Text: Hans Bonhage
Zwei Männer, einer etwas jünger, der andere etwas älter, einer in dunklem Blau, der andere in hellem Beige gekleidet, sitzen in sechs statischen Einstellungen jeweils abwechselnd an einem dreibeinigen, schwarz spiegelnden Tisch in einem offenen Raum. Sie erzählen in langen Monologen von gewaltvollen, brutalen Taten, die sie begangen oder denen sie beigewohnt haben. Von entwürdigenden Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Foltersituationen. Von unerträglichen Verbrechen. Es bleibt unklar, wem die beiden Akteure das alles erzählen, welche Fragen ihnen gestellt wurden, in welchem Kontext diese Monologe stehen. Was zählt ist, was sie berichten. Im Hintergrund öffnet sich der Raum zu einer Park- und Waldlandschaft, deren Blätterrauschen, Vogelzwitschern und gelegentliches Donnern die monoton vorgetragenen Verbrechenserzählungen kontrastieren.
Die Annahme, es gebe mit dem dokumentarischen und dem fiktionalen zwei klar voneinander abgegrenzte filmische Erzählmodi, ist so weit verbreitet wie unsinnig. Besonders deutlich wird das in Filmen, die in irgendeiner Form mit einem Reenactment arbeiten. Das Reenactment sprengt schon qua Definition die als selbstverständlich angenommenen Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Ein faktisch belegtes (historisches) Ereignis wird im Film von Schauspieler:innen re-enacted, also nachgespielt und somit zwangsläufig fiktionalisiert. Im Falle von Selma Doboracs De Facto wiederum, der bereits im Titel die Faktizität seines Materials behauptet, scheint der Begriff des Reenactments leicht verfehlt. Schließlich werden die geschilderten Ereignisse nicht durch Schauspielhandlungen nachgestellt, um so ein greifbares Bild der Verbrechen zu produzieren. Und doch sind es zwei Schauspieler, die die grausamen Monologe vortragen, zwei Akteure, die Rollen verkörpern. Man könnte also von einem sprachlichen Reenactment sprechen, die beiden Akteure fungieren als Medium, als Projektionsfläche für die von ihnen gesprochenen Texte. De Facto ist insofern dokumentarisch, als es Dokumente (d.h. Gerichtsurteile, -protokolle, Zeugenaussagen, Tatsachenberichte usw.) gibt – oder besser: zu geben scheint –, die zusammengefügt, verdichtet, kondensiert in die Monologe der Akteure übersetzt sind. Diese Dokumente sind nicht zitiert oder gekennzeichnet und damit nicht nachvollziehbar, die Schilderungen bleiben somit ohne konkrete Verortung.
Vielleicht hilft es, einen kurzen Seitenblick auf einen anderen Text zu werfen, der mir beim Nachdenken über De Facto in den Sinn kommt: Peter Weiss‘ Die Ermittlung. 1965 be- und verarbeitet Weiss mit diesem Theaterstück den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, in dem zwischen 1963 und 1965 zwanzig Angeklagte verurteilt (oder gerade nicht verurteilt) wurden, die in verschiedenen Funktionen im Konzentrationslager Auschwitz tätig waren. Wie Doborac nähert sich Weiss den unmenschlichen Verbrechen in einer vermittelten, indirekten Weise. Nicht die Vorgänge im Lager selbst werden auf der Bühne gezeigt, sondern die Aussagen der Zeug:innen und Angeklagten im Gerichtssaal einige Jahre später. Und auch bei Weiss gibt es eine weitere Stufe der Abstraktion: Die Namen seiner Figuren (neun Zeug:innen und achtzehn Angeklagte) bestehen nur aus ihrer Position und einer Nummer, sie heißen „Zeuge 1“ oder „Angeklagter 13“. Während die Aussagen der Zeug:innenfiguren ein Konzentrat der Erfahrungen von Hunderten sind, die im tatsächlichen Prozess aussagten, bleiben die Angeklagten trotz ihrer Nummerierung identifizierbare Einzelpersonen, die mit Namen angesprochen werden. Doborac führt die Abstraktion, die Verfremdung noch weiter: Hier bleiben nur noch zwei Figuren übrig und vor allem sind es hier zwei Täterfiguren, die die Gesamtheit menschlicher Täterschaft in sich aufnehmen. Sie vereinen, verdichten zudem nicht nur verschiedene Täteraussagen über ein einzelnes historisches Ereignis, sondern umspannen eine Vielzahl an Ereignissen der jüngeren Geschichte und zeichnen so ein Bild menschlicher Grausamkeit, das über einen konkreten Moment hinausreicht. „Die Ermittlung“ ist eines der meistgenannten Beispiele für das sogenannte dokumentarische Theater – ein Gattungsbegriff, der ebenfalls wie ein nicht aufzulösender Widerspruch klingt. Beide Werke bewegen sich in den Zwischenräumen, aber in beiden Fällen ist zentral (und womöglich ist das schon die Grundbedingung des Dokumentarischen), dass sie (wenn auch in bearbeiteter, verfremdeter, abstrahierter Form) von etwas berichten. Ihre Anbindung an die Wirklichkeit, an historische Ereignisse gibt ihnen Dringlichkeit und konkretisiert die Überlegungen zur Täterschaft.
So lassen sich auch in De Facto gelegentlich einzelne historische Bezüge identifizieren, wenn die Erzählungen an bekannte Verbrechen, etwa in den deutschen Konzentrationslagern oder in den Foltergefängnissen in Abu Ghraib, erinnern. Die beiden Akteure sind jedoch nie konkrete Täterfiguren, sie repräsentieren, verkörpern und reflektieren in ihren Monologen das Konzept der Täterschaft im Allgemeinen. Verkörpern ist dabei ein entscheidender Begriff. Die Sprache der geschriebenen Monologe wird durch den Schauspielkörper medialisiert vermittelt. Was macht diese Erfahrung, dieses sprachliche Reenactment mit den Akteuren? Sie bieten die Projektionsfläche, die das Nachdenken über Täterschaft in der jüngeren Menschheitsgeschichte in De Facto ermöglicht. Dafür müssen sie es ertragen, bis zu halbstündige Monologe über menschliche Grausamkeiten und deren Rechtfertigungen durch ihren Körper fließen zu lassen. Sind monotone Vortragsweise und das Sprechtempo, das wenig Raum zur Verarbeitung des Gehörten und des Gesprochenen lässt, Distanzierungsmechanismen der Akteure? Ist solch eine Distanzierung überhaupt möglich? Kann das durch Sprache vermittelte Reenactment der Gewalt der Wirklichkeit näherkommen, als es das Nachstellen einzelner Taten könnte? Man könnte an Brechts Schauspielideal denken: der Schauspieler, der seinen Text und in weiterer Folge auch seine Rolle nicht als seine(n) eigene(n) annimmt, sondern bloß zitiert. Das scheinen die Figuren in De Facto fast vorzugeben. Wie sollte es schließlich möglich sein, sich mit ihnen zu identifizieren? Der Text verlangt die Distanz. Und doch bleibt es interessant, zu beobachten, wie die beiden Akteure auf die Grausamkeiten reagieren, die ihre Körper hervorbringen. Auch das ist Brecht: nicht nur die einfache Distanzierung des Schauspielers zu seiner Rolle, sondern gleichzeitig auch seine Positionierung zu ihr. Es ist unmöglich, sich mit den De Facto-Texten zu identifizieren, aber genauso wenig ist es möglich, sich nicht zu ihnen zu verhalten, ihnen nicht widersprechen zu wollen. In der vorletzten Einstellung schließlich beginnt die Sonne unterzugehen, das Bild verdunkelt sich, das Gesicht von Akteur 2 verschwindet immer tiefer im Schatten. Die Dauer des pausenlos in scheinbar gefühlloser Stimmlage vorgetragenen Täterberichts wird hier greifbar. Damit einher geht die körperliche Anstrengung, die sich mit zunehmender Dauer immer häufiger in Form von kleinen Versprechern und Korrekturen der Akteure manifestiert (auch das vielleicht Symptome einer Ablehnung des Gesagten?). Längst haben sie sich von den detailreichen wie brutalen Schilderungen konkreter Taten entfernt, die noch in den ersten Einstellungen im Sekundentakt aufeinanderfolgten. Stattdessen bewegen sie sich nun auf einer abstrakteren, reflektierenden Ebene, wenn sie über Gerichtsverfahren und Zeugenschaft sprechen und ihre Taten in Kontexte philosophischer Theorien einbetten. Der Tag endet also und schließlich auch der Film. Aber nichts deutet darauf hin, dass damit auch die Gewalt ein Ende findet. Die beiden Akteure könnten die ganze Nacht hindurch weitererzählen, vielleicht reden sie immer noch.
(Der Text entstand im Rahmen des Schreibworkshops bei der Diagonale 2023.)