The Last Syllable Of Recorded Time: La fin du monde von Abel Gance

„Und so nähern wir uns jetzt der heiligen Zone, dem Gebiet des großen Wunders. Hier ist die Materie geformt, ins Relief einer Persönlichkeit gegossen; alle Dinge erscheinen, wie ein Mensch sie träumt; die Welt ist so geschaffen, wie du sie dir vorstellst; sanft, wenn du sie sanft denkst; hart, wenn du glaubst, sie sei hart. Die Zeit eilt voran oder zieht sich zurück oder hält inne oder wartet auf dich. Eine neue Realität ist eröffnet, eine festliche Realität, die nicht derjenigen der Arbeitstage entspricht, so wie diese ihrerseits mit den höheren Gewissheiten der Poesie nichts zu tun hat. Das Gesicht der Welt mag uns verändert erscheinen, da wir, die wir die Weltbevölkerung der fünfzehnhundert Millionen ausmachen, nunmehr durch Augen sehen können, die gleichermaßen von Alkohol, Liebe, Freude und Leid berauscht sind; durch die Linsen jeder Art von Verrücktheit, Hass und Zärtlichkeit; da wir den klaren Fluss der Träume und Gedanken sehen können; das, was hätte gewesen sein können oder sollen; das, was war sowie das, was niemals gewesen ist, noch je kommen wird; die geheime Form der Gefühle, das beängstigende Gesicht der Liebe und der Schönheit; mit einem Wort, die Seele. Die Poesie ist also wahr, und sie existiert, wahrhaftig wie das Auge.“ (Jean Epstein aus Le Cinématographe vu de l‘Étna)

vlcsnap-2016-01-25-22h04m06s950

In La fin du monde ist das drohende Ende der Beginn eines Krieges und der rettende Anfang das Ende der Welt. Es ist ein Film der Gleichzeitigkeiten, der gleichermaßen nach Gleichheit schielt und in diesem Schielen den Beginn des französischen Tons im Film und das Ende des seinerzeit größten Filmemachers des Landes einläutete. Der Film beginnt schon mit dem heiligen Blick zurück, mit Bach und dem virtuosen Rhythmus der Montage der Gefühle während einer Kreuzigung, die keinen Ton braucht, weil die Gesichter stumm derart laut sprechen, dass man sich die Ohren zuhalten möchte, um den Schmerz und die Freude zu ertragen. Die Tränen in den Augen sind das ewig erklingende Echo des Stummfilms, weil sie mehr sprechen als Sprache. Gance, der mit diesem Film nicht fertig wurde, weil die Produzenten ihn nach zwei Jahren und Unsummen an ausgegebene Geld stoppten (es war nicht das einzige Mal), zeigt uns die pure Kraft der Illusion und ihre zunächst überwältigte, dann gelangweilte Realität im Zuschauerraum. Dabei unterscheidet er bereits zwischen einem Oben und Unten, das er später wie alles andere auch zusammenführen will. Eine Gesellschaft der Lust und eine Gesellschaft der Notwendigkeit. Und wer würde sich mit Spiritualität beschäftigen, wenn es Lust und Unterhaltung gibt, scheint Gance zu fragen. Hier die Tränen eines blinden Glaubens, dort der Zynismus über das Aussehen der Darstellerin der Maria Magdalena. Später, wenn die einen in der Kirche das Ende der Welt begehen, feiern die anderen eine Orgie sondersgleichen, deren Produktionsgeschichte fast an Erich von Stroheims Eskapaden erinnert mit hunderten Darstellern aus Paris und viel Alkohol.

vlcsnap-2016-01-25-19h28m11s714

Kurz bevor die Zyniker in diesem Theaterprolog den Glauben vernichten, fährt die Kamera langsam zurück und offenbart, dass die Kreuzigungsszene nur eine Szene ist. In der Rolle des Jesus in dieser Passion: Abel Gance selbst, ein Poet, ein Prophet, ein Glaubender. Aber auch ein Schauspieler. Dennoch ist alles an dieser Szene und an Gance real. In der Folge wagt der unfertige Film den Versuch, diese Illusion mit der Realität gleichzustellen. Gance tut dies in einer Bewegung, die derart fest an die universale Kraft von Poesie glaubt, dass er dabei gleich einer Welle alles überfahren wird, sodass bestenfalls nur das Licht bleibt, das aus den Körpern geflohen ist und sich nun in den Zuschauerraum erstreckt. Es ist ein gefährliches Spiel, das in der Zerstörung auch eine Reinigung sieht. Diese Reinigung ist die Sache eines Kometen, der sich auf Kollisionskurs mit der Erde befindet (Lars was watching). Der Wissenschaftler Martial Novalic versucht die Angst der Weltbevölkerung zu nutzen, um neue humanistische Maßstäbe zu etablieren, die zum einen den drohenden Weltkrieg stoppen und zum anderen in Zukunft ein anderes Zusammenleben ermöglichen. Dagegen kämpfen die Regierungen mit allen Mitteln und versuchen lange Zeit den Wissenschaftler als Lügner zu entblößen. Wie ein Gewissen schwebt Martials Bruder Jean durch den Film, gespielt von Gance selbst gibt er sich einem Spirtualismus der Ewigkeit hin, der jenseits dieser Panik eine neue Unendlichkeit entdeckt, die nicht an sein Fleisch gebunden ist, sondern an seine Seele. Diese kierkegaardsche Gleichzeitigkeit von Endlichkeit und Unendlichkeit, Fleisch und Seele kennt hier eine Polyphonie von Ausdrücken, die sich letztlich im Rausch überwältigender Töne manifestiert, die trotz des unfertigen Zustandes im Film fortleben.

vlcsnap-2016-01-25-19h22m30s362

Dabei ist diese technische Gleichzeitigkeit eine, die kaum jemand je vernehmen durfte. Gance entwickelte für La fin du monde ein stereophones Tonsystem (perspecta sonore) und sprach davon, dass der Ton im Film eine ähnliche Erweiterung der Möglichkeiten des Kinos darstellen sollte, wie die drei Leinwände, die es für eine richtige Projektion seines Napoléon bedarf. Es gab wohl keine oder nur sehr rare Screenings mit diesem System. Doch auch darüber hinaus platzt der Film mit räumlichen und zeitlichen Gleichzeitigkeiten, die mal als Gegensätze, mal als Parallelen arbeiten, aber immerzu auf eine Synthese gehen, eine hysterische Synthese des Friedens, der irgendwie gleichermaßen faschistisch und kommunistisch scheint, ein Frieden der Poesie, die keine Grenzen kennen will. Der Film trägt den Enthusiasmus der Texte des Gance-Bewunderers Jean Epstein (der vor allem die Stummfilme von Gance liebte) wie eine Flamme vor sich, an der man sich verbrennen muss, weil dieses Verbrennen so wundervoll ist. Hier glaubt jemand an das Kino wie man seit Jahrzehnten nicht mehr an das Kino glauben kann. Immer wieder führt Gance die Welt in ein enges Kuddelmuddel. Zunächst gelingt ihm dies über seine superschnellen Montagetechniken, die den Raum derart dynamisieren, dass nichts von ihm übrig blaubt außer dem Fluss seiner Formen, die sich ineinander schlingen wie zwei Liebende im Rausch der Gefühle. Aber diese Montage vermag auch die Liebe zu brechen, weil sie uns im Augenblick einer verlockenden Zärtlichkeit den eifersüchtigen, leidenden Blick eines Dritten zeigen kann oder im Moment des Triumphs den Schmerz der Verlierer. Eine andere Methode, die es hier wie für einen frühen Tonfilm typisch eher selten gibt, ist jene der Bewegung. Die Kamera entblößt dennoch immer wieder mit Schwenks oder Fahrten, was sich im gleichen Atemzug abspielt. Gance arbeitet weit weniger mit POV-Shots, als mit einer gottesähnlichen, allumfassenden Perspektive der Wahrheitssuche. Es half sicher, dass einer seiner vier Kameramänner Roger Hubert war, der nicht nur an seinem Napoléon arbeitete, sondern sich später auch für die bemerkenswerten Fahrten in Jean Renoirs La chienne verantwortlich zeigte. (und das ist nur ein Hauch dessen, was dieser Mann vollbrachte).Außerdem macht Gance (oder das, was man von seinem Film übrig ließ) heftigen Gebrauch von sprühenden Doppelbelichtungen, sei es im Feuerwerk, in wissenschaftlichen Prozessen oder in der Sehnsucht zweier überlagerter Gesichter. Fast beiläufig gelingt Gance dabei auch ein Film über die Globalisierung, die Globalisierung von Angst, die wir heute nur zu gut kennen. Sie überträgt sich über Schnitte, Blenden und Kamerabewegungen.

vlcsnap-2016-01-25-19h19m19s052

Passend zur globalen Angst spielt ganz wie in René Clairs Paris qui dort auch der Eiffelturm eine zentrale Rolle. Es ist seine Funktion als Medium der Gleischaltung, das somit auch das essentielle Medium der Macht in diesem Werk ist. Außerdem ist er Symbol für jene Modernität, die im Film in Konflikt mit der Spiritualität steht bis Gance auch diesen Gegensatz aufhebt. Und so erklingen spirituelle Töne aus den Apparaten der Moderne. In ähnlichen Bahnen bewegt sich der hier nur scheinbare Gegensatz von Wissenschaft und Poesie, der alleine schon deshalb obsolet scheint, weil der Autor der Vorlage, Camille Flammarion im Feuer dieses Widerspruchs zwischen positivistischer Forschung und Mystizismus existierte. La fin du monde ist dies jederzeit anzumerken, was auch daran liegt, dass nicht nur Gance dem Kino genau diese Gleichzeitigkeit von Illusion und Dokumentation als große Qualität zuschreibt. Er verwendet hierzu das Bild zweier Brüder (der Poet und der Wissenschaftler) mit den gleichen Augen.Geneviève, die ganz den Gesetzen eines kaum vorhandenen Melodrams folgend zwischen den beiden Parteien (den Spirituellen, nach Frieden suchenden und den Zynikern, nach Freude suchenden) steht, soll in den Augen des einen den anderen sehen. Es ist absolut logisch, dass Gance zunächst Antonin Artaud in der Rolle des Wissenschaftlers Martial Novalic besetzte. Ein fanatischer Poet, der an die Reinigung der Welt glaubt in der Rolle eines dokumentarischen Wissenschaftlers: hier wäre Artaud das Kino gewesen, aber er hasste den Tonfilm zu sehr, um mitzumachen. Der helle Komet am Himmel erscheint dennoch in einer perfekten Illusion, ganz ähnlich wie in August Bloms grandiosem Verdens Undergang. Es sind dies Spezialeffekte, die im Fall von Blom ein Jahrhundert nach ihrer Herstellung nichts von ihrer Wirkung verloren haben. Vielleicht weil die Poesie bleibt, auch wenn die Technik stirbt?

vlcsnap-2016-01-25-18h24m24s116

Was Gance dann macht am Ende dessen, was von seinem Film geblieben ist, ist die schiere Explosion seiner zuvor angedeuteten Poesie. Doch ist das Kino hier ein Medium der Zerstörung, der Reinigung, der Gleichschaltung? In unfassbar real wirkenden Bildern von durch den Kometen ausgelösten Ereignissen auf aller Welt zeigt Gance vor allem, dass er an das Kino glaubt, obwohl oder gerade weil es gefährlich ist. Lichter sprühen durch Körper, die ihr Funkeln verlieren, es ist ein Tanz der Seelen. Man sieht Palmen in einem Sturm, Rehe rasen durch das Bild, ein Baum fällt, dann wieder dieser Komet und die schallende Drohung auf Endlosschleife: Es bleiben 32 Stunden!  Es gibt eine Hysterie der Lust, des Lichts und des Glaubens, die sich vereinigen in einer Zukunfstgerichtetheit, in der eine universelle Weltordnung greifen soll. Dabei entsteht ein filmischer Körper gegossen ins Relief von Abel Gance, ein filmisches Wunder. Kritisch könnte man bemerken, dass in dieser Synthese aus zeitgenössischer Sicht ein politisches Tabu berührt wird, aber die Weltordnung von Gance ist eines des Kinos, in der sich das Notwendige mit dem Überdrüssigen vereint, eine in der aus der Poesie des Filmischen ein neues Bewusstsein geöffnet wird, spirituell und groß. Es ist nicht die Schuld von Gance, dass man ihm heute nicht mehr ganz folgen kann in diesen Enthusiasmus, aber ihm verdanken wir, dass man im ewigen Echo der Tränen vor diesen Bildern und Tönen verharrt und so stark spürt wie kaum sonst, was möglich gewesen wäre, was möglich gewesen wäre, was möglich gewesen wäre.

Kraków, Kubrick, Wajda

Das Nationalmuseum in Krakau

Im Muzeum Narodowe w Krakowie (Nationalmuseum Krakau) ist zur Zeit eine große Ausstellung zu Stanley Kubrick zu sehen. Glücklicherweise war das Wetter schlecht genug, dass ich meinen Reisepartner davon überzeugen konnte das polnische für den Moment links liegen zu lassen und dieser Ausstellung unsere Zeit zu widmen.

Der Eingang des Nationalmuseums in KrakauDas Museum selbst ist bereits eine Erwähnung wert, denn es handelt es sich dabei um einen riesigen Betonklotz, der verdächtig nach kommunistischer Protzarchitektur aussieht – manch einer würde das als hässlich bezeichnen, ich finde es hat speziellen Nostalgie-Chic – darin finden sich auf drei Stockwerken eine Reihe von verschiedenen Ausstellungen zum Thema Kunst und (Zeit-) Geschichte. So kann man sich nach einem Abstecher zu Kubrick noch der Filmplakatsammlung zu Andrzej Wajda, der Ausstellung zum ersten Weltkrieg oder der Ausstellung von polnischer Kunst des 20. Jahrhunderts einen Besuch abstatten.Stanley Kubrick ist selbst für nicht-filmaffine Menschen ein Name, den man zumindest schon einmal gehört hat (und dass er mit Filmen zu tun hat). Zumindest Menschen, die alt genug sind, dass sie seine Filme noch bei deren Erscheinen miterlebt haben, kennen auch seine größten Erfolge, wie 2001: A Space Odyssey oder The Shining. Kurz, Kubrick (wie zum Beispiel auch Hitchcock) spricht eine breitere Masse als das cinephile Kernpublikum an. Das heißt eine Ausstellung über sein Werk, darf nicht nur Spezial- und Hintergrundwissen vermitteln, sondern muss den Besucher „abholen“. Für mich hieß das, dass ich einige der Panele mit den Lebensdaten und Basisinformationen überspringen konnte (respektive meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen). Danach offenbarte sich allerdings ein kleines cinephiles Wunderland. Von Killer’s Kiss über A Clockwork Orange hin zu Eyes Wide Shut wurde Kubricks Karriere in Filmen aufgeschlüsselt und jedem ein eigener Bereich gewidmet. Neben Hintergrundinformationen zum Film gibt es dort Dokumentationen, Filmausschnitte, Requisiten, Storyboards, allerlei Skizzen und Setfotos zu sehen. Auf den ersten Blick mag das wenig weltbewegend klingen, aber spätestens wenn man vor der Originalschreibmaschine von Jack Torrance steht überkommt einen die cinephile Wonne. Dieses Prop war mein Lieblingsausstellungsstück – dicht gefolgt von einem (wie ich finde) genialen Plakat zu Eyes Wide Shut und einem Replika-Kostüm von Alex DeLarge aus A Clockwork Orange.

Schreibmaschine aus "The Shining"Alternatives Plakat zu "Eyes Wide Shut"Kostümreplika aus "A Clockwork Orange"Beethoven-Poster aus "A Clockwork Orange"Redrum - "The Shining"

Wie Institutionen wie das Österreichische Filmmuseum immer wieder betonen ist es nicht im Sinne eines Filmmuseums die Materialien und Requisiten eines Films auszustellen, da in einem Kunstmuseum auch nicht Picassos Pinsel ausgestellt sind. Dieser Auffassung kann ich mich zwar im Kern anschließen, allerdings fand ich es sehr erleuchtend und lehrreich eine Ausstellung, wie jene Krakau zu besuchen. Abgesehen vom Schauwert der Originalrequisiten wie der eben erwähnten Schreibmaschine oder den Masken aus Eyes Wide Shut, bekommt man ein besseres Gefühl für die Arbeitsweise eines Stanley Kubrick, wenn man mit seinem randvollen Bücherschrank mit Recherchematerial zu Napoleon (Recherchematerial, dass er tragischerweise nie in sein Napoleon-Projekt umsetzen konnte), oder mit einer vorläufigen Shooting Schedule für The Aryan Papers konfrontiert wird. Natürlich stehen die Filme als Kunstwerke im Zentrum, aber genauso, wie man über Picassos Arbeitsweisen lernen kann, wenn man seine Pinsel studiert (tut man das?), kann man mehr über Kubrick erfahren, wenn man sich seiner Materialien annimmt und Setfotos, Storyboards und Production-Design-Skizzen ansieht. Für Filminteressierte ist das sogar beinahe ein Muss, umso mehr, und hier zeigt sich, dass die Filme im Mittelpunkt stehen, wenn einem Kubricks Oeuvre bereits bekannt ist.

Eine Maske aus Kubricks Neben der großen Kubrick-Ausstellung gab’s im gleichen Museum noch eine andere Ausstellung mit Filmbezug zu sehen: Filmposter zu Andrzej Wajda-Filmen. Diese Poster machten mehr Eindruck auf mich als die Ausstellung Polnischer Kunst des 20. Jahrhunderts nebenan (obwohl ich ein großer Fan der Kunstrichtungen dieses Jahrhunderts bin), ich würde sogar so weit gehen, das Plakat zu „Kanal“ als künstlerisch interessanter zu bezeichnen, als jedes beliebige Werk in der Ausstellung – ein avantgardistisches Meisterwerk.

Darüber hinaus ist es natürlich auch interessant die unterschiedlichen Stile der verschiedenen Länder zu vergleichen – so zeigt sich, dass deutschsprachige Plakate konservativer wirken als zum Beispiel die polnischen und französischen (zumindest in Bezug auf Wajdas Filme).

Plakat zu Andrzej Wajdas Film PS: Meine Handykamera ließ leider keine Fotos Kubrick’scher Qualität zu – ich bitte das zu verzeihen.