This will all make sense: Über Magnolia und die Beatles

„This will all make sense, in the end.“

Das verspricht der Trailer von Paul Thomas Andersons Magnolia. Ein Ziel, das für einen Film, der in einer Laufzeit von drei Stunden die Geschichten von neun Personen erzählen will, gar nicht so leicht zu erreichen ist. Zudem beschränkt sich Andersons Film nicht damit, sich einem Thema zu verschreiben und alle Handlungsstränge durch ihre thematische Zusammengehörigkeit zu verknüpfen, sondern entwirft eine sich in viele Richtungen entfaltende Erzählung, deren Schwerpunkte sich immer wieder verschieben. Einsamkeit, Vergangenheitsbewältigung, Liebe, Tod und Unterdrückung sind Probleme mit denen sich jeder einzelne der Charakter auseinandersetzen muss. Die einzelnen Handlungsstränge spiegeln und kontrastieren sich dabei immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen. Und am Ende soll alles Sinn machen?

Wie es Anderson gelingt aus Magnolia einen befriedigenden und in sich völlig schlüssigen Film zu machen, kann man nicht vollends erklären; es verhält sich wohl wie mit fast allen guten Filmen: Der Film funktioniert – niemand kann erklären warum – aber er funktioniert. Und es ist schließlich dieses Unerklärlich-Magische, das uns immer wieder zu bestimmten Filmen zurückkehren lässt, die jede neue Sichtung zu einer völlig neuen Erfahrung machen.

Nichtsdestotrotz hat Anderson einen kleinen Hinweis hinterlassen, der seine Inspiration für den Aufbau von Magnolia erläutert und uns zu einer neuen Sicht auf den Film verhilft. In einem Interview mit The Montreal Gazette behauptet er, den sich an der Dramaturgie des Beatles-Songs A Day in the Life orientiert zu haben.

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A Day in the Life ist ein Lied, das sich gewissermaßen als etwas schizophren erweist: Die ersten beiden Strophen, geschrieben von John Lennon, sind von der dritten Strophe, die von Paul McCartney geschrieben wurde und sich inhaltlich und musikalisch stark vom Rest des Liedes unterscheidet, durch eine 24-taktige orchestrale Überleitung getrennt. Eine kurze Überleitung führt in die vierte Strophe, die sich stilistisch wieder zu den ersten Strophen passt. Das Ende des Liedes wird von einer Wiederholung der orchestralen Überleitung und einen unnatürlich lang ausgehaltenen Pianoakkord beschlossen. Die Struktur des Liedes führt zu einer musikalischen Verdichtung in der Überleitung zur dritten Strophe, die durch den Einsatz des großen Orchesters, das ein atonales Crescendo spielt. Nach dieser Verdichtung wirkt die einsetzende dritte Strophe als große Entspannung, dieser Eindruck wird auch durch den Text, der von Jugenderinnerungen McCartneys erzählt und in krassem Gegensatz zu den fast zynisch wirkenden aktualitätsbezogenen Passagen von Lennon steht, noch weiterhin verstärkt. Am Ende der Strophe leitet das Orchester, das zunächst der Harmonie des Liedes folgt, in den finalen Teil über, an dessen Ende es wieder zu einer Verdichtung der Musik kommt, die sich in einen langen E-Dur-Akkord löst.

Wir sprechen hier von Verdichtungen, Auflösungen, Wiederaufnahmen oder Reminiszenzen – Begriffe, die sich mit dramaturgischer Wirkkraft befassen und so auch auf den Film angewandt werden können. Beim Betrachten von Magnolia kann man sich nicht dem Eindruck entziehen, dass der dramaturgische Aufbau des Films, der Verlauf der einzelnen Spannungsbögen weiter von der theoretischen Norm abweicht, als es viele andere Filme tun. Die Struktur der Handlung und die Dramaturgie eines Filmes bedingen sich gegenseitig. Die Handlung von Magnolia ist – wie bereits erwähnt – thematisch nicht linear, daher bietet sich auch ein dramaturgischer Verlauf an, der nicht linear auf einen Höhepunkt zusteuert.

Spannend ist dabei zunächst die Frage, wie Anderson einzelne Szenen zu Paaren oder längeren Sequenzen zusammenführt. In einer Szene in der ersten Stunde des Films sehen wir den Krankenpfleger Phil (Philip Seymour Hoffman) am Bett des sterbenden Earl Partridge (Jason Robards) stehen. Plötzlich erhebt sich im Hintergrund der dunkle musikalische Nebel von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra. Sowohl Phil als auch die im Zimmer anwesenden Hunde scheinen auf die Musik zu reagieren, die vierte Wand wird für einen Moment durchbrochen, der Zuschauer tritt in kritische Distanz zum Film und plötzlich werden bildinhaltliche Verbindungen zu Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey offensichtlich. Diesen Moment nutzt Anderson um zu einer neuen Szene zu schneiden und in diesem Moment wird klar, dass die Musik von Strauss von Anfang an zur zweiten Szene gehört hat und dort einen Auftritt des Motivationstrainers Frank Mackey (Tom Cruise) einleitet. Anderson verbindet durch diese musikalische Klammer zwei Szenen fließend miteinander; dieser Verfahren ist nicht neu, aber die Expressivität der Musik und die ausgedehnte Länge dieses Übergangs führen zu eben jener kritischen Distanz, die den Blick auf die Konstruktion des Films offenlegt.

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Nach etwa einer Stunde kommt es zum ersten Mal zu einer starken dramaturgischen Verdichtung. Die Musik von Jon Brion tritt in den Vordergrund. Lang ausgehaltene, sich nach oben bewegende Akkorde erzeugen zusammen mit dem Mangel an melodischer Entwicklung an Spannung und steigern das Bedürfnis nach Auflösung beim Zuschauer. Der Rhythmus, in der von einem Handlungsstrang zum nächsten geschnitten wird, steigert sich in dieser Sequenz enorm, wobei dadurch verhindert wird, dass sich einzelne Handlungsstränge weiterentwickeln; der Film kommt zum Stillstand. An dieser Stelle zeigt sich, was Anderson mit seiner Aussage zu A Day in the Life gemeint haben könnte: diese Sequenz bildet ein Äquivalent zu der orchestralen Überleitung im Beatles-Song. Selbst die zeitliche Ausdehnung bewegt sich in Relation zur Gesamtlänge des Films in ähnlichen Verhältnissen wie die Orchesterpassage im Lied. Besonders auffällig ist jedoch die Positionierung dieser Sequenz im Film, erwartet doch der Zuschauer nach einer Sequenz das Ende des Films oder zumindest einen deutlichen Wendepunkt in der Handlung, der aber an dieser Stelle in Magnolia nicht eindeutig ausmachbar ist. Es ist ein Effekt der Täuschung, der auch in A Day in the Life umgekehrt auftritt: erwartet man im Film nach der Verdichtung einen Wendepunkt, wird im Lied nach der Überleitung eine weitere, ähnlich gestaltete Strophe erwartet. Anderson verkehrt also das dramaturgische Prinzip ins Gegenteil, um aber schlussendlich den selben dramatischen Effekt zu erzeugen.

Anderson schafft es also über die Musik die einzelnen Szenen des Films zu Paaren oder Sequenzen zu verbinden, um so die dramaturgische Struktur des Films zu erzeugen. Wir finden ausgedehnte dramatisch verdichtete Sequenzen an drei Stellen im Film, die seinen Aufbau dadurch in der Tat so bestimmen, dass er dem von A Day in the Life sehr ähnlich ist. Die zweite Sequenz tritt nach etwa zwei Stunden auf an dessen Ende Anderson ein Stilmittel aus dem Musiktheater übernimmt, indem alle Protagonisten des Films in einer Montagesequenz den Song Wise Up von Aimee Mann, der den Bildern unterlegt ist, mitsingen. Hier führt Anderson zwei zuvor bereits erwähnte Aspekte seiner filmischen Sprache zusammen: das dramatische Verdichten und das Durchbrechen der vierten Wand.

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Eine letzte Verdichtung gibt es kurz vor Ende des Films. Auf den verlassenen Straßen von Los Angeles bewegen sich die Protagonisten aufeinander zu und aneinander vorbei. Die einzelnen Handlungsstränge scheinen kurz vor ihrer Auflösung (zum Schlechten) zu sein, doch die Stimmung des Films kippt noch einmal und durch einen unerwarteten Wetterumschwung (ein plötzlich einsetzender Froschregen) setzen sich Ereignisse in Gang, die zu einem mehr oder weniger glücklichen Ausgang der Ereignisse für alle Protagonisten führen. In einer langsamen Montage werden noch einmal alle handelnde Personen vorgeführt und mit dem Song Save Me von Aimee Mann endet der Film. Insbesondere diese letzte dramatische Verdichtung weist viele Parallelen zur Gestaltung des Endes von A Day in the Life auf. Im Beatles-Song wird durch die Wiederholung des Orchesterübergangs noch einmal eine düster-dramatische Stimmung erzeugt. Das atonale Crescendo endet jedoch abrupt in einem völlig bewegungslosen, lang ausgedehnten Schlussakkord, der in sich keine neuen dramaturgischen Akzente setzt, aber gegenüber dem gesamten Lied eine wundervolle Schlusswirkung erzeugt.

Genau diese wundervolle Schlusswirkung wird auch von Magnolias Ende erzeugt: Die Wendung des Films zu seinem Ende hin schafft es den Zuschauer zu befriedigen und den Film als ein Ganzes abzuschließen, ohne all die Eindrücke, die zuvor vermittelt wurden, in ihrer Intensität zu schmälern oder den Handlungssträngen eine Eindeutigkeit zu geben. Magnolia „ergibt Sinn“. Nicht, weil der Film dem Zuschauer am Ende eine eindeutige Botschaft oder eine logisch-kausal schlüssige Auflösung der Handlungsstränge bietet, sondern weil er eine in sich geschlossene, stimmige Einheit bildet. Die Ambivalenz der einzelnen Handlungsstränge, die durch das Ende eher noch verstärkt wird, macht den Reiz von Magnolia aus. Die Unabhängigkeit der Handlungsstränge beizubehalten und gleichzeitig den Film als in sich geschlossene Einheit erfahrbar zu machen ist Andersons feinem Gespür für Dramaturgie zu verdanken. Mithilfe der dramaturgischen Vorlage A Day in the Life gelingt es ihm so ein absolut befriedigendes und dennoch nachdenklich stimmendes Werk zu schaffen, das am Ende jenes Versprechen einhält, welches im Trailer getätigt wurde: It makes sense, in the end.

Woher kommt Musik? Kreatives Schaffen in Mahler auf der Couch

Die klassische Symphonie ist ein Orchesterstück in vier Sätzen: schnell, langsam, mittelschnelles Menuett oder schnelles Scherzo und ein Finale. Ein relativ einfaches Schema, nach dem sich sehr schnell eine Komposition anfertigen lässt. Joseph Haydn hat 104 Symphonien komponiert, Wolfgang Amadeus Mozart in seinem kurzen Leben über 50. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich mit dem Schaffen Ludwig van Beethovens (insbesondere ab der 3. Symphonie Eroica) die Erwartungshaltung des Publikums an ein solches Werk. Es waren keine Stücke mehr gefragt, die streng den althergebrachten Schemata folgen, jedes Stück musste individuell und besonders sein. Diese Veränderung ist programmatisch für unsere heutige Wahrnehmung von klassischer Musik und klassischen Musikern.

Was ist ein Musikstück? Was ist ein Komponist und welche Bedeutung schreiben wir ihm zu? Gibt es so etwas wie ein Genie? Wie kommt es, dass neben der Musik plötzlich der Komponist als Individuum von solcher Bedeutung für uns ist?

Plötzlich kommen Fragen nach dem Prozess des Komponierens auf: Was muss in einem Menschen vorgehen, um Musik komponieren zu können? Ist es Eingebung? Sind es psychologische Prozesse? Und plötzlich kommt der Begriff des Genies auf; plötzlich kommt es auf der einen Seite zu einer Verklärung des Künstlers. Auf der anderen Seite jedoch entwickeln sich Theorien, welche die inneren emotionalen und kognitiven Prozesse eines Menschen untersuchen und mit der Zeit die Bilder von angeborener Standeszugehörigkeit oder Kriminalität verdrängen. Wie steht es mit angeborenem Talent?

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Viele Fragen und wenige Antworten darauf, deshalb scheint es gar nicht verwunderlich, dass es auch heute noch von relevant sein kann, einen Komponisten zum Psychologen zu schicken (und sei es nur fiktiv). Genau das machen Percy und Felix Adlon im Film Mahler auf der Couch: Nach einem Seitensprung seiner Ehefrau Alma sucht der Komponist Gustav Mahler Rat bei Sigmund Freud. Bei dieser Personenkonstellation scheint die Gefahr groß, in eben jene verklärenden Sphären abzuschweifen, wie es so viele kommerzielle Biopics tun. Allerdings gelingt es den Regisseuren, dieser Falle größtenteils zu entgehen.

Vielmehr beginnt der Film zwar im Stile eines historischen Films, doch scheint er sich nach und nach diesen Ansprüchen immer weiter zu entziehen. Die abgebildete Wiener Gesellschaft, die eigentlich mehr einem Konglomerat aus Künstlern und Mäzenen verschiedenster Altersklassen und Berufsfelder gleicht, scheint sich einer zeitlichen Einordnung zu entziehen. Zwar sprechen die Interieurs der Häuser und die Kleidung der Personen eine eindeutige Sprache, doch werden sie durch den Stil des Films, in dem Szenen immer wieder durch Einschübe von Interviews (inklusive Bauchbinden), plötzlichen Jump-Cuts und Verwendung von unnatürlicher Beleuchtung aufgebrochen werden, konterkariert. Diese gewagte Kombination funktioniert nicht immer und oft scheint sich der Film gewaltig im Ton zu vergreifen, doch ermöglicht sie uns eine Wahrnehmung des Gustav Mahler als menschliches Individuum einerseits und als Sinnbild für den künstlerisch-kreativen Menschen andererseits.

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Es wird also zwei Fragen nachgegangen, die sich schlussendlich doch als eine erweisen: Was für ein Mensch war Gustav Mahler? Wie ist kreatives Schaffen möglich? Dass dabei auch das Bild eines Genies und das Bild des Genies im Allgemeinen kritisch hinterfragt wird, ist unausweichlich. Es ist schade, dass es Mahler auf der Couch am Ende nicht völlig gelingt, sich von einer verkitscht-idealisierten Darstellung des Künstlers zu entfernen. Dennoch bleibt die Fragestellung interessant. Wir erleben Mahler in Zeiten des Leids und (sehr wenigen) Zeiten des Glücks, wobei es dem Film vor allem im Zweitgenannten gelingt, eine emotionale Tiefe zu erreichen, die für kurze Momente die Antworten auf obengenannte Fragen in greifbare Nähe rücken lässt. Als Mahler seiner Frau den Beginn des Adagietto aus seiner fünften Symphonie überreicht und beim Lesen der Partitur in Almas Kopf die Musik dazu entsteht, können wir als Zuschauer nur mit ihr antworten: „Himmlisch, Gustav.“. In diesem Moment wird der Musik Mahlers jener Platz eingeräumt, den sie braucht, um sich entfalten zu können, das Schauspiel von Johannes Silberscheider und Barbara Romaner trägt sein Übriges dazu bei. Leider erreicht Mahler auf der Couch nur selten eine solche Tiefe. Es hätte dem Film vermutlich gut getan, der Musik etwas mehr Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung zu geben, wie es zum Beispiel Luchino Visconti in Morte a Venezia macht. Ich sage das nicht, weil ich so gerne Mahlers Musik höre, sondern weil solche Momente uns etwas zu verstehen geben, was man nicht in Worte fassen kann. Es wird für uns greifbar, was Musik ist, was es bedeutet, Musik zu hören und vielleicht sogar, woher Musik kommt.

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Natürlich kann man versuchen – und das wird in Mahler auf der Couch auch getan – über Psychologie solchen Fragen auf den Grund zu gehen, doch wird dieser Weg zu keinem Ergebnis führen. Das Zusammenleben von Alma und Gustav Mahler wirkt wie ein einziger kreativer Schaffensprozess; es ist das Betrachten des Anderen, das uns wieder in die Selbstreflexion zurückwirft, aus der wir schließlich unsere kreative Kraft schöpfen können. Dass der psychoanalytische Prozess des Sigmund Freud der Katalysator zum Auslösen einer tiefen Selbstreflexion wird, ist ein guter Einfall, doch begehen Percy und Felix Adlon den Fehler, alle Fragen, die Mahler an sich selbst stellt, mit einer einzigen Antwort aufzulösen. Alle Motivation des Handelns eines Menschen auf einen Punkt zurückzuführen wirkt nicht nur absurd, sondern leistet dem Rest des Filmes (trotz seiner Makel) keine Genüge.

So hinterlässt Mahler auf der Couch am Ende einen fahlen Beigeschmack. Zwar bringt er uns einige interessante Fragestellungen nahe, doch schafft er es nicht, sich völlig darauf zu fokussierten und begnügt sich leider auch nicht damit, Fragen unbeantwortet zu lassen.

Musica italiana: Alessandro Cicogninis Kompositionen für Vittorio de Sica

Wenn ich über Vittorio de Sicas Filme und ihre Besonderheiten nachdenke, ist die Musik sicherlich nicht das erste, was mir einfällt. Vielmehr hat sich die Musik in seinen Filmen der 40er und 50er-Jahre in mein Gedächtnis als sehr klassisch eingeprägt; ich hatte jedoch zugegebenermaßen niemals Zeit und Muße mich näher damit zu beschäftigen. Deshalb habe ich unsere De Sica-Retrospektive genutzt, um mich näher mit diesem Thema zu befassen.

Betrachtet man De Sicas umfangreiches Werk fällt auf, dass er mit zahlreichen Komponisten zusammengearbeitet hat, besonders sticht allerdings der Name Alessandro Cicognini hervor, der sich für die Musik von insgesamt acht Filmen unter der Regie von De Sica verantwortlich zeigt (sieben davon im Zeitraum zwischen 1946 und 1956). Es handelt sich also um eine Zusammenarbeit in eben jener neorealistischen Schaffensphase, die das Bild, das wir heute von De Sica haben, maßgeblich geprägt hat. Eine Unzahl von Texten cinephiler und filmwissenschaftlicher Autoren setzt sich mit dem Thema des Neorealismus auseinander, dabei wird oft sehr wenig auf die Musik dieser Filme eingegangen. Das mag wohl größtenteils daran liegen, dass die Musik (so wie es auch mir ergangen ist) beim ersten Hinhören kaum Besonderheiten aufweist, die sich in Zusammenhang mit der neorealistischen Ausprägung des Films sehen lässt. Cicogninis Kompositionen bilden da keine Ausnahmen; zwar wurde seine Musik von Kritikern meist positiv kommentiert und er wurde 1949 für seine Arbeit an Ladri di Biciclette mit dem Nastro d’Argento ausgezeichnet, doch sind umfangreichere Auseinandersetzungen mit seiner Musik sehr rar.

Dabei lohnt sich eine genauere Betrachtung seiner Kompositionen und deren Einsatz in den Filmen De Sicas; so fallen sein ökonomischer Einsatz von musikalischem Material und viele Feinheiten bei der Orchestrierung auf, die sich teilweise stark von scheinbar ähnlichen Kompositionstechniken aus Hollywood unterscheiden.

Schon bei seiner ersten Zusammenarbeit mit De Sica für den Film Sciuscià (1946) entscheidet sich Cicognini dafür, ein einziges dominantes musikalisches Thema als Grundlage für die gesamte Musik zu komponieren: eine fröhliche Melodie in den Holzbläsern, die Assoziationen zur kindlichen Verspieltheit der Protagonisten Pasquale und Giuseppe weckt. Dieses Thema wird in einer Art kurzen Ouvertüre zu Beginn des Films exponiert und von schweren Akkorden in den Blechbläsern kontrastiert, die später die Machenschaften der kriminellen Gesellschaft, in welche die beiden Jungen hineingezogen werden, symbolisiert. Cicognini gelingt es nicht nur mit dem kurzen Hauptthema die beiden Protagonisten zu charakterisieren, sondern er passt das Thema durch kleine Veränderungen in der Instrumentierung und Tonlage an die verschiedensten Situationen an, die während der Handlung durchlaufen werden. Die Methode, mit der Cicognini arbeitet unterscheidet sich dabei gar nicht von seinen Kollegen, die in den 30er und 40er-Jahren in Amerika die bekannten Melodien der großen Hollywood-Klassiker komponieren, schließlich greift er, ebenso wie z. B. Max Steiner und Erich Korngold, auf Praktiken zurück, die sich in der Oper des frühen 19. Jahrhunderts ausbildeten und von den klassisch ausgebildeten Filmkomponisten in ihr musikalisches Schaffen übernommen wurde. Cicognini bevorzugt es allerdings mit kleinen Ensembles oder Kammerorchestern zu arbeiten (im Gegensatz zu den großen, symphonischen Orchestern, die vielfach in amerikanischen Filmen dieser Zeit zu hören sind). Es gelingt ihm dadurch eine melodiöse Leichtigkeit zu schaffen, die bisweilen an die tänzerischen Momente bei Verdi oder Puccini, sodass die Musik sofort als „italienisch“ erkennbar ist. Ebenso wie De Sicas Themen örtlich und zeitlich fest an das Italien der 40er und 50er Jahre gebunden ist, so zeigt auch Cicogninis Musik eine Welt, in der italienische Opernklassiker sich im Bewusstsein der Gesellschaft mit zeitgenössischen Gassenhauern vermischen.

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Auch in Ladri di Biciclette (1948) und Umberto D. (1952) arbeitet Cicognini mit sehr spärlichem musikalischem Material, um die grundsätzlichen Konflikte der Handlung offenzulegen. Die unerträgliche Stagnation im Hauptthema von Ladri di Biciclette, in dem zunächst nur ein Ton umspielt wird, bevor sich die Melodie sehr langsam nach unten bewegt, steht auch für eben jenen Teufelskreis, in dem sich der Protagonist Antonio Ricci wiederfindet: seines eigenen Fahrrads beraubt, wird er selbst zum (erfolglosen) Fahrraddieb. Neben diesem Hauptthema setzt Cicognini zu mehrt auf imitatorische Mittel und spiegelt in seiner Musik z. B. Regen und Fahrradklingeln wider.

In Umberto D. verfeinert Cicognini seine Arbeit noch weiter und stellt zwei kontrastierende Hauptthemen nebeneinander: ein leichtes, walzerartiges Thema für Umberto und eine zerbrechlich-kindliche Melodie für Maria. Die Musik legt durch den Kontrast der beiden Themen zueinander nicht nur den äußeren Konflikt der Handlung offen, sondern weist auch durch die Wahl der einzelnen Themen auf die inneren Konflikte der Figuren hin. Umberto ist ein Mann, der in der Vergangenheit lebt: trotz seiner Armut würde er es nie wagen, ohne Anzug aus dem Haus zu gehen oder in der Öffentlichkeit von seinen Schulden zu reden. Er ist unfähig sich mit seiner Situation abzufinden und bringt es nicht übers Herz, die nötigen Wege zur Besserung seiner Situation einzuleiten. Das Walzerthema, das Cicognini für ihn komponiert ist eben jene Verweigerung der Erkenntnis, dass sich seine Lebensumstände geändert haben; es wird so zu einem tragikomischen Thema, das oftmals der Situation gar nicht angepasst scheint. Nur in kurzen Momenten der Klarheit rutscht der Walzer in dunkle, impressionistisch haltlose Gefilde ab und öffnet einen Blick auf das Unglück des Umberto D. Maria hingegen hat selbst nie eine andere Welt erlebt, als die, in der sie sich jetzt befindet. Sie ist jung, lebt in ärmlichen Verhältnissen und erwartet ein Kind von einem unbekannten Vater. Die Musik, die sie begleitet kennzeichnet sie jedoch selbst noch als kindlich und zerbrechlich – ist sie bereit, die Verantwortung für ihr eigenes Kind zu übernehmen? Diese Frage lassen De Sica und Cicognini unbeantwortet. Im Kontrast zwischen den in seiner Vergangenheit gefangenen Umberto und der in der Gegenwart gefangenen Maria liegt ein zentraler Konflikt der Handlung, der in der Musik sichtbar wird. Cicognini gelingt es dennoch niemals plakativ zu werden, seine Themen bleiben in Umberto D. stets ambivalent und behalten es sich vor, nicht alle Fragen beantworten zu müssen.

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1953 wagte sich De Sica mit Stazione Termini an einen Film, der im Vergleich zu Umberto D. und Ladri die Biciclette sehr amerikanisiert und kommerzialisiert wirkt. Wieder schrieb Cicognini die Musik. Es handelt sich dabei um einen Umbruch in der Zusammenarbeit der beiden, schließlich ist es der erste nicht-neorealistische Film, an dem sie gemeinsam arbeiten. Gleich zu Beginn fällt die Verwendung eines großen Orchesters auf, das mit reich besetzten Streichern das sequenzierende musikalische Hauptthema vorstellt. Auch wenn dieses Thema dramatisch-effektreich und eingängig ist und im Film immer wieder zur Verwendung kommt, so vermag es nur einen blassen Eindruck der Situation und der Protagonisten zu vermitteln. Das Hauptthema wird von Cicognini nicht mit solcher Konsequenz verwendet, wie er es in den vorangegangenen Filmen getan hat, er reichert die Musik immer wieder mit rein spannungserzeugenden Passagen an, die thematisch nicht zuordenbar sind. Zudem fällt auf, dass die Musik im Film zu mehrt melodramatisch (im eigentlichen Sinne des Wortes) verwendet wird. Dies ist eine Technik, die man im klassischen Hollywood-Kino sehr häufig, in De Sicas neorealistischen Filmen allerdings nur vereinzelt vorfindet. In solch einem Verfahren tritt die Musik stark in den Hintergrund und wird fast vollständig von einer kommentierenden oder kontrastierenden Funktion befreit. Zwar schafft Cicognini spannungsgeladene Momente, doch weiß die Musik weder auf intellektueller noch auf emotionaler Ebene so zu berühren, wie sie es in seinen früheren Arbeiten für De Sica tut.

Dass das Konzept eines kommerziellen Films unter Zusammenarbeit von De Sica und Cicognini (zumindest aus musikalischer Sicht) funktionieren kann, zeigt L’Oro di Napoli (1954). In der Tragikomödie, die aus insgesamt sechs Episoden besteht, greift Cicognini wieder auf eine konsequent thematisch arbeitende Technik zurück. Dabei entwickelt der Komponist für jede der einzelnen Episoden (außer die dritte, welche völlig ohne musikalische Untermalung auskommt) ein einzelnes passendes Thema und zudem ein einheitliches Einleitungsthema für alle Episoden. In der etwa fünf Minuten langen Ouvertüre werden, angeführt vom Einleitungsthema, alle Themen vorgestellt. In den ersten beiden Episoden wird Cicogninis Musik zwar über weite Strecken eingesetzt, doch bleibt die thematische Arbeit zu vage und wenig charakteristisch, um sich wirklich im Gedächtnis des Zuschauers verankern zu können. Erst das Thema des Comte Prosperi (Rolle gespielt von De Sica selbst) vermag mit seiner komischen Oboenmelodie und zeitweise eingesetztes Mickey-Mousing den Film maßgeblich zu bereichern und den Zuschauer zum Schmunzeln zu bringen. In der fünften Episode greift Cicognini auf dramatische Effekte ähnlich der Musik in Stazione Termini zurück, doch durch Simplizität des Themas und dessen konsequenter Verarbeitung erweist sich die Musik als viel wirkungsvoller; der erste Auftritt des Don Nicola, dessen melancholisch-mystische Streicherbegleitung mit der ersten Sekunde einen tiefen Blick in die Seele dieses gebrochenen Mannes erlaubt ohne zu viel zu verraten, gehört – dank der Musik Cicogninis – zu den besten Momenten des ganzen Films.

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Dies ist eben die Qualität von Alessandro Concigninis Musik: sie ist simpel und lässt tief blicken ohne etwas Konkretes zu erzählen. Sie deckt Konflikte auf ohne sie zu simplifizieren. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, aber versucht sich nicht zu verstecken. Sie ist „italienisch“ wie De Sicas Filme. Sie ist ambivalent, lebendig und niemals in sich geschlossen und bleibt so zeitlos. Sie bereichert die Filme De Sicas um einen weiteren Aspekt, den es sich lohnt genauer zu betrachten.

Musik schafft Bedeutung: Wagners Walkürenritt im Film

Im klassischen Hollywood-Kino wird Musik meistens eingesetzt, um die emotionale oder narrative Bedeutung einer Szene zu unterstützen. Die Musik verstärkt dadurch den Effekt der Szene auf den Zuschauer und bestätigt ihn in seiner Interpretation des Gesehenen. So wird sichergestellt, dass bestimmte Informationen eindeutig den Rezipienten erreichen. Es handelt sich hierbei natürlich um einen rein theoretischen Idealfall, der selbst in jenen Filmen, die streng den ästhetischen Vorstellungen des klassischen Hollywood-Kinos folgen, niemals eintritt. Musik schafft – wie Worte, Licht, Bildkomposition und Schauspiel – selbst Bedeutung, umso mehr wenn es sich um präexistente, also nicht eigens für den Film komponierte, Musik handelt. Die möglichen Konnotationen, die ein Zuschauer zur Musik haben kann, werden enorm vervielfacht, wenn es sich um ein Musikstück handelt, das dem Zuschauer andernorts bereits untergekommen ist. In vielen Filmen wird bei der Auswahl der Musik ebendiese Tatsache berücksichtigt, sodass bestimmte Musikstücke zu ambivalenten Reaktionen beim Zuschauer führen und als mehrfache Referenz verstanden werden können.

Man könnte diesen Prozess an vielen verschiedenen Beispielen verdeutlichen, aber das wohl bekannteste lässt sich im Präludium zum dritten Akt von Richard Wagners Walküre (komponiert 1852-56) finden, das häufig mit dem Titel Der Ritt der Walküren bezeichnet wird.

Die Walküre ist der zweite Teil des vierteiligen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, in dem die Handlung der Nibelungensaga, vermischt mit verschiedenen Figuren und Geschichten der nordischen Mythologie frei nacherzählt wird. Die Walküre handelt von der Walküre Brünnhilde, die durch Ungehorsam bei den Göttern in Ungnade fällt und daraufhin aus dem Göttersitz Walhall verbannt wird. In der ersten Szene des dritten Aktes treffen sich Brünnhildes acht Schwestern – ebenfalls Walküren – auf einem Felsen, berichten von ihren Erlebnissen und warten auf die säumige Schwester. Der Ritt der Walküren – ein zunächst rein instrumentales Stück – leitet diese Szene ein und illustriert die Ankunft der acht Schwestern auf ihren fliegenden Rössern.

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Ich wage zu behaupten, dass Richard Wagner, wäre er ein Filmregisseur gewesen, wohl nicht den Leitlinien des klassischen Hollywood-Kinos gefolgt wäre. In seinen Opern (oder Musikdramen, wie sie von ihm selbst genannt werden) steht die Musik nämlich ständig in krassem Gegensatz zur Handlung. Man könnte behaupten, dass die Handlung, die auf der Bühne stattfindet, zu jedem Zeitpunkt vom Orchester kritisch und distanziert kommentiert wird. Dadurch entfaltet die Musik aus sich heraus mehr Bedeutung und damit einen größeren Interpretationsspielraum, als es bei vielen anderen Komponisten der Fall ist. Es entstehen zwei Bedeutungsebenen der Musik: eine narrative und eine emotionale.

Auf der narrativen Ebene ist der Ritt der Walküren sehr illustrativ: Zunächst ist in den Streichern das Wiehern von neun Pferden zu vernehmen, in den Bläsern beginnt sich ein galoppierende Rhythmus auszuprägen. Schließlich symbolisieren abfallende, hohe Streicherbewegungen den Landeanflug der Walküren, der in den Beginn des berühmten Bläserthemas mündet, welches als Ausschmückung des galoppierenden Motivs verstanden werden kann. Auf einer emotionalen Ebene vermittelt die Musik eine furchteinflößende Macht, die von den halbgöttlichen Reiterinnen ausgeht. Eine Macht, die zwar zur Zerstörung fähig, aber trotz allem gemäßigt und nicht böse ist. In seiner Wirkung erweist sich das Präludium als sehr stark und direkt und wird deshalb gerne in Filmen verwendet.

Eines der ersten Beispiele für die Verwendung des Ritts der Walküren im Film ist David Wark Griffiths The Birth of Nation aus dem Jahr 1915. Im Finale des Films, der zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielt, wird eine Stadt, die von der rebellierenden schwarzen Bevölkerung belagert wird, durch den Ku Klux Klan, begleitet von Wagners Musik, befreit. Griffith nutzt hier die Dynamik des Musikstücks einerseits illustrierend – die Männer des Ku Klux Klans sind beritten – und andererseits zur Emotionalisierung der Szene: Im Kontext des Films wird die Aktion der Reiter als Befreiungsschlag wahrgenommen, die Musik verliert hier ihre – im ursprünglichen Kontext noch vorhandene – Neutralität und wird als Hymne zur Glorifizierung der „Befreier“ benutzt. Die furchteinflößende Macht, welche durch die Musik ausgestrahlt wird, wird kanalisiert und gegen den vermeintlichen Feind gerichtet, sodass sie als durchwegs positiv wahrgenommen wird. Wagners Walküren sind eine göttliche Macht, die sich für und gegen jeden Menschen wenden kann; Griffiths Reiter des Ku Klux Klan benutzen ihre Macht im Kampf gegen das Böse (zumindest nach seinem Verständnis). Die emotionale Bedeutung der Musik wird durch den Kontext des Films verändert.

Wagners Musik fand vor allem im deutschen Raum große Verwendung, er galt schließlich als einer der deutschen Nationalkomponisten. Unter der Herrschaft des NS-Regimes wurde der Ritt der Walküren als musikalische Unterlegung für Wochenschauaufnahmen des Krieges häufig verwendet. Gerade dieser Einsatz dieses Musikstücks brandmarkte es für die Zukunft und so wird Wagners Musik und insbesondere der Ritt der Walküren bis heute häufig mit Krieg und der NS-Zeit asoziiert.

Diese Verschiebung der Bedeutung des Ritts ins Negative machte sich auch Francis Ford Coppola in seinem Antikriegsfilm Apocalypse Now (1979) zunutze. Bei einem Helikopterangriff auf ein Küstenlager der Vietcong lässt der befehlstragende Lieutenant Kilgore aus den Lautsprechern des Helikopters den Ritt der Walküren spielen. Coppola macht sehr klar, dass es sich bei Kilgore offensichtlich um einen verrückten Masochisten handelt, für den Gewalt pure Banalität ist und der Freude an psychologischen Spielen mit seinem Feind empfindet. Den Ritt setzt Kilgore zur Demoralisierung der Vietcong ein; die Musik soll einschüchternd wirken und im Kontext der Gegebenheiten tut sie das auch. Der Einsatz von Wagners Musik als Abschreckungsmethode wäre ohne die historischen Entwicklungen der 30er und 40er Jahre völlig undenkbar und absurd gewesen. Allein das Bewusstsein der Geschichte lässt uns die Musik als potentiell abschreckend wahrnehmen, ob die Einschüchterung durch Wagner bei Vietcong, welche diese historische Verbindung vermutlich nicht ziehen können, tatsächlich funktionieren könnte, ist sehr fragwürdig.

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Der Film und insbesondere diese Szene erlangten einen solch hohen Bekanntheitsgrad, dass der Ritt der Walküren heute (besonders im Bereich des Kinos) primär nicht mehr mit Wagners Oper, sondern mit Coppolas Film in Verbindung gebracht wird. Die Bekanntheit dieser Szene geht so weit, dass heutzutage CD-Covers der Walküre mit Bildern aus Apocalypse Now versehen werden. Der Film trug also nicht nur zu einer emotionalen Bedeutungsverschiebung der Musik (von neutral/positiv hin zu angsteinflößend/negativ) mit bei, sondern verursachte auch eine weitere Umkehrung des Referenzsystems: die Walküre ist in der Auffassung vieler Zuschauer „die Oper, in der das Stück aus Apocalypse Now vorkommt“ und nicht umgekehrt. Nun ist dies keineswegs eine negative Entwicklung, es ist nur ein Aspekt, der bei der Analyse aller später produzierten Filme, die ebenfalls Gebrauch vom Ritt der Walküren machen, in Betracht gezogen werden muss. Es ist aber auch eine Tatsache, die es allen späteren Filmemachern ermöglicht, den Ritt in einem neuen Kontext einzusetzen, nämlich in Bezug auf Coppolas Film.

Der Einsatz des Ritts der Walküren in verschiedenen Filmen wie Blues Brothers (1978), Lord of War (2005), Watchmen (2009), Monsters (2010) kann als direkte Anspielung auf seine Verwendung in der NS-Zeit oder in Apocalypse Now verstanden werden; die verbindenden Motive in den einzelnen Filmen sind Darstellungen von Nationalsozialisten, Deutschland als Kriegsnation, Helikoptern, verrückten Soldaten oder dem (Vietnam)krieg. Fliegende Pferde oder Frauen in Männerrüstung tauchen in dieser Aufzählung nicht auf, obwohl sie der ursprünglichen Bedeutung des Musikstücks entsprechen.

Natürlich gibt es auch Beispiele, in denen der Ritt völlig unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung und all diesen historisch gewachsenen Konnotationen zum Einsatz kommt. In Nicholas Rays Rebel Without a Cause (1955) – wohl der Film, der von allen hier gennannten, dem zu Beginn beschriebenen Ideal des klassischen Hollywood-Kinos am nächsten steht – summt der Protagonist Jim Stark zu Beginn des Films, als er in einer Polizeistation befragt wird, das Bläserthema des Ritts. Es handelt sich hier um die Szene, in der sein Charakter exponiert wird; alles deutet darauf hin, dass es sich bei seiner Figur um einen Rebellen handelt: er ist betrunken, obwohl viele Stühle im Wartezimmer frei sind, sitzt er erhöht auf einem Schuhputzstuhl; er steht als Außenseiter über der Gesellschaft. Wie passt der Ritt der Walküren in dieses Bild? Zunächst sei erwähnt, dass er mit dem Summen den Fragen des Polizisten ausweicht, also seine Rolle als Rebell bestätigt, doch verweist die Wahl der Melodie auf eine bedeutungsvollere Aussage. Es handelt sich hier um keine Anspielung auf den Ring des Nibelungen, die NS-Zeit, Krieg oder Deutschtum, vielmehr deutet sein Verhalten auf seine Bildung, die er vermutlich in seiner Kindheit und frühen Jugend genossen hat – er stammt schließlich aus wohlhabenden Verhältnissen. Möchte man noch auf weitere Deutungsmöglichkeiten eingehen, kann man zwischen Jim und der Person Richard Wagner eine Verbindung finden: der Komponist wird nämlich oft – stark romantisiert – als Rebell außerhalb der Gesellschaft dargestellt.

james dean

Lässt sich in Rebel Without a Cause noch eine mögliche Verbindung zum Komponisten des Stücks finden, so setzt Federico Fellini den Ritt der Walküren in Otto e Mezzo (1963) völlig frei von jeglicher rationaler Konnotation ein. Eine Szene zu Beginn des Films zeigt den Regisseur Guido Anselmi, wie er sein Badezimmer betritt und sich im Spiegel betrachtet. Das Telefon klingelt, Guido hebt nicht ab, sondern beginnt mit jedem erneuten Klingeln tiefer in die Hocke zu gehen. Schnitt auf den Außenbereichs des Kurbades, in dem sich Guido befindet: Eine Menschenmasse (darunter viele Nonnen und Mönche) stehen in einer Reihe und warten auf ihr Glas Kurwasser. Diese beiden Szenen werden mit Wagners Musik unterlegt, die auf den ersten Blick nicht mit dem Geschehen vereinbar ist. Viele Fragen bei der Interpretation dieser Szene bleiben offen; nicht einmal die Frage nach der Quelle der Musik kann mit Bestimmtheit beantwortet werden. Im Außenbereich ist für einen kurzen Moment ein Dirigent zu sehen, der den Takt des Ritts passend angibt, es bleibt allerdings unklar, ob der Dirigent wirklich vor einem spielenden Orchester steht und welches Stück von dem Orchester gespielt wird – falls es denn überhaupt da ist. Des Weiteren bleibt offen, welche persönlichen Assoziationen Fellini mit dem Ritt und Wagner hat, es besteht im Fall von Otto e Mezzo nämlich die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine persönliche Entscheidung des Regisseurs handelt, dessen Begründung nur ihm bekannt ist. Tatsache ist jedoch, dass die Musik der Szene einen komisch-satirischen Charakter verleiht. Die Diskrepanz zwischen der Schwere der machtvollen Musik und der scheinbar leichten Idylle löst beim Zuschauer einer Irritation aus, die ihm eine kritische Distanz zum Geschehen verschafft (ein satirischer Effekt): Ist diese Idylle wirklich so, wie sie scheint? Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um einen bewussten Einsatz der Musik gegen ihren ursprünglichen und historischen Kontext.

Die Bedeutungsverschiebung oder -vervielfachung eines Musikstücks im Film ist eine Tatsache, die oft aus (film-)historischen Umständen erwächst. Sie ermöglicht es, mit präexistenter Musik einen Bezug zur Geschichte oder anderen Filmen aufzubauen und so der Musik mehr Bedeutung als eine bloße Bestätigung des Handlungsgeschehens zukommen zu lassen. Behalten wir, als Zuschauer, also die geschichtlichen Entwicklungen im Hinterkopf, wird die Musik, wie bei Wagner, zum Kommentar und erzeugt Ambivalenzen, wo sonst keine dagewesen wären. Selbst der Einsatz der Musik gegen ihren historischen Kontext ist eine bewusste Entscheidung und schafft Bedeutung in der Nicht-Bedeutung.

The Thin Red Line als Oratorium

Ich mag keine Kriegsfilme. Ich weiß gar nicht genau, warum. Vielleicht ist es der historische oder geographische Abstand, der für mich als Zuschauer unüberbrückbar ist; vielleicht sind es die immer wieder gleichen Heldengeschichten oder Erzählung von Schrecken und Gewalt, die mich einfach nicht berühren wollen.

Nichtsdestotrotz wage ich mich immer wieder gerne an das Genre, denn es gibt so manche bekannte oder weniger bekannte Schätze zu entdecken. The Thin Red Line von Terrence Malick gehört für die meisten – und ich möchte mich da nicht ausschließen – zu diesen Schätzen. Der Film wurde bereits unzählige Male besprochen, analysiert und interpretiert, deshalb möchte ich mich an dieser Stelle nicht mit allgemeinen Aspekten des befassen, vielmehr möchte ich die Dramaturgie des Filmes in der Vordergrund meiner Besprechung stellen.

Zu meinem persönlichen Hintergrund möchte ich anmerken, dass ich mich neben Film vor allem mit („Kunst“)musik beschäftige und mir im Falle von The Thin Red Line auch ein „musikalischer“ Zugang als sinnvoll erscheint, um den Film in einem neuen Licht zu betrachten. Malicks Film weist in seiner Struktur und Dramaturgie einige Parallelen zu einer besonderen musikalischen Gattung auf: dem Oratorium, speziell in seiner barocken Form.

The Thin Red Line von Malick

Das Oratorium ist eine musikdramatische Form, die im 17. Jahrhundert entstanden ist. Seinen ursprünglichen Platz hat es im christlichen Gottesdienst. Vom groben Aufbau her orientiert es sich an der Form der Oper, gestaltet sich inhaltlich und musikalisch aber weniger pathetisch. Bis ins 19. Jahrhundert besteht ein Oratorium aus mehreren Sätzen, die klar voneinander getrennt sind: Die Handlung wird in den sogenannten Rezitativen erzählt, die von Arien, Chören und Chorälen unterbrochen werden.

In dieser groben Struktur von sich abwechselnden dramatisch-narrativen und lyrisch-kontemplativen Sätzen liegt die erste große Parallele zwischen The Thin Red Line und dem Oratorium. Malick unterbricht seine Erzählung immer wieder für Momente des Innehaltens, manchmal sogar des Gebets. Immer wieder schweift die Kamera vom eigentlichen Geschehen ab, widmet sich den überrankten Bäumen des Dschungels und den Sonnenstrahlen die grünlich durch das Blätterdach des Urwalds scheinen, während die Protagonisten des Films in langen Monologen über den Krieg und den Ursprung von Gewalt sinnieren. Diese Monologe werden als Voice Over abgesetzt von der Handlung präsentiert und spinnen, ausgehend vom Geschehen, zentrale Themen des Films weiter. Bestimmte Momente der Handlung werden auf diese Weise hervorgehoben und für den Zuschauer in ihrer Wirkung greifbarer. Zudem gelingt es Malick so eine zweite Erzählebene zu schaffen, die in ständiger Wechselwirkung mit der eigentlichen Handlung des Films treten und deren Ereignisse kommentieren und kontrastieren.

The Thin Red Line von Terrence Malick

Eine weitere Parallele zwischen Oratorium und Film lässt sich finden, wenn man die Funktion und Wirkung der nicht-narrativen Sätze im Oratorium untersucht. Im Oratorium werden die Arien normalerweise nicht von den handelnden Personen gesungen und geben deren Emotionen auch nicht direkt wieder. Vielmehr kommentiert die Arie die Handlung aus einer bestimmten (historischen) Entfernung heraus. So wird eine Brücke zwischen Handlung (die im Normalfall aus der Bibel entnommen ist) und den Zuhörern geschlagen.

Dieser kommentierende Abstand ist auch in den kontemplativen Momenten von The Thin Red Line deutlich zu spüren. Auch wenn die einzelnen Monologe eindeutig bestimmten Personen der Handlung zugeordnet werden können, so ist dies nicht von Belang. Die Kommentare stehen in solch großem Abstand zum Kriegsgeschehen, dass sie auch direkt aus dem Munde eines Zuschauers stammen könnten. Und so nehmen diese Kommentare in Malicks Film dieselbe Stellung ein, welche eine Arie in einem Oratorium innehat: das Verbindungsstück zwischen Handlung und dem Zuschauer, zwischen diegetischer und realer Welt.

Vergleicht man The Thin Red Line mit einer speziellen Ausprägung des Oratoriums, der oratorischen Passion, lässt sich eine Parallele auf inhaltlicher Ebene finden: die oratorische Passion ist eine sehr verbreitete Form des Oratoriums, in ihr wird die Leidensgeschichte Jesu Christi nacherzählt. In der oratorischen Passion stehen die Arien neben der formalen Abtrennung und dem kommentierenden Abstand auch in inhaltlichem Kontrast zur Passionserzählung. Schlüsselszenen der Passion sind zu großen Teilen Momente der physischen und psychischen Gewalt, denen in den Arien des Oratoriums Bilder von Menschlichkeit und Mitleid gegenübergestellt werden.

The Thin Red Line von Terrence Malick

Auch in Malicks Film wird die Handlung inhaltlich von den Monologen kontrastiert. Den Bildern des Krieges folgt das Bild der friedlichen Natur und es wird zurecht die Frage nach dem Ursprung der Gewalt gestellt. Den Generälen, die scheinbar emotionslos Entscheidungen fällen, wird ein Gefühl der Verantwortung und Schuld gegenübergestellt. Jede Szene wird so gewissermaßen von zwei Seiten gezeigt: als unmittelbar momentaner Eindruck und als kritischer Kommentar. So erschließt sich die Handlung dem Zuschauer in ihrer Gänze.

Malick schafft es den historischen Abstand zum Geschehen zu überbrücken und zugleich dem Krieg ein Bild von Menschlichkeit gegenüberzustellen. The Thin Red Line ist keine Geschichte von den Schrecken und den Helden des Krieges, sondern ein Kommentar darüber, was wir, heute, als Zuschauer, aus den Ereignissen mitnehmen können.

Das rote Zimmer von Rudolf Thome

Meistens habe ich nachdem ich einen Film gesehen habe eine sehr klare Vorstellung davon, was ich aus dem Film mitnehme. Ein klares Gefühl, das man in sich einschließt und lange mit sich herumträgt. In so einem Fall ist es erstaunlich einfach, über einen Film zu schreiben. Als ich Das rote Zimmer von Rudolf Thome zum ersten Mal vor einigen Jahren gesehen hatte, beschlich mich ein eben solch klares Gefühl. Hätte ich damals einen Text zum Film verfasst, würde er sicherlich völlig anders ausfallen.

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Nun ist aber alles natürlich ganz anders gekommen: Den Film ein zweites Mal zu sehen, frischte das Gefühl nicht wieder auf, es ersetze es durch ein anderes Gefühl, ein sehr vages, unbestimmtes Gefühl der Verwirrung. Hilfesuchend wandte ich mich an das Internet um Hintergrundinformationen und andere Meinungen über den Film einzuholen, gewissermaßen als Ansporn oder Inspiration für meinen Text. Dabei stieß ich auf ein Interview mit Regisseur und Drehbuchautor Thome, das mir aus meiner Misere half. Auch wenn Thome in dem Interview (glücklicherweise) keine eindeutige Interpretation des Filmes vorlegt, so lässt er doch einzelne Grundgedanken erkennen, die das Fundament des Films bilden. Dabei erweist sich Thomes Sicht auf seinen Film meinem Gefühl, meiner eigenen Sicht, als diametral entgegengesetzt. Dadurch wurde mir klar, dass ebendiese Bandbreite an Sichtweisen, die in mir solche Verwirrung verursacht hatte, die Qualität eines Filmes ausmacht. Also entschloss ich mich dazu, diese Verwirrung zuzulassen und das vage Gefühl zu ergründen, welches Das rote Zimmer in mir auslöst. Wie entsteht diese eigenartige Wirkung des Films? Um dieser Frage nachzugehen möchte ich im Folgenden möglichst klar und verständlich meine subjektive Seherfahrung wiedergeben:

Das rote Zimmer beginnt mit einem scheinbar plumpen Einstieg. In Parallelmontage werden die drei Protagonisten des Films exponiert: Wir sehen, wie der Philematologe (zu Deutsch: Kussforscher) Fred Hintermeier zusammen mit einer Prostituierten bei sich zu Hause seinen Geburtstag feiert. Dem gegenübergestellt wird eine Szene in der die Schriftstellerin Luzie und ihre junge Freundin Sibil in trauter Zweisamkeit kiffend in einem Bett liegen. Anschließend erhalten wir einen Einblick in Freds Arbeitsalltag, der sich aufgrund seines außergewöhnlichen Berufs als völlig grotesk erweist. Der Alltag von Sibil und Luzie erweist sich als eine utopische Mischung aus üppigem Frühstücken, Waldwandern und Angeln. Fred ist mit seiner Scheidung beschäftigt, die sich für ihn als besonders schwierig erweist, weil er seine Frau noch liebt, während Luzie und Sibil glücklich zusammen sind.

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Die Unterschiede zwischen den beiden Lebenswelten sind krass, die Charaktere scheinen einfach und klar, fast zu klar, gezeichnet. Doch Thome versteht es mit jeder neuen Szene seine Protagonisten in ein völlig neues Licht zu setzen und den Zuschauer immer wieder hinters Licht zu führen.

Für mich sind die Sympathien zu Beginn des Filmes klar verteilt: der verklemmte Fred, der tagsüber den gefühlskalten Forscher spielt und abends seine (Ex)Frau mit Liebesanrufen belästigt und gerne Prostituierte zu sich nach Hause einlädt, kann meine Sympathie nicht für sich gewinnen; dagegen erscheint mir das Leben von Sibil und Luzie als sehr erstrebenswert. Doch die Grenzen beginnen zu verschwimmen, als die beiden Handlungsstränge aufeinandertreffen: Luzie und Sibil fahren in die Stadt, um in Buchhandlungen und Bibliotheken Männer aufzureißen; Luzie schreibt nämlich ein Buch über die Seele des Mannes und ist ständig auf der Suche nach Versuchssubjekten. Im Zuge dessen trifft Luzie auf Fred und sofort wird klar, dass die beiden mehr gemeinsam haben, als man zu Beginn des Filmes vermutet hätte. Beide befassen sich auf ihre Weise mit der Liebe; Fred über den medizinisch-physiologischen, Luzie über den literarisch-philosophischen Weg. Prompt lädt sie ihn zu sich und Sibil auf ihr Landhaus ein.

Als Fred sich dazu entschließt die beiden Frauen zu besuchen, beginnt ein perfides Spiel um Macht und Liebe über das alle Beteiligten bald die Kontrolle verlieren. Zunächst zeichnet sich eine kleine Liebelei zwischen Luzie und Fred ab, woraufhin sich die beiden ihre Liebe gestehen. Die eifersüchtige Sibil beobachtet diese Entwicklung mit Unmut. Schließlich möchte Luzie auch dafür sorgen, dass sich Fred und Sibil näherkommen, scheinbar nicht ahnend, dass ihr Versuch, die beiden zusammenzubringen dazu führt, dass die junge Sibil mit Fred schläft.

Ich schreibe bewusst „scheinbar“, da Thome uns stets im Unklaren darüber lässt, was zu Luzies Plan gehört und wohin dieser schlussendlich führen soll. So führt uns das Drehbuch von einer Finte zur nächsten und es entsteht eine große Verwirrung zwischen den drei Protagonisten des Films, die bald ihr eigenes Spiel nicht mehr unter Kontrolle haben. Diese Verwirrung überträgt sich auch auf den Zuschauer, der bald nicht mehr weiß, wer in welcher Situation die Überhand hat, wer nun Spieler und wer Opfer des Spiels ist. So entsteht in den einzelnen Szenen des Films eine situative Spannung, welche von den Darstellern durch Blicke und kleine Gesten perfekt transportiert wird.

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Diese Spannung gipfelt in der Szene, als die beiden Frauen Fred in das namensgebende rote Zimmer ihres Hauses führen und Fred sich plötzlich in einer ihm völlig ungewohnten Rolle wiederfindet. Er, dessen Beruf darin besteht, andere Menschen beim Küssen zu beobachten, wird selbst zum Beobachteten, als Luzie verlangt, ihn und Sibil beim Küssen beobachten zu dürfen. Der Zuschauer weiß an dieser Stelle bereits, dass sich zwischen Sibil und Fred mehr abgespielt hat, als diese vor Luzie zugeben dürfen; so entsteht ein Moment voller Suspense, der exemplarisch für den Rest des Filmes steht, in dem die Handlung durch Irrungen und Wirrungen immer wieder in solchen spannenden Momenten gipfelt.

Dieser Verwirrungen überdrüssig versucht Luzie am Ende des Films die Dreiecksbeziehung in einem Vertrag zu regeln. Sie schafft es dadurch nicht nur, Fred und Sibil an sich zu binden, sondern bringt Fred durch eine Klausel auch dazu, Sibil und ihr lebenslangen Unterhalt zuzusichern. Ob dieser Vertrag nun von Anfang an zu Luzies Plan gehörte oder nur eine Notlösung darstellt, bleibt unklar; doch durch ihn wird der Kreis der Erzählung geschlossen. Das unkontrollierbare Liebesspiel ist zu Ende und alle Spieler stehen als Verlierer da; alle völlig abhängig voneinander: Sibil und Luzie in finanzieller Hinsicht und Fred durch den Vertrag gebunden. Ob man den Vertrag nun als Prostitutionsvertrag oder Ehevertrag versteht, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen. Tatsache ist, dass Thome mit Das rote Zimmer einen Film kreiert hat, der es schafft, den Zuschauer durch unberechenbare (und dadurch erstaunlich realitätsnahe) Charaktere, immer neue Wendungen und seine Uneindeutigkeit immer wieder zu überraschen und vielleicht, wie mich, mit einem unbestimmten Gefühl der Verwirrung zurückzulassen.