Some Sundance Bullshit: The Life and Times of Alex Ross Perry

Alex Ross Perry

„There’s something dubious about the way critics are falling to their knees for Listen Up Philip. Why? Because the film appeals to the chin-stroking, tweed-wearing, elbow-patched pedant in those whose fantasy vision of Manhattan is a sepia-toned salon of literary bloviators. And therefore it flatters the New York contingent (that David Fincher likes to call ‚callous sophisticates‘) that cheered The Color Wheel in 2011. You wish Alvy Singer would burst through the frame: ‚Aren’t you ashamed to pontificate like that?‘“ (Ryan Lattanzio, Indiewire)

Schwartzman und Moss in

Listen Up Philip

Abgesehen von berechtigten Zweifeln ob Herr Lattanzio Alex Ross Perrys neuesten Film überhaupt gesehen hat, schockiert mich sein fehlendes Verständnis für welche Art von Kino Alex Ross Perry eigentlich steht. Für eine Seite wie Indiewire, die sich (nicht unberechtigt) als Sprachrohr einer gewissen Form der US-Independentszene sieht, ist eine solche Kurzsichtigkeit hinsichtlich eines ihrer spannendsten Talente zumindest eine kleinere Katastrophe. Lattanzio ist mit seinen Ansichten aber nicht alleine. Diesen Sommer in Locarno hörte ich mehrmals, Listen Up Philip sei bloß ein weiteres Beispiel gehypten „Sundance-Bullshits“, einer Auffassung, der ich mich damals wie heute nicht anschließen kann.

Alex Ross Perry hat mit dem heutigen Tag drei Langfilme abgeschlossen und mit Queen of Earth einen weiteren in Post-Production, der 2015 erscheinen soll. Diese drei Filme (vor allem die letzten beiden) wirken auf den ersten Blick tatsächlich wie eine Essenz aus Sundance-Charakteristika, die man sich in einem amerikanischen Indie-Film zu erwarten hat, wenngleich sie ein sehr heterogenes Trio bilden.

Perrys Debütfilm Impolex ist eine kuriose Geschichte über einen US-Soldaten nach Ende des 2. Weltkriegs, der auf der Suche nach deutschen Raketen durch einen Wald irrt und dabei auf eine Reihe seltsamer Gestalten trifft. Auf den ersten Blick wirkt Impolex wie ein billiger Studentenfilm, dessen Handlung und Milieu nach der Verfügbarkeit von leistbaren Kostümen im nächstgelegenen Verleih gewählt wurde. Natürlich verhält es sich anders, denn Perry bezieht sich auf Motive des Romans „Gravity’s Rainbow“ von Thomas Pynchon, den er jedoch nicht wortgetreu adaptiert (Pynchon gilt als „nicht verfilmbar“; man darf gespannt sein wie Paul Thomas Anderson diese Aufgabenstellung gelöst hat), sondern dessen Struktur, Sprache und Humor er in elliptischen Episoden zusammenfügt. Impolex ist enigmatisch und lässt einen halb-lächelnd ob der Absurdität der Ereignisse, halb-verwirrt ob der Inkonsistenz des Gezeigten zurück (und spiegelt somit das Verhalten des Hauptcharakters Tyrone, der ebenfalls halb-amüsiert, halb-verwirrt durch den Wald irrt).

Perrys zweiter Film, The Color Wheel, ist eine Variation eines Roadmovies (ein sehr beliebtes Sujet im US-Indie), in dem ein Bruder seine Schwester hilft, ihre Sachen aus dem Haus ihres Ex-Freundes (und Ex-Professors) zurückzuholen. Der Look des Films entspricht in etwa der gängigen Mumblecore-Ästhetik der frühen 2000er, also schwarz-weiß und ultra-grainy. Auch sonst nimmt der Film Anleihen bei diesem Subgenre: betont inhaltlose Dialoge, wackelige Handkamera, ein kaum wahrnehmbarer dramaturgischer Bogen und Endzwanziger, die gelangweilt nach ihrem Lebenszweck suchen. Das Milieu ist für Kenner der amerikanischen Independentszene auch kein neues – junge Intellektuelle in Upstate New York.

In Listen Up Philip kulminieren in einer Geschichte über einen circa dreißigjährigen Schriftsteller, der in einem sepia-getünchtem Brooklyn lebt, sich nebenbei als Collegeprofessor verdingt und getrost als „quirky“ bezeichnet werden kann. Darüber hinaus bedient sich Perry noch exzessiver als in seinen früheren Filmen Stilmitteln, wie Voice-over Narration und Deadpan-Humor, die man gemeinhin mit dem amerikanischen Independentkino in Verbindung bringt (die Handkamera darf natürlich auch hier nicht fehlen).

The Color Wheel

Neben offensichtlicheren Anleihen bei Woody Allen und Wes Anderson, die vor allem in Listen Up Philip hervorstechen, wird Perrys Stil auch immer wieder mit dem Urvater der Szene, John Cassavetes verglichen. In einem wichtigen Punkt unterscheiden sich Perrys Filme aber von der großen eintönigen Menge der Filme, die Jahr für Jahr im Jänner die Leinwände Utahs bevölkern – seinen Filmen fehlt der Wille um jeden Preis geliebt zu werden.

Perry hatte die Chuzpe einen völlig unverständlichen Debütfilm zu drehen, in der ein verlorener US-Soldat in einem fiktiven deutschen (oder amerikanischen, man weiß es nicht) Wald auf seine Freundin, einen Piraten und einen sprechenden Oktopus trifft. Im Kern ist Impolex, wie oben erwähnt, eine Literaturverfilmung, allerdings ohne dies kenntlich zu machen, beziehungsweise ohne den üblichen Konventionen einer Literaturverfilmung zu folgen. Mit The Color Wheel realisierte Perry einen Film über zwei Menschen, die zumindest die erste halbe Stunde wenig sympathisch wirken und der schließlich in Inzest endet und mit Listen Up Philip schoss er ohnehin den Vogel ab, und präsentierte mit dem namensgebenden Hauptcharakter einen unerträglichen, selbstgefälligen Ungustl in Reinkultur. Perry macht Filme, die zwar in gewisser Weise in ein Muster fallen, bricht aber mit diesem Muster, in dem er entscheidende Elemente entweder beiseitelässt oder verfremdet und so das Publikum orientierungslos zurücklässt.

In jedem Fall unterscheidet er sich damit von seinen Kollegen, den er nimmt sich trotz allem ernst. Oder vielleicht nicht ernst – das wäre nicht das Wort, das er selbst wählen würde um sich zu beschreiben. Perry sieht sich als zynischer Betrachter und mit dieser Beschreibung kommen wir der Sache schon näher. Andere Filme ähnlicher Machart tendieren zu einem selbstreflexivem Augenzwinkern um dann doch wieder ihre „likability“ zu erhöhen – also um doch wieder geliebt zu werden. Perry kennt diesen Gestus nicht, sondern bloß staubtrockenen Zynismus. Perrys Filme zelebrieren nicht ihre eigene Überspitztheit, sondern lehnen eine solche Sichtweise gänzlich ab und betonen stattdessen die Ernsthaftigkeit der Lage. Das soll nicht heißen, dass diese Filme humorlos sind – ganz im Gegenteil – aber anders als andere Filme, die davor zurückschrecken ihr Publikum mit politisch-unkorrekten Witzen und unsympathischen Charakteren zu konfrontieren und sich mit aufgesetzter Ironie aus der Verantwortung winden, lässt Perry seine Gags unrelativiert stehen und überbrückt die Wartezeit des betretenen Schweigens ganz einfach mit einem Witz über die Gemächte von Afroamerikanern oder lässt seinen Hauptcharakter einen Partygast vollkotzen. Damit behält er eine gewisse Ehrlichkeit im Umgang mit seinem Publikum, und hält den Zusehern einen Spiegel vor – wer und was bin ich, wenn ich mich trotz alledem mit dem Charakter identifiziere?

Locarno 2014: Ein Blick zurück

Der Lago Maggiore

Nach ein paar Tagen Ruhe und einer Staffel House of Cards (unter anderem) um einem Bewegbild-Cold-Turkey vorzubeugen, hier nun mein Abschlussbericht vom Filmfestival Locarno 2014. Die Gelegenheit möchte ich dazu nutzen, einige der gesehenen Filme näher zu besprechen, wozu mir während des Festivals leider die Zeit und Energie fehlte. Im Mittelpunkt stehen dabei die neuen Filme, wohingegen ich weder über die Filme der diversen Retrospektiven, noch über das Wetter schreiben werde.

Kristen Stewart und Juliette Binoche in

Sils Maria

Sils Maria von Olivier Assayas

Diese vielleicht größte persönliche Enttäuschung des Festivals habe ich in meinem Tagebuch mit nur wenigen Zeilen bedacht. Nach einiger Bedenkzeit, kann ich mit Olivier Assayas‘ neustem Film zwar noch immer nicht anfreunden, aber zumindest meine Haltung zum Film artikulieren. Vorweg möchte ich erwähnen, dass ich ein großer Fan des Regisseurs bin. In seinen besten Filmen vermag er es gleichsam jugendliches Lebensgefühl einzufangen, und eine politische Botschaft zu vermitteln. Seine Filme zeichnen sich formal durch seine unkonventionellen Schnitte und seine hochbewegliche Kamera aus, die eine intime Atmosphäre schaffen. Wiederkehrende Themen, die alle irgendwie zusammenhängen, wie Jugend, Revolution, Drogen Rock’n’Roll, Sexualität, Autobiographisches und sein dynamischer Stil ergänzen sich großartig. In Sils Maria fehlt mir all das. Zugegeben, es geht, grob gesagt um Generationenkonflikte, aber die Art und Weise wie Assayas diese Konflikte behandelt, unterscheidet sich stark von seinen früheren Filmen. Anstatt sich den Charakteren anzunähern und die Beziehungen der drei Frauen (großartig gespielt von Juliette Binoche, Kristen Stewart und Chloe Grace Moretz) in intimer Atmosphäre durchzuexerzieren, widmet sich Assayas zu oft dem Schweizer Alpenpanorama und lässt seine Schauspielerinnen kammerspielartig agieren, ohne jedoch aus der Raumdynamik zwischen der Weite der Berge und der Enge der Berghütten und Hotelbars einen Mehrwert zu ziehen. Das ist zwar auch schön, aber weder ist Assayas besonders talentiert darin Bergpanoramen zu fotografieren (wie oben erwähnt ist Intimität seine Stärke, und die steht in starkem Widerspruch zur Größe und Werte eines Bergpanoramas), noch gehe ich in einen Assayas-Film um mir die Alpen anzusehen. Das Assayas durch seine kammerspielartige Inszenierung die Handlung formal spiegelt, lasse ich nicht gelten, denn die Metaebene wird ohnehin schon inhaltlich (über-) strapaziert: Die gealterte Starschauspielerin Maria Enders (Binoche) soll eine Rolle im gleichen Stück übernehmen, dass sie einst berühmt gemacht hat. Nun soll sie aber nicht die junge Verführerin Sigrid, sondern die ältere Helena, die schließlich von Sigrid in den Selbstmord getrieben wird, mimen. Der Konflikt im Stück, wird durch den Konflikt zwischen Enders und ihrer Assistentin (Stewart) beziehungsweise ihrem jungen Co-Star Jo-Ann Ellis (Moretz) dupliziert. Auf dem Papier klingt diese Konstellation tatsächlich vielversprechend, so war ich auch nicht weiter verwundert, als der Film nach seiner Premiere in Cannes mit Lob überschüttet wurde. Heute kann ich darüber nur mehr den Kopf schütteln, denn die Inszenierung ist flach und blutlos, Binoche geht voll auf in ihrer Rolle als gealterter Star, ihr gegenüber versuchen Moretz und Stewart ihr bestes, ihre Charaktere haben aber nicht annähernd die Tiefe wie Maria Enders. Werden die Spannungen in der Figurenkonstellation wenigstens noch rudimentär in der filmischen Umsetzung berücksichtigt, so werden Raumdynamiken (und da bietet sich gerade die Gegenüberstellung von Alpenlandschaft und Theaterbühne an) geflissentlich übergangen. Auch der Medienrummel um Jo-Ann Ellis und der Tod von Marias Mentor Wilhelm Melchior, dem Autoren des Stücks werden nur nebenbei gestreift – kurz, Assayas schöpft das Potenzial des Sujets nicht annähernd aus. Nicht nur, dass diesen Film wohl auch ein Lasse Hallström passabel über die Bühne hätte bringen können und es dafür keinen Assayas gebraucht hätte, alles in allem, ist der Film ganz einfach einfallslos. Ein konsequent durchgearbeitetes Drama, das handwerklich so konventionell daherkommt, dass man es eigentlich kaum kritisieren kann, aber auch keinerlei Raum für große Ideen lässt. Ein Film, wie ihn aufstrebende europäische Regisseure machen, wenn sie das erste Mal nach Hollywood gehen und für das große Geld ihre Kreativität opfern. Assayas‘ internationale Filme rangierten in meiner persönlichen Wertung bis jetzt ohnehin schon am unteren Ende, aber selbst in Clean und Boarding Gate behielt er ein Mindestmaß an Rebellion und formaler Experimentierfreudigkeit. Die ist ihm in Sils Maria abhandengekommen. In einzelnen Momenten fühlt man diese Energie unter der Oberfläche brodeln (z.B. als Stewart nach durchzechter Nacht unter Metal-Beschallung eine Bergstraße entlangfährt, schließlich aussteigt und kotzt), das ist aber zu wenig um über die Enttäuschung hinwegzutrösten.

Das ominöse Boot in

Ventos de Agosto

Ventos de Agosto von Gabriel Mascaro

Einem der Film, dem ich ebenfalls zu wenige Zeilen gewidmet habe, ist Gabriel Mascaros Ventos de Agosto. Der Film wurde immerhin mit einer lobenden Erwähnung der Jury bedacht und ist von Presse wie Publikum durchwegs positiv aufgenommen worden. Auch hier frage ich mich, warum? Ventos de Agosto ist ein Film so sehr von seiner eigenen Coolness überzeugt, dass er darüber völlig vergisst, dass neben Coolness auch Faktoren wie Kohärenz, Dramaturgie und Vision einen guten Film auszeichnen. Der Film ist voll von Szenen, die zum Schmunzeln, wie Staunen einladen und es ist gut, dass es Filmemacher mit derartigem Esprit und Einfallsreichtum gibt. Dafür aber darauf zu verzichten, diese Ideen in ein großes Ganzes einzubinden, Verknüpfungen herzustellen, nicht nur oberflächliche Botschaften mitzugeben, und eine künstlerische Stellung zu beziehen, ist fatal. So bleiben zwar tätowierte Schweinen, Coca-Cola-Dosen und Sex auf Kokosnüssen in Erinnerung, aber die aufgesetzte Hipster-Deadpan-Komik und die „sieh mich an, ich bin ein Kunstfilm!“-Allüren im (Ton-) Schnitt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass man Selbstreflexivität nicht ohne Subtilität einsetzen sollte. Gegen eine Fortführung inszenatorischer Traditionen der Stummfilmslapstickkomik ist an und für sich nichts einzuwenden (ganz im Gegenteil), aber dann bitte nicht bloß als Gimmick, wie in Ventos de Agosto oder auch in Dos Disparos, sondern eingebettet in ein künstlerisches Gesamtkonzepte (wie man das macht, kann man z.B. bei Elia Suleiman sehen), sonst wirkt es aufgesetzt, ja selbstgefällig.

Vor dem Obdachlosenasyl in

L’Abri

L’Abri von Fernand Melgar

Dokumentarfilmen wird in Locarno, wie bei den meisten anderen großen Festivals, wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im Gegensatz zu Experimental- und Animationsfilm, findet man aber doch einige wenige Vertreter dieser Gattung. Ein herausragendes Beispiel war L’Abri, einer meiner persönlichen Favoriten. Meines Erachtens ist der Film im allgemeinen Trubel etwas untergegangen. Selbst die heimische Presse schenkte Cure – The Life of Another mehr Beachtung als dem Schweizer Beitrag L’Abri. Nepotismusvorwürfe sind hier ohnehin fehl am Platz, denn seinen Platz im Wettbwerb hat sich L’Abri redlich verdient. Neben einem politisch und gesellschaftlich hochbrisanten Thema wie Armut und Zuwanderung, konnte der Film auch mit seiner Form überzeugen. L’Abri bleibt dabei trotz seines heißdiskutierten und emotional-geladenem Thema stets differenziert und hat auch über die Schweizer Landesgrenzen hinaus Bedeutung. Denn das Obdachlosenasyl in Lausanne, dass Melgar einen Winter lang studiert, könnte man so auch in diversen anderen europäischen Großstädten vorfinden. Obdachlosigkeit und Immigration (wenn ich mich richtig erinnere kommt im gesamten Film kein einziger gebürtiger Schweizer Obdachloser zu Wort) sind eng miteinander verknüpft und laden zu einseitiger Berichterstattung ein. Parolen wie „Ausländer raus!“ hört man aber ebenso vergeblich, wie Plädoyers für schrankenlose Zuwanderung. Dafür ist Melgar, wie mir scheint, zu intelligent. Vielmehr lässt er die Betroffenen selbst zu Wort kommen, in langen Gesprächen zwischen den Obdachlosen, in denen der Filmemacher unsichtbar bleibt, zeigen sich deren Lebenswelten und (zerbrochenen) Träume. Wie Melgar es geschafft hat das Vertrauen dieser Menschen zu bekommen ist beeindruckend und vielleicht der entscheidende Faktor für den Erfolg des Films. Auf der anderen Seite kommen auch die Angestellten des Asyls zu Wort. Jene Angestellten, für die die Hilfesuchenden nicht bloß statistische Kennzahlen, sondern menschliche Wesen sind, und die Nacht für Nacht die Regeln biegen und Menschen von der Straße holen, für die sie, laut Reglement, eigentlich gar keinen Platz haben. Nach für Nacht bleiben aber auch ein paar verlorene Seelen vor den verschlossenen Toren des Asyls zurück, und Nacht für Nacht lässt sich nur erahnen welch große mentale Belastung das Auswahlverfahren für die Türsteher sein muss. Da werden Familien zerrissen und mittellose Menschen bei eisigen Temperaturen in Todesgefahr gebracht. Der Film bietet keine Lösung an, aber lädt zum Nachdenken ein. Zum Nachdenken über soziale Verantwortung und die Stellung Europas in der Welt. Gleichzeitig ist L’Abri ein durchwegs heterogenes Werk, dass die Grenzen der dokumentarischen Form austestet. Zwischendurch gibt es Phasen in denen man sich fragt, ob die Protagonisten nicht doch Schauspieler sind. Die Bebilderung der Arbeitsabläufe im Asyl wiederum führen die große Tradition des Cinéma Verité und Direct Cinema fort. In dieser Hinsicht war der zweite Dokumentarfilmbeitrag The Iron Ministry sogar noch radikaler, allerdings wirkte der durch seine formale Strenge beinahe zu distanziert und observativ. L’Abri hingegen fühlt mit den Menschen und wehrt sich gegen die Sterilität, die einer solchen Milieustudie leicht anhaften kann.

Jason Schwartzman in

Listen Up Philip

Listen Up Philip von Alex Ross Perry

Kategorisiert man Listen Up Philip als typischen „Sundance-Film“ so liegt man mit dieser Einordnung nicht ganz falsch. Listen Up Philip ist die Quintessenz eines amerikanischen Indies (was auch immer das sein soll). Nur eine sehr beschränkte Anzahl dieser Filme schafft es auf die großen europäischen Festivals, noch weniger werden zu kommerziell erfolgreichen Hitfilmen und dürfen sich im Folgejahr im Oscarglanz sonnen. Listen Up Philip wird letzteres Schicksal wohl erspart bleiben, dazu fehlen dem Film einige wichtige Merkmale, wie zum Beispiel ein sympathischer Protagonist, positive Charakterentwicklung und ein Happy End (geschweige denn überhaupt ein zufriedenstellender Abschluss). Aber wieder zurück zu Sundance: Es hat sich mittlerweile eine ganze Industrie etabliert, die mit mittelmäßig großem Budget und ein, zwei großen Namen halbtragische, halbkomische Spielfilme produziert, in denen es meist um (gescheiterte) Künstler oder Exzentriker geht. Gibt es ein entscheidendes Attribut, dass man diesen Filmen zuschreiben könnte, so wäre es wohl „Quirkiness“ (frei übersetzt: Schrulligkeit). Listen Up Philip ist auf der Quirkiness-Skala sehr weit oben angesiedelt. Das liegt zum einen am namensgebenden Protagonisten, einem Schriftsteller, der gerade an seinem zweiten Roman schreibt und sich durch eine ausgeprägte asoziale und eigenbrötlerische Ader auszeichnet, und zum anderen an der Ästhetik des Films, die die im Moment so beliebte Deadpan-Komik mit einer Prise Wes Anderson, einem auktorialen Erzähler und sehr viel kitschigem Licht kombiniert. Dass der Film in Brooklyn spielt, ist eine Selbstverständlichkeit. Auf dem Papier klingt diese Mischung grauenerregend, nicht dass an amerikanischem Indie per se etwas auszusetzen wäre, aber die Formel wird, so scheint es, gnadenlos überstrapaziert – so sehr überstrapaziert, dass man sie eigentlich nicht mehr ernst nehmen kann.

Der amerikanische Indie ist alles in allem einem realistischen Postulat unterworfen, das heißt man versucht in der Regel eine Geschichte zu erzählen, wie sie auch im echten Leben vorkommen könnte, wenn tatsächlich einmal solch schrullige Charaktere aufeinandertreffen würden. In Listen Up Philip ist das anders, man kann dem Film einfach nicht mehr abnehmen, dass der Ungustl Philip sich unter die Fittiche des nicht minder unsympathischen Starautors Ike Zimmermann (ein grandioser Jonathan Pryce) begibt, eine Professorenstelle annimmt, und sich unter Anleitung Zimmermanns schließlich dazu entscheidet ein Leben als einsames Genie zu führen. Man kann dem Film ganz einfach nicht abnehmen, dass dieser präpotente Großkotz tatsächlich gut ist, in dem was er tut, und nicht bloß ein Aufschneider. Man erwartet nicht, dass gerade so ein Mensch tatsächlich Erfolg hat – so viele vergangene Filme haben uns das Gegenteil gelehrt und Charaktere wie Philip entweder auf den harten Boden der Realität fallen, oder eine Erleuchtung samt Lebenswandlung erfahren lassen. Listen Up Philip tut dies alles nicht und wird so zum Märchen, zum pervertierten amerikanischen Traum, zum Hipster-Manifesto – große selbstreflexive und ironische Erzählkunst.

Ausnüchtern in

Gyeongju

Ein asiatischer Doppelpack

Die beiden letzten Wettbewerbsfilme, die ich gesehen habe waren Alive von Park Jung-bum und Gyeongju von Zhang Lu. Diese beiden Filme vereint nicht nur ihre überdurchschnittliche Länge (drei bzw. zweieinhalb Stunden), sondern auch eine filmische Philosophie, die sich in einer bestimmten Herangehensweise an den Faktor Zeit äußert. Denn diese beiden Filme sind nicht lang, weil sie eine epische Geschichte zu erzählen haben, sondern spielen über vergleichsweise kurze Zeiträume (bei Gyeongju ist es gar bloß ein einziger Tag) und beobachten in erster Linie Alltagshandlungen. Dadurch, und das ist eine Strategie, die mir persönlich sehr nahe steht, entstehen Einblicke in die Lebenswelt der Menschen im Film. Ich habe mich im Laufe des Festivals öfters über aufgesetzte und platte Inszenierungen beschwert und tatsächlich musste ich mich nach Lav Diaz am Eröffnungstag bis zu diesem asiatischen Doppelpack gedulden, um wieder Lebensrealität im Kino wahrzunehmen (Pedro Costa habe ich bewusst in dieser Kategorisierung ausgespart). Geradezu ironisch also, dass Hauptcharakter Jung-chul von einer Auswanderung auf die Philippinen träumt. Es kommt nicht so weit und am Ende des Films befindet sich Jung-chul gar in einer verzweifelteren und aussichtsloseren Position als zuvor, doch das macht keinen Unterschied, denn für diese Art von Film ist nicht der Handlungsbogen, sondern die Handlungen an sich entscheidend. Jung-chul fällt einen Baum. Jung-chul kocht Suppe. Jung-chul prügelt sich.

Gyeongju ist die Idee eines „Handlungsbogens“ von vornherein fremd. Noch mehr als in Alive, wo es ja doch noch um etwas, das Überleben, geht, ist Gyeongju eine spirituelle Wanderung durch alte Teehäuser und UNESCO-Weltkulturerbe. Anders als Jung-chul fällt Choi Hyeon weder Bäume, noch kocht er Suppe. Er ist Professor für Politikwissenschaft und kein körperlicher Arbeiter, sein Metier ist das abstrakte Denken und demgemäß sind seine Handlungen auch geistiger Natur. In Alive geht es ums physische Überleben. Das ist in Gyeongju gesichert, hier geht es um eine spirituelle und geistige Suche – die Gegenwart wird über die Vergangenheit befragt und die Antworten bleiben unbefriedigend. Diese abstrakte Dimension macht Gyeongju zum besseren, zum mutigeren Film und zu einem der besten und mutigsten Filme des Festivals.

Framing Reality: Concussion von Stacie Passon

"Concussion"

Zum ersten Mal findet dieses Jahr die Filmserie „Framing Reality“ im Filmcasino statt. Den Gründern dieser Reihe ist es ein Anliegen Filme zu zeigen, die es nicht in den regulären Verleih schaffen – vor allem Filme von Frauen und Filme für Frauen. Unterhaltungsfilme mit Anspruch. Eine gute Idee, wahrscheinlich auch eine wichtige. „Framing Reality #1“ konzentrierte sich auf Filme, die in den letzten Jahren am Sundance-Festival gelaufen sind, es aber nicht nach Österreich geschafft haben. Außerdem wurde der Dokumentarfilmerin Barbara Kopple eine Personale gewidmet. Mich hat es schließlich, zu Stacie Passons Concussion verschlagen.

Robin Weigert in "Concussion"

Abby Ableman (Robin Weigert) ist eine Hausfrau Anfang/Mitte Vierzig mit zwei Kindern und einem tollen Haus. Sie ist sexuell unbefriedigt und nachdem ihr Sohn ihr einen Baseball an den Kopf wirft, entscheidet sie sich ihre Karriere als Innenarchitektin wiederzubeleben und eine Wohnung zu renovieren (die Korrelation zwischen diesen Ereignissen erschließt sich mir nicht ganz, aber irgendeinen Grund muss es doch haben, dass der Film nach der Gehirnerschütterung benannt ist, die Abby durch den Baseballunfall davonträgt). Abby pendelt also fortan von den Suburbs in die Stadt und kommt schon bald auf die Idee ihren Sexualtrieb mit Prostituierten zu befriedigen (die Wohnung kommt ihr dabei gerade recht). Nachdem ihr das zu teuer kommt, empfiehlt ihr Justin, ihr Mitarbeiter, der die handwerklichen Arbeiten in der Wohnung übernimmt, doch selbst im horizontalen Gewerbe einzusteigen. Glücklicherweise ist Justins neue Freundin Zuhälterin – kein Witz. Dieser Plot stammt nicht aus der Feder von Jason Friedberg und Aaron Seltzer (ich habe es in den Credits überprüft), sondern ist als ernstgemeintes Indie-Drama konzipiert. Und tatsächlich war der Film ein Hit beim Sundance Festival 2013 und wurde später auch auf der Berlinale gezeigt. Wie es dazu kommen konnte? Abby Ableman ist lesbisch, lebt mit einer erfolgreichen Rechtsanwältin zusammen und hat Sex mit Frauen, der auch recht explizit – für amerikanische Verhältnisse – vor der Kamera praktiziert wird.

Durch den Sieg von Abdellatif Kechiches La Vie d’Adèle in Cannes ein paar Monate später wurden natürlich sofort Vergleiche zwischen den beiden Filmen auf den Plan gerufen (denn so tickt leider die Filmkritik). Das tut mir außerordentlich leid für La Vie d’Adèle, denn Kechiche beschritt tatsächlich neue Wege, schuf ein dreistündiges Epos, das nicht nur durch seine Thematik, sondern auch durch seine Machart zu überzeugen wusste. Das fängt damit an, dass Kechiche im Gegensatz zu Passon tatsächliche explizit wurde. Die Energie von La Vie d’Adèle entstammt der behutsamen Konstruktion der einzelnen Szenen, der unglaublichen Nähe zwischen der Kamera und den Charakteren, und nicht zuletzt den schauspielerischen Leistungen die Kechiche aus seinen Darstellerinnen presst. Bei „Concussion“ ist das Gegenteil der Fall. Der Film steht ganz im Zeichen des US-Indies, der sich am großen Hollywoodvorbild orientiert, aber ohne dessen finanzielle Mittel auskommen muss. Passon bearbeitet pragmatisch die Gefühle ihres Publikums, mal die Tränendrüsen, mal die Lachmuskeln. Alles in allem, ist der Film stilistisch sehr unaufgeregt und bieder. Ohne die LGBT-Thematik wäre „Concussion“ bald in den Gefilden der mittelmäßigen Beziehungsdramen in Vergessenheit geraten.

"Concussion"

Aber auch wenn es unzählige bessere filmische Midlife-Crisis-Studien gibt, und Luis Buñuel schon 1967 in Belle de Jour eine weibliche Protagonistin ihr bourgeoises Domizil gegen ein Bordell tauschen ließ, ist Concussion (zumindest thematisch) vielschichtiger. Denn Film hat, das kann man nicht verleugnen, auch sozio-politisches Potenzial und genau wie Belle de Jour, die sexuelle Unterdrückung der Frau thematisierte und damit darauf aufmerksam machte, so projiziert „Concussion“ diese Verhältnisse auf eine gleichgeschlechtliche Ehe. Solche Filme sind wichtig um bewusst zu machen, dass auch gleichgeschlechtliche Paare mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben, wie heterosexuelle.

Das macht den Film natürlich nicht besser – aber relevanter. Auch wenn ich mir wünschen würde, dass diese Thematik nicht von so einem minderen Film behandelt würde, bleibt seine soziale Sprengkraft bestehen. Am Ende des Tages, kann man sich natürlich darüber streiten wie ehrlich es ist, in so einem Film ausnahmslos schöne Körper zu zeigen (die verzweifelte Hausfrau des 21. Jahrhunderts ist sportlich und fit) und die Ereignisse quasi ohne Konsequenzen in einem Happy End ausklingen zu lassen. Da fehlt es nicht nur an Kühnheit von Seiten der Regisseurin und der Produzenten, sondern auch an Kreativität und handwerklichem Können. Den Olymp des Kunstfilms wird Concussion nie erreichen (weshalb er meiner Meinung nach auf der Berlinale nichts verloren hat), aber als gesellschaftspolitisches Statement muss man ihn ernst nehmen. Dass Passon, und das macht sie sehr deutlich, ernst genommen werden will und dabei vergisst einen guten Film zu machen, bleibt als bitterer Nachgeschmack zurück.