Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Stadtschritte

Eine unbekannte Stadt durchwandernd merke ich: es ist die Stadt, die den Rhythmus der Schritte diktiert, sie am Kino vorbei ihre Straßen hinunterpumpt. Die Art meines Gehens, meines gehend Erforschens wird von ihr aufgezwungen und unterscheidet sich je nach Stadt. Unser Schritt kann nicht als Schablone gelten, an unterschiedlichen Orten angesetzt, so messend, prüfend, vermerkend; der Schritt als fixierte Einheit, die sich dem zu Messenden aufdrückt, es gar maßregeln will, Abstände für zu groß, zu klein befindet. Unser Schritt muss sich anpassen, anschmiegen an die Stadt, ihre Abstände, ihren Rhythmus: muss sich synchronisieren. Der Schritt, die Stadt zunächst unterwerfend, gerät zur Stadt selbst; der urteilende Schritt entledigt sich seines Urteils und muss sich stattdessen selbst rechtfertigen, versucht, seinem Beurteilten gerecht zu werden.

Die Schritte, einmal in den Bann der Stadt gebracht, die sie sich einverleibt, zu den Ihrigen umwandelt, lassen sich nun von ihr lenken; sie steuert und übernimmt die Entscheidungen, die sich aufdrängen. Sie bestimmt die Geschwindigkeit der sie Durchwandernden, bestimmt, wo zu rasten und wo zu beschleunigen sei, wo umzukehren und wo innezuhalten; sie lässt Füße sich tief in den Boden graben, schwer, darin versinkend, abknickend; oder lässt drüber schweben, drüber hinwegfegen, ihn kaum berührend; lässt ihn sanft abtasten, seine Formen, seine Kanten, Dellen liebkosend, oder ihn grob, unwirsch durchprügeln, zertreten, durchlöchern, als wären die Füße stählerne Waffen, die wütend sich einschnitten, einritzten. Angetrieben von der Stadt – ihren Alleen, Märkten; ihren Grünflächen, bröckelnden oder sterilen Fassaden, Fenstern und Jalousien, die da zureden; ihren Verbindungswegen, Baustellen, Sitzflächen, Hochhäusern, Gehsteigen; ihren Menschen, ihrem Wetter – streunt man dann entweder Hauptstraßen entlang, durchquert weitläufige Industrieareale oder hält sich vielmehr an Schleichwege, an verborgene, verlorene Ecken; bewundert jenes Endlose, Ausschweifende, umgeben von geschäftigem Knattern und Dröhnen, ununterbrochenem Werkeln und Rumpeln, oder bewundert dieses unerwartet Einsäumende, Stille, Intime, das sich hier plötzlich eröffnet, begleitet vielleicht von Vogelgesang oder leisem, unheimlichen Rauschen, Säuseln und Gemurmel, das einem der Wind zuträgt.

Zu Fuß erkundet bewegt sich die Stadt, während sie stillsteht. Ihr Pochen kommt in unserem Bewegen zum Ausdruck, ihre Lebensadern artikulieren sich in unserem Abschreiten; zugleich aber verändert sich ihr Bild für uns von Schritt zu Schritt kaum. Ihr Anblick bleibt nach einem ihrer Pulsschläge, nach einem unserer Schritte fast derselbe. Ein Schritt in der Stadt ist gleich dem Aufeinanderfolgen zweier Einzelbilder im Film: er ergibt mehr vom selben, aber anders. Eine Ansicht weicht der nächsten, erneuerten, selben. Ein Bild aktualisiert sich, birgt seinen Nachfolger in seiner Wiederholung; ohne diese Wiederholung wäre es nicht als Bild erkenntlich.

Nicht nur deswegen ist der Film die Stadt. Jenes beschriebene Einverleiben, Synchronisieren, Lenken, Manipulieren, für sich Vereinnahmen: es ist die gleiche Operation, die ein Film uns gegenüber wahrnimmt. Das spontane Urteil des Auges, welches ein Bild zunächst messen und maßregeln will, entfällt, sobald das Sehen zum Bestandteil des Filmes wird, sobald das Sehen ihm gerecht zu werden hat; ein starres, verkrustetes Sehen weicht einem elastischen Sehen. Der Film steuert die Art seines Abgetastetwerdens; bestimmt, wo sich der Blick verfängt, verheddert, und wo er flüchtig nur hinweghaucht, unruhig nach Fortsetzung geifernd. Jeder Film hat seine Alleen, prunken Fassaden: schaut her!, die sich in unserem Blick sonnen, sich wohlig darin wälzen und gar nicht genug davon bekommen können; ebenso seine verborgenen Winkel, kaum betreten, mit sandigem Untergrund, von Pfützen durchsetzt; und er bestimmt, wie er uns hin- und hertreiben mag von Allee zu Verwinkelung; bestimmt, ob die Zeit reicht, zu rasten, oder ob die Distanzen so groß sind, dass wir zügig voranzutreiben brauchen; ob wir voranstolpern, panisch vielleicht ins Rennen geraten, dazu veranlasst, ihm zu misstrauen, hilflos einen Orientierungspunkt suchend, den er uns mitleidig gönnt oder hämisch verweigert. Er bestimmt, ob wir uns in ihm verlieren sollen oder ob er nichts als Wegweiser, als Leuchtröhre ist, von weither strahlend, ein Strahlen aber, das mitunter wunderschön oszilliert, und dem wir uns bereitwillig hingeben, betört.

Der Schritt in der Stadt beschreibt also sowohl die Sakkaden des Auges, das sich Entlanghangeln und Orientieren an einem dargebotenen Bilderstrom, als auch den Zwischenraum zweier Bilder auf einem Filmstreifen.