ist, für die Freiheit des Individuums und die Selbstbestimmung und die dann – aus diesem Akt der vermeintlichen Erkenntnis nach den Maßstäben und zur Bestätigung einer schon lange kommerzialisierten Selbstfindungs-Metaphysik heraus – eine Geste des Protests, des individuellen Aufstands gegen das System inszeniert. Erst das Zahnrad, das plötzlich bemerkt, dass es eingesperrt und benutzt ist, aber ja gar nicht weiß was es ist und warum überhaupt, und dann der einsame Stinkefinger der Selbsterkenntnis vor den grauen Toren des Systems. Ai Weiwei kann nun auch nichts dafür, dass er berühmt geworden ist und herhalten muss als der gute Dissident, der die gute kritische Kunst zu machen hat; nach Zusammenbruch der Sowjetunion war halt noch China übrig. Das Effiziente an dieser Logik der westlichen Selbstbestätigung über den Umweg der Selbstkritik der Anderen ist, dass sie im Abstand zu dem verschwommenen Dort beinahe jede künstlerische Position zu einer ihr gemäßen individualistischen Kritik umdeuten oder reduzieren kann. In regelmäßigen Abständen adoptiert auch das sogenannte Arthouse-Kino einen Film aus Russland oder China oder dem Iran, um ihn nach dieser Logik zu verwerten und seinem treuen Publikum einen wohligen lau-kalten Schauer über den Rücken zu jagen.

Ai Weiwei - Stinkefinger

Ai Weiwei zeigt den Stinkefinger.

I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang scheint sich auf den ersten Blick dieser Praxis anzubiedern, so wie etwa Andrey Zvyagintsev es mit seinem Kritikerliebling Leviathan tat, der bereits für ein westliches Publikum gemacht schien und sich schon selbst, ohne dass viel nachzuhelfen nötig gewesen wäre, im Honigtopf für Dissidenten ertränkt hatte (Patrick hat dazu einen anderen Ansatz). Die junge Li Xuelian (Fan Bingbing) wurde von ihrem Mann betrogen und kämpft sich nun mutig, aber erfolglos, durch die Institutionen des chinesischen Rechtssystems: für Gerechtigkeit … oder für Wiedergutmachung? Oder für Rache? Oder aus Zerstörungslust? Oder einfach um zu gewinnen? Beim Versuch auf einen Begriff zu bringen, beginnen schon die so notwendigen Probleme, die den Film davor bewahren könnten, verwurstet zu werden, aber wahrscheinlich ebenso davor bewahren werden in Deutschland überhaupt gezeigt zu werden. I am not Madame Bovary lässt sich nicht auflösen in einen psychologischen Realismus, welcher den Selbstbestätigungsmechanismen stets am gelegensten kommt, weil er das Individuum, so hart es auch attackiert wird, stets als seinen Mittelpunkt behauptet. Lue Xuelian ist nicht diese vollkommen transparente Version einer jungen, starken Frau, die ihre marginalisierte Stellung in der Gesellschaft schmerzhaft beigebracht bekommt und daraus die unheimliche Kraft für ihren Kampf zieht. Wir haben es nicht mit der Geschichte einer Bewusstwerdung zu tun, die in all ihren Motivationsmomenten offengelegt wird und so auf eine erwartbare Identifikation hin angelegt ist. Li Xuelian ist eine einfache Frau vom Land, die einfach nicht zu verstehen ist. Sie berät sich mit ihrem Ochsen über ihr weiteres Vorgehen, schleift ein großes Messer unten am Wasser, will töten und ist dann wieder ganz ruhig. Die streng und total kadrierten Bilder des ersten Teils geben immer wieder Momente der Distanzierung und, durch das ikonische kreisrunde Münzformat des Bildes,  Momente der mythischen Aufladung der Figur Li Xuelian. In einigen Einstellungen erinnert sie an eine Rächerin aus der Sagenwelt, der jegliche psychologische Motivation äußerlich ist, die handelt aus Funktion oder aus einem Trieb, der tiefer liegt als das Kausalpsychische.

Vieles über diese Frau bleibt im Dunkeln, immer wieder verlieren wir sie für lange Zeit aus den Augen und der Film vertieft sich stattdessen in die Institutionen, die ihre wahre Mühe mit ihr haben und von der lebendigen Vielzahl ihrer Motivationen und Handlungen genauso überrascht sind wie wir. In der Gegenüberstellung von Individuum und Institution wird am deutlichsten, wo der Film den Mechanismen eines dissidenten Kinos ausbricht. Er teilt nicht auf in einander äußerliche Sphären, selbstverständlich auch nicht in Gut und Böse. Es stehen sich hier nicht das Individuum und die graue Masse des Apparates gegenüber, deren Motivationen und Handlungen unvereinbaren Welten zugehörig sind. Genauso wie die Figur der Lue Xuelian privatpsychologische (die enttäuschte Liebe) mit institutionellen (die Scheinscheidung und ihre Hintergründe in Politik und Arbeit) und mythischen (eine alte Beleidigung, ein Fluch der gesühnt werden muss) Motivationen verwebt, erreichen die Männer der Institutionen teilweise eine starke Individualisierung (der besudelte Justizchef, der in der letzten Szene des Films wiederauftaucht), beweisen in ihrer Rede immer wieder ausgeprägte Vernunft (der hohe Vorsitzende beim nationalen Parteikongress) und sogar Empathie (der Gouverneur am Ende); aber eben auch in anderen Szenen das Gegenteil.

Eine nicht überblickbare Vielzahl von Mechanismen und Motivationen greifen in diesem Film ineinander, deren Verhältnisse – und vielleicht ist das, um sich von einem festlegenden dissidenten Kino abzugrenzen, noch wichtiger als die einfach quantitative Unübersichtlichkeit  – in jedem Aufeinandertreffen von Lue Xuelian und den Funktionären, aber auch in jedem Treffen der Funktionäre untereinander neu ausgehandelt werden. I am not Madame Bovary nimmt die Kontingenz und Widersprüchlichkeit des ewig zu verhandelnden gesellschaftlichen Lebens auf in seine durchaus kritische Betrachtung des chinesischen Rechtssystems und entgeht dadurch – hoffentlich – der Gefahr der Aneignung durch den westlichen Selbstbestätigungsapparat.

Das unheilvolle Picknick am Wegesrand

Wenn man viele Filme sieht, dann bekommt man es mit einigen bizarren Ängsten zu tun. Eine, die sich neben jener grässlichen Furcht vor Eulen in mir etabliert hat, ist die Angst vor Picknicks. Das wird jetzt erst mal sehr merkwürdig klingen, denn was sollte einem denn bei einem Picknick Angst machen? Aber wenn man es sich genau überlegt, dann passieren meist schreckliche Dinge bei einem Picknick, die betonte Harmonie und Unschuld in solchen Szenen wird oft mit der Plötzlichkeit einer einbrechenden Gewalt überrumpelt und die ganze Zeit flirrt so eine Angst neben den giftigen Wespen durch die sommerliche Luft. Bei einem Picknick schwebt immerzu die Gefahr eines Verlusts der Schönheit durch die betörenden Bilder. Ein Picknick im Kino ist immer zugleich die Hoffnung auf eine Unschuld und ihre Vernichtung Das ist nur schwer ertragbar.

Walkabout von Nicolas Roeg

Walkabout von Nicolas Roeg

Nehmen wir mal zwei Filme, die in der australischen Wildnis spielen. Walkabout von Nicolas Roeg und Picnic at Hanging Rock von Peter Weir. Beide Male werden Picknicks zur absoluten Katastrophe und aus der Unschuld eines Familien- bzw. Internatsausflugs wird ein erbarmungsloser Kampf gegen die Natur. Der Gegensatz ist immens zwischen der Unbeflecktheit eines weißen Tuchs im nackten Gras und der brütenden Hitze, den Schlangen und mystischen Felsen des Outbacks. Die Einstellung der Angst vor der Katastrophe ist dabei die Totale, die vor allem Weir immer wieder benutzt, um seine Figuren in der Natur verschwinden zu lassen. Das Geräusch von Grillen, eine merkwürdige Gestalt, die das Treiben aus einiger Entfernung beobachtet, das Picknick bietet sich einfach an für ein Ausgeliefertsein und jene unbemerkte Gefahr, die man als Suspense aufbauen kann. Denken wir an Ingmar Bergmans Jungfrukällan, der dieses Naheverhältnis von Unschuld und Gewalt auf eine brutale Spitze treibt. Es ist dieser Widerspruch zwischen dem glänzenden Flusswasser, dem blauen Himmel, der scheinbar friedlichen Musik der Natur und dem Schmutz in der Lust dreckiger Männer, der erbarmungslosen Weite und Stille dieser Natur und ihrer Gleichgültigkeit. Denn was hier schön ist, kann auch immer tödlich sein. So ist das nun mal im Kino und so ist das auch bei einem Picknick.

In Zodiac von David Fincher werden diese Angst vor dem Picknick und diese Schutzlosigkeit für einen der wenigen „Genre-Momente“ des Films benutzt. Es ist diese Horror-Tagline: „Niemand hört dich schreien!“, die hier zur vollen Entfaltung kommt, aber es ist noch etwas anderes bei einem Picknick zum Beispiel im Vergleich zu einer unschuldigen Wanderung durch den Wald. Ein Picknick hängt nämlich auch am sexuellen Begehren. Es ist in sich schon ein Spiel, das Reinheit vortäuscht, aber letztlich häufig mit sexuellen Motiven aufgeladen ist. Natürlich gibt es da das Familienpicknick, aber es gibt auch die Verlorenheit und Zweisamkeit von Mann und Frau, die mit Trauben und Marmelade von einer Unschuld träumen, die bereits im Ansatz so verdorben ist, wie die der Hitze ausgelieferte Milch nach wenigen Stunden. Eine fordernde Lust schlängelt sich unter den Picknickdecken hindurch, sie trifft sich dort wo man etwas Weißes trägt, weil man sich besser das Blut darauf vorstellen kann. Filme wie Partie de campagne on Jean Renoir oder Short Cuts von Robert Altman zeigen das Aufgeladene dieser Lust vor allem daran, dass die Begierde sich auf das Fremde in der Natur richtet, die zufällige Begegnung und so wird das eigentliche Picknick zu einem Gefängnis, von dem man sich allerdings sehr leicht befreien kann. „Niemand hört dich schreien!“, wird jetzt zur Verlockung, aber auch zur Unmöglichkeit. Denn der Schritt von dieser Lust zu ihrer Erfüllung ist in der Natur erschwert. Wir denken an die schwitzende Nervosität einer kaputten Beziehung in Maren Ades Alle Anderen, an die unheilvolle und tragische Einsamkeit von McTeague in Von Stroheims Greed. Als seine Liebe ihn fragt, ob er nicht auch immer so viel Hunger bekommen würde bei einem Picknick, entgegnet er, dass er noch nie bei einem gewesen sei. Es wird sein schönster Tag werden, aber auch der Beginn des Unheils. Denken wir an den kurzen Frieden in Bonnie and Clyde beim Familienpicknick. Die lauernde Gefahr, die dauernde Impotenz. Ein Picknick im Film darf meist nicht einfach schön sein. Es passt sehr gut, wenn George Clooney in The American von Anton Corbijn Schießübungen in der Idylle macht, Blumenstaub hechelt wie ein Echo der Gewalt durch die tödliche Natur, der Ort des Picknicks ist hier tatsächlich zugleich jener der Liebe, der Verlockung sowie der Gewalt und des Todes. Denken wir auch an die vergängliche Flucht vor einer nicht entfliehbaren Profession in Bertrand Bonellos L’Apollonide (Souvenirs de la maison close), in dem wieder die weiße Unschuld, die grüne Natur vom Schatten einer tödlichen und brutalen Lust verfolgt wird.

Picnic at Hanging Rock3

Picnic at Hanging Rock von Peter Weir

Hier muss man natürlich die große Ausnahme nennen, einen Mann, der mich und meine Angst vor dem Picknick immer wieder therapiert. Es ist Jonas Mekas, in dessen Filmen fast immer irgendwann irgendwer in einer Wiese sitzt mit einer Flasche Wein in der schönen Welt und mit den Bildern um sich verschmilzt, hier kann man sich tatsächlich Zurücklehen, egal ob am Ende der Welt oder im Central Park. Dann gibt es da diese Filme, die sich unabhängig davon, ob sie ein Picknick beinhalten oder nicht, immerzu so anfühlen, als ob sie der Traum eines friedlichen Picknicks wären, kleine verspielte Landpartien in der Natur. Help von Richard Lester, Amarcord von Federico Fellini oder In another country von Hong Sang-soo wären hier zu nennen. Aber der Behaglichkeit dieser Filme ist kaum zu trauen, denn es ist ja jene Behaglichkeit, die in den anderen Filmen erst der Ausgang oder besser Eingang des Schreckens ist. Wenn es nicht diese Illusionen einer Picknick-Harmonie gäbe, dann wäre die Fallhöhe nicht so groß.

Daher kann man natürlich auch bewaffnet zu einem Picknick kommen wie in Leviathan von Andrey Zvyagintsev. Aber selbst diese Bewaffnung kann nicht gegen die Bedrohung standhalten, denn wie der russische Filmemacher zeigt, sind die spontanen Regungen eines solchen Picknick-Dramas oft deutlich vehementer und brutaler als die abstrakten Gründe für diese Verlorenheit in der Felslandschaft dieser Erde. Wieder ist es der Druck einer Lust, einer Lust des Verborgenen, die man deshalb ausleben kann, weil man eben so vieles sehen kann und darin so tief verschwinden kann. Und in dieser Umgebung, in der Gewalt eben nicht nur von außen sondern auch von innen kommen kann, ist eine Bewaffnung womöglich fatal. In Short Cuts folgt prompt ein Erdbeben und beendet dieses Spiel, als wäre das Grauen einer Naturkatastrophe ein Ausgleich für das Grauen des Picknicks. Oh, diese Körper beim Picknick, das Essen, die Natur, die Stille, das Fleisch, die Ameisen. Es geht eine hypnotische Zärtlichkeit davon aus, in der man sich verlieren kann trotz ihrer Gefahr und jetzt verstehe ich auch meine Angst vor einem Picknick, denn ein Picknick ist durchaus wie ein Blick in die Pupillen einer Eule. Das flirrende, schwüle einer Begegnung am Wegesrand, das Gras neigt sich, der Himmel ist immer hell, ein Lächeln verdeckt von der Sonne selbst. Man muss sich nur die Picknicks in Blissfully Yours von Apichatpong Weerasethakul vor Augen halten. Hier findet ein Gefühl jenseits der Figuren statt. Es liegt im Abstand der verlangenden Gesichter und Körper beim Picknick, in den roten Ameisen, die über das Essen klettern, es liegt im Sex, der mit dem Essen kommt; alles ist hier ein Tanz zwischen der Anziehung und dem Ekel, dem Horror der Unschuld, dem unschuldigen Horror, dem Dahintreiben in der Liebe und Sterblichkeit zugleich. Man hat irgendwann keine Kraft mehr bei einem Picknick. Man liegt nur noch dort und weiß nicht mehr wie man zurückkommen soll. Wohin zurück? Die Natur übernimmt hier, weil Weerasethakul sie hineinlässt. Bei ihm wirkt es nicht so als würden Menschen in die Natur gehen sondern als würde die Natur durch die Menschen gehen. Blissfully Yours ist der ultimative Picknickfilm, er macht das Gefühl und die Unsicherheit eines Picknicks spürbar, aber er geht noch einen Schritt weiter, denn die Stille ist hier nicht nur die Gewalt und Lust, sie ist auch die Sehnsucht und die Sterblichkeit.

Blissfully Yours von Apichatpong Weerasethakul

Blissfully Yours von Apichatpong Weerasethakul

Es ist daher keine Überraschung, dass der Tod auch in Victor Sjöströms Körkarlen bei einer Art Picknick kommt. Die drei Freunde sitzen in der Nacht mit Wein und Zigaretten am Wegesrand. Es ist zugegeben kein wirkliches Picknick, aber die Nacht hält die gleiche Verlorenheit und Einsamkeit in der Stille bereit wie die Natur. Und da das Picknick eine Sache der Nacht am Tag ist, ist sie auch eine Sache des Kinos. Und so erhebt sich in Stalker von Andrey Tarkowski, der auf Picknick am Wegesrand von Arkadi und Boris Strugazki basiert, das Picknick auf seine Vergangenheit, auf etwas, was wir endgültig nicht mehr greifen können. Denn es sind die Spuren einer Landpartie, die Zone und ihre unsichtbare Gewalt, ihr unsichtbares Gefühl, das hier lenkt. Die Zeit wird außer Kraft gesetzt und das Fremde trifft endgültig auf mich. Rührt daher meine Angst? Ist es eine Angst vor dem Unbekannten, weil man bei einem Picknick immer das Vertraute, das Begehrte und das Eigene in eine fremde Umgebung bringt? Muss ich mich diesem Fremden stellen wie in Walkabout? Oder muss ich eher das Fremde in mein Begehren lassen, damit ich mich nicht mehr fürchten muss?

Partie de campagne von Jean Renoir

Partie de campagne von Jean Renoir

Three Men of Wisconsin: The Intimate Stranger und Eva von Joseph Losey

Die große, überraschte Begeisterung über die beiden äußerst gelungenen Werke The Prowler und The Criminal von Joseph Losey ist schon wieder verflogen. Man bemerkt einfach mal wieder, wie sich der Eindruck, den man von einem Filmemacher hat, während einer Retrospektive schlagartig verändern kann. Nach dem langweiligen Blind Date standen mit The Initimate Stranger und Eva zwei weitere problematische Filme auf dem Programm, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen. Beide Filme handeln gewissermaßen von den Geheimnissen und Nicht-Geheimnissen von mehr oder weniger erfolgreichen Filmschaffenden (im ersten Fall ein Cutter become Producer und im zweiten Fall ein Autor). Losey drückt den beiden Figuren seine bekannte Portion Ambivalenz in die Handlungen, sie sind beide schuldige Opfer, wenn man so will. Dabei spielen in beiden Fällen geheimnisvolle Frauen eine entscheidende Rolle. Sie eröffnen einen psychologischen Kampf zwischen den leidenschaftlichen Abenteuern und der häuslichen Ehe, die in diesen Fällen eng an eine erfolgreiche Karriere geknüpft ist. Stilistisch könnten die beiden Werke unterschiedlicher kaum sein. Sie zeigen, wie sich Losey in verschiedenen Phasen seines Schaffens mit ganz ähnlichen Stoffen befasst hat.

Eva Jeanne Moreau

Eva

The Intimate Stranger, der in seiner amerikanischen Vorführkopie unter dem Titel Finger of Guilt im Österreichischen Filmmuseum zu sehen war, wählt für diese Konflikte das Muster eines bescheidenen Noir-Films. Wie viele Filme in der Schau, liegt ein Schatten über der Produktions- und Distributionsgeschichte des Films, in diesem Fall ist es wieder die Schwarze Liste, die nicht nur dafür sorgt, dass einige Crewmitglieder unter Pseudonymen im Vorspann auftauchen, sondern auch dafür, dass der bekennende Linke Losey gar nicht als Regisseur aufgeführt wird, sondern Produzent Alec C. Snowden. Auch führt dieser Hintergrund dazu, dass man die Geschehnisse des Films und manchen Dialog durchaus als Kommentar auf die persönlichen Situationen von Drehbuchautor Howard Koch und eben Losey verstehen kann. Es geht um einen Filmschaffenden, der aufgrund eines Skandals in Hollywood nach England flieht, um dort als Produzent Fuß zu fassen. Er heiratet die Frau des Studiobosses und ist mitten in den Arbeiten zu seinem ersten Film, als ihn plötzlich geheimnisvolle Briefe einer unbekannten Frau (Howard Koch war auch der Drehbuchautor von Letter From an Unknown Woman und wenn man nett sein will kann man sagen, dass er mit ähnlichen Motiven spielt) erreichen und nicht nur seine Arbeit in Frage stellen. The Intimate Stranger ist einer jener Filme, deren komplettes dramaturgisches Konzept auf dem Zweifel beruht. Zweifel an der Wahrheit, Zweifel an den Figuren, Zweifel daran, dass wir alles gesehen haben. Das Begehren eines neuen Lebens hängt immer an den Schatten der Vergangenheit. Die im amerikanischen Kino jener Zeit so beliebte Flashback-Struktur erlaubt einen erträglichen Umgang mit dieser Flucht vor der Vergangenheit. Allerdings wirkt der Film stellenweise unheimlich müde. Losey, der gerne in Halbtotalen inszeniert, als wäre sein Kino in den Anfängen des Erzählkinos steckengeblieben (das ist natürlich extrem zugespitzt, denn seine leichten Schwenks können in anderen Filmen auch durchaus einen spannenden Umgang mit Framing, Perspektive und Off-Screen erzeugen), treibt es hier auf die Spitze. Unmotivierte Blicke in Räume, in denen ohne besondere Bewegungschoreographie, ohne spannendes Set-Design oder sonst irgendwelcher Elemente, Dialoge herunter gesprochen werden. Zudem fällt der fast durchgehende Verzicht auf ein Sounddesign auf, der uns wohl dabei helfen soll, dass wir uns auf das Drama fokussieren und nicht doch zufällig von der Welt um das Drama herum abgelenkt werden. Nichts ist wirklich schlimm, alles ist sehr unbedeutend. In dieser Neutralität verliert sich auch die durchaus gegebene Möglichkeit, Spiele mit der Erzählperspektive oder der Wahrnehmung zu treiben. Das ändert sich in den letzten Minuten des Films, die plötzlich zu einem expressionistischen Reigen mit doppelten Boden und Meta-Ebene werden. Ein wahrhaft wachrüttelnder Move, den Losey hier wagt. Eine Maschinengewehr-Attrappe, ein herrlich ambivalenter Zeitlupenkuss, eine Frau rennt durch ein dunkles Filmstudio. Plötzlich sehen wir das Leiden in den Gesichtern, der Film entwickelt jene Notwendigkeit, die ihm die gesamte Laufzeit zuvor gefehlt hat.

The Intimate Stranger

The Intimate Stranger

Notwendigkeit ist dann auch das Stichwort, wenn man sich mit Eva beschäftigt. Dort kann man Losey mit Sicherheit nicht vorwerfen, dass er einen müden Stil wählen würde, denn alles ist hier im Hochglanzlook des europäischen Kunstkinos gehalten. Referenzen zu Filmen von Antonioni, Fellini oder Resnais inklusive, ein Fest für die Augen, das nicht müde, aber schnell ermüdend wirkt, da es auf einer unheimlichen Leere gebaut ist, also nicht notwendig ist? Es ist ein schwieriges Thema, denn ich bin der festen Überzeugung, dass Gustave Flaubert Recht hatte, als er Stil nicht als die Verzierung eines Diskurses bezeichnete, sondern als eine Art, die Welt zu sehen. Das bedeutet, dass Stil natürlich jenseits des Inhalts eine Bedeutung hat. Immer wieder bemerke ich in Diskussionen, dass diese Ansicht nicht von jedem geteilt wird. So wird Filmemachern wie Nuri Bilge Ceylan (zum Beispiel sein Climates) oder Andrey Zvyagintsev (zum Beispiel sein Leviathan) vorgeworfen, dass ihr Stil eine leere Hülse ist, der verdeckt, dass darunter eigentlich nichts ist. Ich konnte und ich werde das nie teilen, denn zum einen ist bei den beiden etwas „darunter“ und zum anderen erzählt ihr Stil, selbst wenn er sich bei großen Meistern der Vergangenheit bedient, schon mehr als Inhalt überhaupt könnte im Film. Warum lasse ich mich dann mit Eva von Joseph Losey, der zum ersten Mal in Österreich in seinem Director’s Cut, ermöglicht durch das Niederländische Filmmuseum gezeigt wurde, zu einer ganz ähnlichen Feststellung hinreißen?

Vielleicht liegt es daran, dass Stil für mich ganz nah am Begriff der filmischen Form liegt. Und formal ist Eva mindestens genauso flach wie inhaltlich. Die einzelnen Bilder, die allesamt äußerst schön sind, fügen sich weder zu einer größeren Wahrheit, noch zu einer filmischen oder formalen Wahrheit zusammen. Es gibt kaum durchgehaltene Motive in der Form, keine Sinnlichkeit oder Bedeutung, die sich über das Zusammenspiel der Bilder und Töne generiert. Alles existiert nur, weil es schön ist und damit kann man den Film erschreckenderweise durchaus mit Ryan Goslings Lost River vergleichen, über den ich kürzlich schreiben musste. Ein Filmemacher ist hier begeistert von einer gewissen Attitüde, einem gewissen Stil, aber er hat überhaupt keine Mittel, um diesen wirklich umzusetzen, zumal ihm auch der passende Inhalt fehlt, denn in Eva geht es schlicht um eine noirige, banale Dreiecksgeschichte vor dem Hintergrund des Filmbusiness. Das Setting (Venedig, Rom) ist hier das Setting, weil es gut aussieht. Überall gibt es Masken, Kostüme und Statuen, aber weder im Exzess wie bei Orson Welles und seinem Confidential Report, noch über die oberflächliche Wirkung hinaus, dass es sich hier eben um Geheimnisse und Betrügereien geht.

Im Zentrum des Films scheint zunächst der fragwürdige Erfolgsautor Tyvian Jones (Stanley Baker, Mastroianni ohne Brille, mit England) zu stehen, der verloren und betrunken in Venedig dahinvegetiert, ein Mann, der von seinem Sexualtrieb gesteuert wird. Doch bald schon wird klar, dass das eigentliche Zentrum des Films seine große Versuchung Eva sein wird, genauer: Jeanne Moreau, deren Figur und vor allem die Art wie diese Figur gefilmt wird, das ganze Problem des Films in sich trägt. Tyvian lässt sich von der kalten Frau verführen und setzt damit seine Beziehung zu Francesca (Virna Lisi)und früher oder später auch seine erbärmlichen Geheimnisse aufs Spiel. Nun ist es so, dass sich Jeanne Moreau mindestens 50mal im Film freiheitsbetonend durch ihre Haare fährt, sich ständig lasziv um sich wendet, eigentlich zu einer Parodie weiblicher Versuchung verkommt und in mancher Hinsicht von sich selbst. Vielleicht hat Losey versucht, mit Moreau das Spiel von Catherine Hessling in Nana von Jean Renoir zu kopieren? Je länger Losey sie filmt, desto mehr Seele raubt er dieser Figur und dieser Schauspielerin. Er scheint einer Art cinephilen Notizbuch zu folgen, indem alle Ideen dafür stehen, wie man Jeanne Moreau besonders gut aussehen lassen könnte. Ja, ich sehe, dass man damit kein Problem haben muss, aber die wahre Größe dieser Darstellerin wird dadurch auf eine derart platte Oberfläche reduziert, die eben beweist, dass Begehren im Film nicht über Offenbarung erzeugt wird, sondern über Zurückhaltung. In Eva hat man das Gefühl, dass Losey sich zu sehr in der Rolle des italienischen Kunstfilmers gefällt, eine Rolle, die er zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht spielen kann.

Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

Horse Money

Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

Horse Money Pedro Costa

Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

Kindkind Dumont

In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.

Viennale 2014: Leviathan von Andrey Zvyagintsev

Größe ist natürlich nicht nur ein Gestus, aber manchmal ist der Gestus mit einer Haltung zur Welt verbunden, die eine Größe voraussetzt. Leviathan von Andrey Zvyagintsev (nicht zu verwechseln mit der innovativen, ethnographischen Schwindel-Poesie Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel ) beginnt mit epischen Bildern eines brechenden Ozeans, dazu hört man ein symphonieartiges Treiben aus der Feder von Philip Glass, eine Macht, eine Urgewalt, die vom Ozean ausgeht, wie von der Härte und nüchternen Kälte Russlands und seiner Gesichter. Leviathan ist eine biblische Parabel und ein Politthriller mit satirischen Elementen. Im Zentrum der Handlung steht Kolia, der wie Hiob nach und nach auseinandergenommen wird. Nur ist es hier nicht unbedingt der Glaube, der ihn retten kann, sondern der Glaube der ihn vernichtet. Und sein Prüfer ist nicht Gott sondern ein korrupter Staat, der in alkoholischen Machtanfällen mit einer Angst regiert, die Schönheit vernichtet. Es treiben riesige Skelette an den vertrockneten Ufern, alte zerstörte Fischkutter, die Ruine einer Kirche. Zvyagintsev ist ein Freund der göttlichen Perspektive, seine Kamera bewegt sich elegisch und völlig unberührt über die Kraterlandschaften fast gemalter Gesichter einer sterbenden Hoffnung. Kolia lebt zusammen mit einer Frau, die so schön ist, dass man sie töten muss und einem Kind aus seiner ersten Beziehung. Bürokratische Machenschaften machen ihm durch unübersichtliche, in unfassbarer Geschwindigkeit vorgetragene Gesetze sein Eigentum, ein wundervolles Holzhaus am Ufer einer Geschichte streitig. Da Haus ist nicht das einzige was Kolia womöglich verliert. Er ist ein Bauernopfer dieser Welt. Dabei forciert Zvyagintsev die Themen von Schuld und Loyalität bis zu ihrer philosophischen Rasierklinge, das Blut rinnt schon über den Film und dahinter könnte irgendwo eine Liebe stecken oder sagen wir eine Sehnsucht. Beziehungen sind hier Missverständnisse, sie sind wütend, voll kalter Leidenschaft und doch mit einem brutalen Herz, das sich in Besäufnissen an seiner eigenen Melancholie erstickt. Es wird getrunken und geschossen und betrogen.

Leviathan Film

Auch der Ton ist hier elegisch, das Flügelschlagen von Eismöwen am Horizont, der Wind und das Knistern von Holz. Immer verharrt die Kamera noch einen Augenblick länger an den Orten, sie fährt noch einige Meter in den Raum, verlässt ihn, betrachtet ihn gleichgültig. Aber irgendwas passiert da, so etwas wie Schicksal oder politische Ungerechtigkeit. In beiden Fällen ist man wehrlos wie die Schweine, die den Dreck essen. Das Fischerdorf wird in all seiner hässlichen Schönheit in Perfektion inszeniert, nüchtern und doch betrunken. Immer wieder kommt es zu satirischen Szenen. So schießen Figuren plötzlich auf Abbilder von Politikern. Dabei fehlt aber manch aktueller Täter, der anderswo die Wände ziert. Ein Betrunkener bemerkt: Dafür fehlt noch die historische Distanz…der Alkohol lässt einen nur so lange lachen bis es noch schlimmer wird in Leviathan. Dann ist da jene Frau, Lilya, ein weißer Geist mit kristallenen, glänzenden Augen. Sie wandelt zwischen totaler Schuld und absoluter Unschuld, aber wenn man einmal schuldig war, dann kann man nicht mehr unschuldig sein.

Die Macht ist eine Aggression in Leviathan, keiner scheint sich so recht helfen zu können, alle sind wie gesteuert von einem fehlgeleiteten Selbsterhaltungstrieb, der im Endeffekt nur den Frieden zerstört. Desolate Bilder einer verschwundenen Welt. Ein Schimmer einer unliebsamen Wahrheit. Es ist der Blick zur Decke in der Kirche, der als doppelter Moment im Film auftaucht und auch ein derartiges Echo kreiert. Einmal ist dies ein narrativer Moment, als das Kind am Ende zur Decke blickt, zeigt es, dass die Kirche wieder steht (welch fataler Brutalität!), andererseits vollführt diese Einstellung sozusagen das Kunststück ein Erinnerungsbild zu sein, weil man die Ruine fast über den Neubau legt, also schon das Ende im Anfang mitsingen hört. Die Dichotomie von persönlicher Freiheit und der Funktionalität eines Staates findet sich in allegorischen Versatzstücken auch in der Ehe, der Religion, in der Natur und im Wesen des Kinos. Am Ende muss man wegsehen oder gehen, aus Angst, aus Liebe oder weil man gezwungen wird.