Der prismatische Schatz und das Hinreichende der Dichtung: Bad Ma Ra Khahad Bord von Abbas Kiarostami 

Ich blicke in die weite Landschaft meines Bildschirmes, als würde ich selbst im Wind stehen und die frische, mit Sauerstoff angereicherte Bergluft einatmen. Ich lausche den tanzenden Getreidehalmen im Wind, erkenne nur noch einen gelben Reigen. Mit einem Mal entdecke ich ein Auto, das sich über die Kurven der erdigen Schuttwege schlängelt. Der Auspuff des Fahrzeuges vermengt sich mit aufsteigendem Staub. Das Bild wird von der sich mühsam entlang der Straße kämpfenden Maschine durchquert. Herabblicken und in die Ferne blicken. Hinaufblicken und nur bis zur nächsten Kurve blicken.

Wir blicken immer nur dorthin, wo uns Abbas Kiarostami in langen, niemals langwierigen Einstellungen mit hinnimmt. Wir folgen dem Blick der Kamera, die der Hoch-Runter-Reise des Ingenieurs Behzad folgt. Ob schnellen Schrittes quer durch das iranisch-kurdische Dorf Siah Dareh, bestehend aus in Erde getönte Lehmhäusern, die sich im Tal der Berge tarnend einnisten oder mit Telefon zwischen Ohr und Schulter das Auto um die Kurven lenkend, der Ingenieur bewegt sich, ohne jeglichen Ertrag seiner Tätigkeit. 

Aus Teheran angereist, werden Behzad und sein Team wohlwollend aufgenommen. Den wahren Grund ihrer Anreise, nämlich eine Reportage über die seltene Trauerzeremonie, wie sie in Siah Dareh vonstatten geht, zu drehen, bleibt verhüllt. Immer wieder erkundigt sich Behzad über den aktuellen Krankheitsstand einer im Sterben liegenden alten Frau, um auf die Aussicht einer Abreise zu hoffen. 

Alleinstehende dichtgrüne Bäume verweilen in der staubigen Hügellandschaft, und lassen so einen Funken natürlicher Fruchtbarkeit erhoffen. Behzad muss immense Höhenunterschiede, die sich in dem Maß seiner Aufrichtigkeit niederschlagen, überwinden, um seine Doppelmission aufrechtzuerhalten. Der Friedhof scheint der einzige Ort in der endlosen Wellenlandschaft gelber Getreidehalme zu sein, an dem es Empfang gibt. Hier steht Herr Ingenieur auf dem höchsten Punkt des umliegenden Gebirges und kann ungestört telefonieren. Der Weg nach oben, weg vom Dorf, als Ort der Ehrlichkeit, wird sein routinierter Weg zur Telekommunikation werden. Die Misskommunikation durch Gespräche am Telefon ebnet den Weg zur Unwahrheit. Immer wieder, während er sich auf die lokalen DorfbewohnerInnen einlässt, wird er von aufdringlichen Telefonaten unterbrochen und muss schnellstens zum Auto, um diesen Punkt in der Höhe zu erreichen. Von diesem Hügel aus, blickt er auf einen Arbeiter, der scheinbar tagtäglich mit dem Schaufeln eines Grabens beschäftigt ist. Wir sehen nur den Blick des Ingenieurs in die Tiefe, neben ihm der aufgekochte Teekessel des Gräbers, nie den Gräber selbst. Er erzählt, er grabe, um den Empfang herzustellen. Der Gräber ist die allegorische Verkörperung der hart arbeitenden, sterblich verliebten Figur Farhad aus dem altpersischen Liebesepos Chosrau und Schirin. Farhad steht vor der eigentlich unmöglichen Aufgabe, eine Schlucht durch einen Berg zu graben. Er meistert diese Aufgabe durch seine Liebe zu Schirin. Noch heute ist im gängigen persischen Sprachgebrauch Farhad als eine Person mit übernatürlicher Leistungsfähigkeit gemeint. Als Gegenexemplar zu „Farhad“ steht Herr Ingenieur, der während seines geschäftlichen Aufenthaltes in Siah Dareh, vor Langeweile überhitzt.

Die mysteriösen Anrufe geben den Anschein, es handele sich um eine äußerst wichtige Sache, das wohl einem geheimnisvollen Schatz gleicht. Gleichzeitig hören wir die banalen Antworten des Ingenieurs, die so inhaltslos wirken, dass man sich kurz die Frage stellen muss, warum man überhaupt zuhört.

Der Hang, an dem sich der Ingenieur stets alleine aufhält, ist der Ort seiner Unehrlichkeit. Alles, was hier unter ihm liegt, ist ehrlicher: der unsichtbare Gräber, der starke Käfer, die arme Schildkröte, das gesamte Dorf, sein kleiner Reiseführer Farzad und selbst seine Kollegen, die vor Langeweile kaum ihre Unterkunft verlassen.

Der junge Farzad verkörpert die kindlich-naive Reinheit. Ein wohlerzogener Junge, vielleicht 8, höchstens 11, der seine Pflichten zu erledigen weiß, der seine Schulbesuche und Arbeit auf dem Familiengrundstück mit einer Ernsthaftigkeit pflegt, die den Herrn Ingenieur befremdet. Kinder, die wie Erwachsene sind und alte Menschen, die wie Schildkröten in ihrer Langsamkeit nicht zu sterben scheinen. 

Herr Ingenieur und seine nicht-sichtbaren Kollegen verraten niemandem, warum sie nach Siah Dareh gefahren sind, sondern geben sich als Schatzsuchende aus. Die Gastfreundschaft des gesamten Dorfes, das Leiden um die erkrankte alte Dame und die Naivität Farzads werden von ihrer geheimen Intention beschmutzt. Sie warten regelrecht auf den Tod einer Erkrankten, um die seltene Tradition der Trauerzeremonie in Siah Dareh einzufangen. Es ist das Dorf der Schildkröten, die sich ihre Zeit nehmen, um Dinge zu erledigen, die gemacht werden müssen, damit das Zahnrad des kollektiven Zusammenlebens weiter kreist. Es ist eine Gemütlichkeit, die gesünder scheint, als die gestresste Schnelligkeit des Herrn Ingenieurs. Dieser scheut sich nicht davor Schildkröten aus eigener „Überhitzung“, wie er sagt, umzulegen. 

Es gibt eine ganz besondere Szene, in der Behzad scheinbar kurzzeitig vergisst, warum er in erster Linie in Siah Dareh ist (seine Kollegen haben ihn sowieso schon stehenlassen) und sich auf ehrliche Art seinem „Forschungsfeld“ hingibt. Die Szene zeigt, wie der Herr Ingenieur von dem lokalen Arzt auf dem Motorrad mitgenommen wird, während dieser ihm seine Philosophie des Lebens und der Natur näherbringt. Sie fahren durch die gelbe, vom Wind geformte Getreideweite, dabei rezitieren sie gemeinsam einen Vierzeiler aus Rubaiyat1 von Omar Khayyam. Hier sehen wir, wie zwei eigentlich Fremde sich durch Poesie verständigen. 

گویند کسان بهشت با حور خوش است

من می‌گویم که آب انگور خوش است

این نقد بگیر و دست از آن نسیه بدار

کآواز دهل شنیدن از دور خوش است

Du sprichst mir von Huris2, vom Paradiese,

Von Eden lusterfüllter goldner Wiese.

Geh, nimm den Pfennig hin und laß mich gehn-

Von ferne nur hört sich die Trommel schön.

They tell me the other world is as beautiful as a houri from heaven

Yet I say that the juice of the vine is better 

Prefer the present to those fine promises

Even a drum sounds melodious from afar.3

Ihre Kommunikation durch das Gedicht ist wahrhaftig und aufrichtig. Sie treffen sich auf derselben Ebene, sprechen gleichzeitig die selben Worte aus und spüren, dass sie sich für diese paar Sekunden blind verstehen. Der Protagonist muss nicht, wie sonst, die Ebene wechseln, um zu kommunizieren. Das erste Mal begegnet er einem Menschen aus dem Dorf auf Augenhöhe. Dieses Zusammentreffen lässt die Szene unter all den ehrlichen Szenen herausstechen. 

Während sie also auf dem Motorrad durch die frische Luft der Weizenfelder fahren, fragt Behzad, ob es stört, wenn er eine Zigarette raucht, da die Luft ja so sauber sei. Daraufhin antwortet der Arzt lachend, dass es weit mehr als seine einzelne Zigarette brauche, um die Luft dort zu verschmutzen. Der Ingenieur selbst könnte die Zigarette für das Dorf Siah Dareh sein, das in Form von schädlichem Rauch zwar eindringt, aber weitaus nicht genug auswirken wird. 

Indem Abbas Kiarostami mit Titel und der Landschaftsstimmung das gleichnamige Gedicht von Forugh Farrochzad rezitiert, entfaltet sich die universelle Sprache der Lyrik in ihrer medienübergreifenden Form und pointiert den persönlichen Stellenwert von Gedichten für Kiarostami als die Basis aller Künste. Im Einklang mit Heidegger, der „Alle Kunst (ist) als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung“ sah, vergleicht Kiarostami das Gedicht mit einem Prisma: eine einfache geometrische Form wird erst durch Lichteinfall (des Betrachtenden) in ihrer Komplexität und Mannigfaltigkeit sichtbar. Einfache Zeilen können bei LeserInnen (trotz Unverständnis) ein unerklärliches Prisma an Gefühlen oder Gedanken auslösen. 

Neben den üblichen kiarostamischen Themen wie Leben, Tod, Gut, Böse und dem Sinn der Existenz, zeigt Bad Ma Ra Khahad Bord über einen klaren Weg die Höhenunterschiede zwischen der Kommunikation durch das Telefon und der Kommunikation mithilfe von Gedichten und plädiert auf die Reinheit der Kommunikation nach dem Vorbild von Siah Dareh, im Sinne der Natur. 

Der übersetzte Titel „the wind will carry us“ klingt wie die Natur des intuitiven Ehrlichseins. 

Leichtigkeit kann sich vom Wind tragen lassen. Sobald eine Last sich aufbürdet, fallen wir. Lügende müssen sich in dem starren Geflecht ihrer Lügen entlang von Kabelmasten durch die Luft schlängeln, immer mit dem wachsamen Auge auf einen möglichen Elektroschock wartend. 



1 Rubaiyat bedeutet „Vierzeiler“ auf arabisch und ist vor allem in der persischen Literatur eine beliebte Gedichtform, bei der jeweils die Zeilen 1,2,4 denselben Reim haben (a a b a)

2 paradiesische Nymphe (nach islamischem Glaube)

3  in diesem Fall ist, finde ich, die englische Übersetzung näher am Original 

We Cannot Stay: Women Talking von Sarah Polley

Wie würde es sich anfühlen, wenn es nie relevant wäre, was du denkst?

Von Anfang bis Ende, sind mein Blick, meine Gedanken, mein Körper von Sarah Polleys neuem Film eingesogen. Er zeigt ein intensives, sinnlich erlebtes Kammerspiel mit Frauen einer Mennoniten-Kolonie. Sie alle haben denselben Akt einer Brutalität erfahren, jede von ihnen pflegt jedoch einen anderen Umgang mit dessen Folgen. Ihre jeweiligen Erfahrungen vereinigen sich nach mehrtägiger Diskussion zu einem Gruppenkonsens. Es geht um das Abwägen von Fight oder Flight. Beides natürliche Abwehrreaktionen auf eine Gefahrensituation. So steht es um den Film; aber auch um uns als Zuschauende. Es sind düstere Bilder, die entsättigt um das Überleben kämpfen. Sobald wir wegschauen, sterben die Gedanken der Frauen.

Wie würde es sich anfühlen, wenn du nie die Worte hättest, um das Geschehene auszudrücken?

Women Talking zeigt die Lebensrealität von Frauen einer religiösen Gemeinschaft und bestärkt ihre Handlungsfähigkeit, indem sie als Heldinnen geehrt und nicht als Opfer entmächtigt gezeigt werden. Sie interessieren sich nicht für das Geschehene, sondern richten ihren Blick auf das Mögliche, indem sie eine bessere Ungewissheit imaginieren: die Ferne. Sie treten in das Unbekannte, mit der Hoffnung auf Vergeben-Können und mit dem Wissen um ihre Selbstbestimmung. Für sich, wie auch die nachfolgenden Generationen. À la Hildegard von Bingen sind sie sich einig, ihre Bestimmung bestünde im Fortgehen. Eine Bestimmung, die auf Pros und Contras fußt. 

Wie würde es sich anfühlen, wenn dir nur noch Schweigen übrig bleibt?

Die offene Darlegung der unverblümten Realität gleicht einer philosophischen Debatte, die nach demokratischen Devisen agiert. Die Aussprache, die um eine Lösung aus einer von Männern geforderten Unterwerfung ringt, wird von August, Onas Vertrautem protokolliert. Bis auf die kleinen Jungen der Kolonie, ist er der einzige Mann, der im Film überhaupt gezeigt wird. Nur die Stimmen derjenigen erklingen, die durch Betroffenheit berechtigt werden. Als einzig Verbündeter der Frauen, der lesen und schreiben kann, ist er Teil der Sitzungen, nimmt jedoch keinen Raum in der Debatte ein, redet nur, wenn er gefragt wird. Er ist als Einzelperson eher die Ausnahme als die Regel und kann als Gegenbeispiel einer misogynen Brutalität gelten. Das Protokoll ist die manifestierte Schrift ihrer Gedanken und soll im Weiteren den Jungen der Kolonie als Lehrbuch dienen.

Wie würde es sich anfühlen, wenn dein Körper durch andere regiert würde?

Starke Frauen (ein Ausdruck, den ich als Beschreibung eigentlich verabscheue, denn es impliziert, dass es bei Frauen besonders zu betonen gilt und allgemein Stärke eine anstrebende Eigenschaft sei. Ich meine hier stark – im Sinne von gegen etwas standhalten), die in keiner Weise die Hoffnung aufgeben. Beachtliche Stärke der einzelnen, die einschüchtert. Stärke der Gruppe, die durch das füreinander und untereinander Zusammenhalten entsteht. Stärke, die Sicherheit spendet. Stärken, die sich gegenseitig bedingen können. Sobald eine Frau aus dem Bunde zu zweifeln beginnt, fängt die Gruppe sie auf. Die Gruppe verwandelt sich in die tröstende, singende Mutter für das weinende Kind. In Momenten der emotionalen Übernahme, nehmen sie sich an den Händen, flechten ihre Haare, bilden einen Frauenzirkel und bedienen sich ihrer Stimmbänder. Ihre recht unterschiedlichen Stimmen beginnen zu schwingen, wenn Raum da ist. Der Tonus des Films wird durch die Frauen erzeugt, deren Bestimmtheit einen Klangkörper bildet, der Raum und Stimme hervorbringt. Die Scheune als Raum und die Aussprache als Ton formen das Innere des Films als Resonanzkörper unerhörter Stimmen. Wir werden in die dynamische Komplexität der Gespräche geworfen. Mal gefüllt mit argumentativen Hochleistungen, mal mit aggressiven Einzelkonflikten, mal emotionalen Ausbrüchen. Alles ist berechtigt, alles wird toleriert.

Wie würde es sich anfühlen, wenn dir deine Identität genommen wird?

In der Ferne müssen sie sich überlegen, wer sie eigentlich ohne die Unterdrückung von Männern wären. Ihre Identität wurde ihnen gestohlen. Die Entscheidung zwischen kämpfen und fliehen ist die einzige Wahl, die sie je gehabt haben. Der Satz „leaving because we cannot stay“ lässt alles Vorherige einstürzen. Psychoanalytisch gesprochen besteht der zentrale Konflikt psychischen Lebens zwischen Wissenwollen, getrieben von Neugierde und dem Wunsch nach Nichtwissenwollen. Wissenwollen kann oft schmerzhaft sein, aber die eigenen Grenzen erweitern. Während das Nichtwissenwollen eine Abwehr der Neugierde darstellt und oft durch unbewusste Verdrängung eingeleitet wird. So wie ein Kind die Umwelt erst sorglos erforschen kann, wenn es durch die Bindungsperson ein Sicherheitsgefühl vermittelt bekommt, kann Neugier erst richtig entfaltet werden, wenn wir uns sicher fühlen. Ich denke, dass die Frauen das Verlangen des Wissenwollens wagen, weil sie sich die Sicherheit (gezwungenermaßen) gegenseitig geben. Indem sie die Kolonie, die Männer und Söhne verlassen, gewinnen sie die Lust am Entdecken wieder. Verlassen kann wohl eher Vergebung versprechen.

Trotz des für mich intensiven Erlebnisses, war der Kinobesuch ein gesellschaftliches Desaster. Women Talking besetzte mehr Rollen, als Zuschauende an jenem Abend. Während der Saal, bis auf wenige Plätze, leer war, schluchzten meine Begleitungen und ich zwischendurch mit. Auch für uns ist es ein Kämpfen oder Fliehen. Hinschauen schmerzt mehr als Wegschauen.

I only see good things: Hahaha von Hong Sangsoo

Der Film Hahaha von Hong Sangsoo verleiht mir ein Gefühl von Leichtigkeit und Sich-Lenken-Lassen-Können. Nacheinander eingeblendete Standbilder, großformatige Gesichtsausdrücke und Gesprächsfetzen im Off. Stakkato-Bilder, die sich zur Aufgabe machen, Lücken zu bewahren, um das Fantasieren zu aktivieren. Moon-kyung und Joong-sik, zwei alte Freunde treffen sich eines Nachmittags auf unzählbare Runden Soju, während sie sich Anekdoten von ihrem Aufenthalt in Tongyeong, einer überschaubaren Hafenstadt in Südkorea, erzählen. Rückblenden ihrer gemeinsamen Erinnerungen durchziehen den Film. Diese bestehen hauptsächlich aus vergangenen Liebesaffären, die sie zu amüsieren scheinen. Ihre Gegenwart dagegen, wird in Schwarz-Weiß-Standbildern und Voiceover Dialogen gezeigt. In solch comichaften Einschüben werden die Betrachtenden in ein lockeres Gespräch über die voneinander unabhängigen Reisen nach Tongyeong geworfen, in dem über Frauen geredet und über Situationen gelacht wird. Der stilistische Bruch zwischen den beiden Zeitverläufen spaltet Erzählungen von realen Handlungen. Immer weiter löst sich das eigentlich Gesagte vom wirklich Geschehenem. Durch die in Farbe gezeigten Rückblenden habe ich die Möglichkeit, das Gesagte mit dem Gezeigten zu vergleichen. Die Entfremdung von der Wahrheit legitimiert das pathetische Vertuschen realer Gefühle. Geht es um Selbstdarstellung oder das Unvermögen, die Wahrheit anzuerkennen? Kann man Wahrheiten bloß sehen oder muss man sie wissentlich kennen? Im Nachhinein könnte man meinen, Szenen voll Kummer sind nur Nichtigkeiten, über die man später lachen kann. 

Im Laufe des Films durchkreuzen sich Liaisons, indes die zwei Männer immer betrunkener werden. Die Art, wie sich die Männer in ihren Erzählungen darstellen und die Weise, wie sie in den jeweiligen Situationen gefühlt haben, entsprechen sich nicht. 

Der Witz besteht darin, zu merken, dass Moon-kyung und Joong-sik sich gegenseitig derart blenden, ohne zu sehen, dass es sich in ihren Geschichten um die selben Personen handelt. 

Ich finde es bemerkenswert, wie Hong Sangsoo die Geschichten über Liebesbeziehungen und Affären der beiden Freunde in ein zusammenhängendes Geflecht von zufälligen Begegnungen münden lässt. Es sind Zufälle, die nur wir (diejenigen, die Zusehen) ahnen können. Zufälle, die den Akteuren Moon-kyung und Joong-sik vorenthalten bleiben. Ich stehe in der allwissenden Rolle gegenüber ihrer fragilen Männlichkeitsidee. Im Sinne von „the less you know – the more you see“ wirken wir nichtsahnend als RichterInnen der Wahrheit inmitten männlichen Imponierens und Beschönigens. Die beiden lachen miteinander, blind der Tatsache, dass sie eigentlich übereinander lachen. Die Austauschbarkeit des „anderen“ Kerls wird unweigerlich deutlich. Wer von ihnen ahnt schon, der „Andere“ sei man selbst? 

Eines Tages schenkt Moon-kyung seiner Mutter die rote Kappe, die er sonst immer auf dem Kopf trägt. Sie gibt die Kappe weiter an den jungen Dichter Jeong-ho. Dieser führt eine Liebschaft mit So-ri, von der Moon-kyung eigentlich sehr angetan ist. Moon-kyungs Mutter nimmt eine allgemeingültige Mutterrolle für alle Beteiligten ein, die verdeutlicht wird, wenn sie Jeong-ho auffordert, er solle sie doch Mutter nennen. Es ist die Umkehrung der Austauschbarkeit, die wir eigentlich von den Männern des Filmes kennen. Eine Mutter, die ihr eindeutig zugeordnetes Kind hat, fängt an, dieses, zumindest zeitweilig auszutauschen. Indem sie das Geschenk ihres Sohnes weiter verschenkt, ist die Kappe für die Mutter so austauschbar wie Frauen in den Erzählungen des Sohnes.

Nicht austauschbar ist der gewählte Filmdrehort: Tongyeong gibt den Handlungen den gewissen Windstoß, umschließt atmosphärisch die Begegnungen. Wohl beiläufig spielt der Film an ein paar wenigen Orten innerhalb Tongyeongs, die abwechselnd von verschiedenen ProtagonistInnen dekoriert werden. Menschen sind selbst für Orte austauschbar. 

Während Moon-kyung immer mehr an seinem Liebeskummer zu verzweifeln scheint, besucht ihn die historische Figur des Admirals, dem als regional gefeierter Held viel Achtung geschenkt wird. Im Traum nimmt der Admiral eine beratende Rolle, fast schon die des Vaters ein. Seine Weisheit veranlasst Moon-kyung, vor ihm in die Knie zu fallen. Daraufhin der Admiral: „Believe with your own eyes“.

Es eröffnet sich die große Frage vom Wechselspiel des Sehens und Wissens. Wie können wir dem trauen, was wir sehen? Der Film spielt auf komödiantische Weise mit dem Sehen als ein unvoreingenommenes Wissen. Im weiteren Sinne mit Wahrheit und Lüge. Auch die Wahrheit ist schließlich austauschbar. Die Männer werden öfters von ihren Frauen als Lügner beschuldigt. Aber ist ein Lügner nicht vielleicht ein Fühlender, der nicht sehen kann? Oder ein Verdränger allen Übels? – ein Nichtsahnender? 

„You only see as much as you know“ oder „The less you know the more you see“?