Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Von Taten sprechen, berichten, zitieren

Text: Hans Bonhage

Zwei Män­ner, einer etwas jün­ger, der ande­re etwas älter, einer in dunk­lem Blau, der ande­re in hel­lem Beige geklei­det, sit­zen in sechs sta­ti­schen Ein­stel­lun­gen jeweils abwech­selnd an einem drei­bei­ni­gen, schwarz spie­geln­den Tisch in einem offe­nen Raum. Sie erzäh­len in lan­gen Mono­lo­gen von gewalt­vol­len, bru­ta­len Taten, die sie began­gen oder denen sie bei­gewohnt haben. Von ent­wür­di­gen­den Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Hin­rich­tun­gen, Fol­ter­si­tua­tio­nen. Von uner­träg­li­chen Ver­bre­chen. Es bleibt unklar, wem die bei­den Akteu­re das alles erzäh­len, wel­che Fra­gen ihnen gestellt wur­den, in wel­chem Kon­text die­se Mono­lo­ge ste­hen. Was zählt ist, was sie berich­ten. Im Hin­ter­grund öff­net sich der Raum zu einer Park- und Wald­land­schaft, deren Blät­ter­rau­schen, Vogel­zwit­schern und gele­gent­li­ches Don­nern die mono­ton vor­ge­tra­ge­nen Ver­bre­chens­er­zäh­lun­gen kontrastieren.

Die Annah­me, es gebe mit dem doku­men­ta­ri­schen und dem fik­tio­na­len zwei klar von­ein­an­der abge­grenz­te fil­mi­sche Erzähl­mo­di, ist so weit ver­brei­tet wie unsin­nig. Beson­ders deut­lich wird das in Fil­men, die in irgend­ei­ner Form mit einem Ree­nact­ment arbei­ten. Das Ree­nact­ment sprengt schon qua Defi­ni­ti­on die als selbst­ver­ständ­lich ange­nom­me­nen Gren­zen zwi­schen Doku­men­tar- und Spiel­film. Ein fak­tisch beleg­tes (his­to­ri­sches) Ereig­nis wird im Film von Schauspieler:innen re-enac­ted, also nach­ge­spielt und somit zwangs­läu­fig fik­tio­na­li­siert. Im Fal­le von Sel­ma Doboracs De Fac­to wie­der­um, der bereits im Titel die Fak­ti­zi­tät sei­nes Mate­ri­als behaup­tet, scheint der Begriff des Ree­nact­ments leicht ver­fehlt. Schließ­lich wer­den die geschil­der­ten Ereig­nis­se nicht durch Schau­spiel­hand­lun­gen nach­ge­stellt, um so ein greif­ba­res Bild der Ver­bre­chen zu pro­du­zie­ren. Und doch sind es zwei Schau­spie­ler, die die grau­sa­men Mono­lo­ge vor­tra­gen, zwei Akteu­re, die Rol­len ver­kör­pern. Man könn­te also von einem sprach­li­chen Ree­nact­ment spre­chen, die bei­den Akteu­re fun­gie­ren als Medi­um, als Pro­jek­ti­ons­flä­che für die von ihnen gespro­che­nen Tex­te. De Fac­to ist inso­fern doku­men­ta­risch, als es Doku­men­te (d.h. Gerichts­ur­tei­le, ‑pro­to­kol­le, Zeu­gen­aus­sa­gen, Tat­sa­chen­be­rich­te usw.) gibt – oder bes­ser: zu geben scheint –, die zusam­men­ge­fügt, ver­dich­tet, kon­den­siert in die Mono­lo­ge der Akteu­re über­setzt sind. Die­se Doku­men­te sind nicht zitiert oder gekenn­zeich­net und damit nicht nach­voll­zieh­bar, die Schil­de­run­gen blei­ben somit ohne kon­kre­te Verortung.

Viel­leicht hilft es, einen kur­zen Sei­ten­blick auf einen ande­ren Text zu wer­fen, der mir beim Nach­den­ken über De Fac­to in den Sinn kommt: Peter Weiss‘ Die Ermitt­lung. 1965 be- und ver­ar­bei­tet Weiss mit die­sem Thea­ter­stück den ers­ten Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zess, in dem zwi­schen 1963 und 1965 zwan­zig Ange­klag­te ver­ur­teilt (oder gera­de nicht ver­ur­teilt) wur­den, die in ver­schie­de­nen Funk­tio­nen im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz tätig waren. Wie Doborac nähert sich Weiss den unmensch­li­chen Ver­bre­chen in einer ver­mit­tel­ten, indi­rek­ten Wei­se. Nicht die Vor­gän­ge im Lager selbst wer­den auf der Büh­ne gezeigt, son­dern die Aus­sa­gen der Zeug:innen und Ange­klag­ten im Gerichts­saal eini­ge Jah­re spä­ter. Und auch bei Weiss gibt es eine wei­te­re Stu­fe der Abs­trak­ti­on: Die Namen sei­ner Figu­ren (neun Zeug:innen und acht­zehn Ange­klag­te) bestehen nur aus ihrer Posi­ti­on und einer Num­mer, sie hei­ßen „Zeu­ge 1“ oder „Ange­klag­ter 13“. Wäh­rend die Aus­sa­gen der Zeug:innenfiguren ein Kon­zen­trat der Erfah­run­gen von Hun­der­ten sind, die im tat­säch­li­chen Pro­zess aus­sag­ten, blei­ben die Ange­klag­ten trotz ihrer Num­me­rie­rung iden­ti­fi­zier­ba­re Ein­zel­per­so­nen, die mit Namen ange­spro­chen wer­den. Doborac führt die Abs­trak­ti­on, die Ver­frem­dung noch wei­ter: Hier blei­ben nur noch zwei Figu­ren übrig und vor allem sind es hier zwei Täter­fi­gu­ren, die die Gesamt­heit mensch­li­cher Täter­schaft in sich auf­neh­men. Sie ver­ei­nen, ver­dich­ten zudem nicht nur ver­schie­de­ne Täter­aus­sa­gen über ein ein­zel­nes his­to­ri­sches Ereig­nis, son­dern umspan­nen eine Viel­zahl an Ereig­nis­sen der jün­ge­ren Geschich­te und zeich­nen so ein Bild mensch­li­cher Grau­sam­keit, das über einen kon­kre­ten Moment hin­aus­reicht. „Die Ermitt­lung“ ist eines der meist­ge­nann­ten Bei­spie­le für das soge­nann­te doku­men­ta­ri­sche Thea­ter – ein Gat­tungs­be­griff, der eben­falls wie ein nicht auf­zu­lö­sen­der Wider­spruch klingt. Bei­de Wer­ke bewe­gen sich in den Zwi­schen­räu­men, aber in bei­den Fäl­len ist zen­tral (und womög­lich ist das schon die Grund­be­din­gung des Doku­men­ta­ri­schen), dass sie (wenn auch in bear­bei­te­ter, ver­frem­de­ter, abs­tra­hier­ter Form) von etwas berich­ten. Ihre Anbin­dung an die Wirk­lich­keit, an his­to­ri­sche Ereig­nis­se gibt ihnen Dring­lich­keit und kon­kre­ti­siert die Über­le­gun­gen zur Täterschaft.

So las­sen sich auch in De Fac­to gele­gent­lich ein­zel­ne his­to­ri­sche Bezü­ge iden­ti­fi­zie­ren, wenn die Erzäh­lun­gen an bekann­te Ver­bre­chen, etwa in den deut­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern oder in den Fol­ter­ge­fäng­nis­sen in Abu Ghraib, erin­nern. Die bei­den Akteu­re sind jedoch nie kon­kre­te Täter­fi­gu­ren, sie reprä­sen­tie­ren, ver­kör­pern und reflek­tie­ren in ihren Mono­lo­gen das Kon­zept der Täter­schaft im All­ge­mei­nen. Ver­kör­pern ist dabei ein ent­schei­den­der Begriff. Die Spra­che der geschrie­be­nen Mono­lo­ge wird durch den Schau­spiel­kör­per media­li­siert ver­mit­telt. Was macht die­se Erfah­rung, die­ses sprach­li­che Ree­nact­ment mit den Akteu­ren? Sie bie­ten die Pro­jek­ti­ons­flä­che, die das Nach­den­ken über Täter­schaft in der jün­ge­ren Mensch­heits­ge­schich­te in De Fac­to ermög­licht. Dafür müs­sen sie es ertra­gen, bis zu halb­stün­di­ge Mono­lo­ge über mensch­li­che Grau­sam­kei­ten und deren Recht­fer­ti­gun­gen durch ihren Kör­per flie­ßen zu las­sen. Sind mono­to­ne Vor­trags­wei­se und das Sprech­tem­po, das wenig Raum zur Ver­ar­bei­tung des Gehör­ten und des Gespro­che­nen lässt, Distan­zie­rungs­me­cha­nis­men der Akteu­re? Ist solch eine Distan­zie­rung über­haupt mög­lich? Kann das durch Spra­che ver­mit­tel­te Ree­nact­ment der Gewalt der Wirk­lich­keit näher­kom­men, als es das Nach­stel­len ein­zel­ner Taten könn­te? Man könn­te an Brechts Schau­spiel­ide­al den­ken: der Schau­spie­ler, der sei­nen Text und in wei­te­rer Fol­ge auch sei­ne Rol­le nicht als seine(n) eigene(n) annimmt, son­dern bloß zitiert. Das schei­nen die Figu­ren in De Fac­to fast vor­zu­ge­ben. Wie soll­te es schließ­lich mög­lich sein, sich mit ihnen zu iden­ti­fi­zie­ren? Der Text ver­langt die Distanz. Und doch bleibt es inter­es­sant, zu beob­ach­ten, wie die bei­den Akteu­re auf die Grau­sam­kei­ten reagie­ren, die ihre Kör­per her­vor­brin­gen. Auch das ist Brecht: nicht nur die ein­fa­che Distan­zie­rung des Schau­spie­lers zu sei­ner Rol­le, son­dern gleich­zei­tig auch sei­ne Posi­tio­nie­rung zu ihr. Es ist unmög­lich, sich mit den De Fac­to-Tex­ten zu iden­ti­fi­zie­ren, aber genau­so wenig ist es mög­lich, sich nicht zu ihnen zu ver­hal­ten, ihnen nicht wider­spre­chen zu wol­len. In der vor­letz­ten Ein­stel­lung schließ­lich beginnt die Son­ne unter­zu­ge­hen, das Bild ver­dun­kelt sich, das Gesicht von Akteur 2 ver­schwin­det immer tie­fer im Schat­ten. Die Dau­er des pau­sen­los in schein­bar gefühl­lo­ser Stimm­la­ge vor­ge­tra­ge­nen Täter­be­richts wird hier greif­bar. Damit ein­her geht die kör­per­li­che Anstren­gung, die sich mit zuneh­men­der Dau­er immer häu­fi­ger in Form von klei­nen Ver­spre­chern und Kor­rek­tu­ren der Akteu­re mani­fes­tiert (auch das viel­leicht Sym­pto­me einer Ableh­nung des Gesag­ten?). Längst haben sie sich von den detail­rei­chen wie bru­ta­len Schil­de­run­gen kon­kre­ter Taten ent­fernt, die noch in den ers­ten Ein­stel­lun­gen im Sekun­den­takt auf­ein­an­der­folg­ten. Statt­des­sen bewe­gen sie sich nun auf einer abs­trak­te­ren, reflek­tie­ren­den Ebe­ne, wenn sie über Gerichts­ver­fah­ren und Zeu­gen­schaft spre­chen und ihre Taten in Kon­tex­te phi­lo­so­phi­scher Theo­rien ein­bet­ten. Der Tag endet also und schließ­lich auch der Film. Aber nichts deu­tet dar­auf hin, dass damit auch die Gewalt ein Ende fin­det. Die bei­den Akteu­re könn­ten die gan­ze Nacht hin­durch wei­ter­erzäh­len, viel­leicht reden sie immer noch.

(Der Text ent­stand im Rah­men des Schreib­work­shops bei der Dia­go­na­le 2023.)

De Facto, Filmstill, Copyright Selma Doborac 2023