Musicals, Filme und Musical-Filme

Meine Beziehung zu Musical-Filmen ist nicht die einfachste. Sie bieten mir leider sehr oft zu wenig Raum. Im Versuch, möglichst vielen, auf die ein oder andere Weise spektakulär inszenierten Nummern – und ich spreche hier nicht nur von Ausstattung und außergewöhnlichen Kamerafahrten – Nummern Platz zu geben, verwandelt sich der Film in eine Abfolge von Liedern, die bestenfalls tiefgehende Momentaufnahmen, schlimmstenfalls emotionale Vorschlaghämmer oder gar eine Checkbox auf der Song-to-do-Liste sind. An und für sich ist diese Diskontinuität ja nichts Schlimmes, im Gegenteil, aus dramaturgischer Sicht ist sie durchaus spannend, bietet theoretisch Raum für Lücken und Brüche zwischen den großen monolithischen Song-Formationen, die aus dem Ozean des Gesamtfilms ragen. Nur allzu oft bleibt dieser Ozean eine Pfütze, die Lücken und Brüche am Grund minutiös mit Brettern abgedeckt, damit auch niemand hineinfällt und alle das Ziel erreichen. Und da stellt sich mir dann immer die Frage: Warum das Ganze als Musical?  Wenn die Struktur des Filmes so in sich zusammenfällt, dass keinem der beiden Teile genügend Raum, Zeit oder Aufmerksamkeit gegeben wird, um sich völlig entfalten zu können, warum dann das Ganze? Würde der Film nicht von einer anderen Form profitieren? Diese Annahme trifft freilich nicht auf alle Musical-Filme zu, aber leider vor allem auf diejenigen, über die man zufällig stolpern kann; und eine solche Annahme kann oftmals dazu führen, dass man sich mit Scheuklappen ins Kino begibt, immer gerade ausschaut in der Hoffnung, das Ende bald zu erblicken und dann schließlich enttäuscht ist, weil man nichts von der fabelhaften Umgebung gesehen hat. Und sie führt auch dazu, dass man die Scheuklappen nicht abnimmt, wenn man durch das Kinoprogramm schaut und dass man dadurch vielleicht eine Erfahrung verpasst, welche einem die Scheuklappen förmlich vom Gesicht bläst. Deshalb wird es mal Zeit, diese Scheuklappen abzunehmen und genauer hinzuschauen und hinzuhören und auch etwas zur Seite zu schauen um zu sehen, was abseits von Hollywood in den letzten Jahren an Musical-Filmen hervorgebracht wurde.

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So zum Beispiel bei 8 Femmes von Francois Ozon. Ein Whodunnit als Musical-Melodrama. Ein Film, in dem jeder Schritt, jede Stofffalte, jede Lichtreflektion, jede Geste bist zum kleinsten Heben der Augenbraue genau sitzt. Völlig durchkalkuliert und durchchoreographiert von Anfang bis zum Ende. Acht Frauen in einem Haus, in wechselnden Konstellationen in wechselnden Zimmern, jede hat ihren exakten Platz, jede hat ihre Screentime, jede hat ihr Lied, jedes Lied hat seine zwei Strophen (mit einer dreistrophigen Ausnahme zum Finale) und seinen Refrain. Eine strenge Struktur, die so offensichtlich ist, dass jeglicher Versuch sie zu verbergen im Vornherein zum Scheitern verurteilt ist, und daher versucht es Ozon erst gar nicht erst. Da wird dann auch mal für einen Song der Tag zur Nacht, oder es wird zu einer beschwingten Melodie einfach mitgetanzt (selbstverständlich perfekt choreographiert) und nach einer gelungenen Vorstellung eifrig von den Mitschauspielerinnen applaudiert. Wir als Zuschauer stolpern von Situation zu Situation, die Handlung wird zur Nebensache, der Film zu einem sinnlichen Genusserlebnis. Man verliert sich im Grün von Catherine Deneuves Kleid, bewundert das edle Interieur der Villa und freut sich mit Isabelle Huppert über ihr aufgedrehtes Spiel. In solch einem Kontext gibt es natürlich keine Lieder-Monolithen im Film-Ozean mehr, genauer genommen gibt es gar keinen Ozean mehr. Das ständige Auf- und Abtreten der Figuren treibt den Film zwar an, die fließende Ganzheit eines Ozeans bleibt ihm allerdings verwehrt. Dies klingt nun alles sehr oberflächlich und das ist es im Grunde auch, aber, weil wir ja unsere Scheuklappen abgenommen haben schauen wir dann doch etwas genauer hin. Der Film betont seine „Gemachtheit“, als Musical verstärkt er sie geradezu noch: das Heraustreten aus dem „normalen“ Sprechmodus hin zum Gesang macht die Strukturierung offensichtlich.  Eine Struktur, in die wir uns gerne fallen lassen um einfach zu genießen, was da auf uns zukommt. Doch dieser Zustand des Genießens ist ein tückischer, denn er macht uns die wichtigen Dinge des Lebens vergessen, genauso, wie die acht Frauen immer wieder den Mordfall vergessen, der sie eigentlich in dem Haus zusammengeführt hat. Ein Vergessen, für das sie am Ende bestraft werden, genauso, wie wir Zuschauer am Ende für unser Vergessen bestraft werden, wenn uns am Ende, beim filmisch inszenierten Curtain Call plötzlich auffällt, dass niemand applaudiert und niemand sich verneigt, dass die Belohnung für all das schöne Spiel, all die schönen Kostüme, die schöne Ausstattung und die verlockenden Melodien ausbleibt und am Ende doch alles ins unbefriedigende Leere verläuft.

Bertolt Brecht schrieb über die Oper, dass sie ein „Genussmittel“ sei und als solches nur den Genuss zum Thema machen kann. Diesen Gedanken kann man weiterführend auch auf das Musical ausweiten und er ist sicherlich im Falle von 8 Femmes auch zutreffend. Doch noch stärker manifestiert sich dieses Prinzip des übermäßigen Genusses in Tsai Ming-liangs The Wayward Cloud. Das Erleben des Genusses wird dort in den Mittelpunkt gerückt, wenn ein kalter Schluck Wasser inmitten der anhaltenden Dürre, die Kehle benetzt, dann lässt uns Tsai Ming-liang lautstark daran teilhaben. Es wird eine Klangkulisse aufgebaut, in der jegliche Handlung um ein hundertfaches verstärkt wird: das Zerquetschen einer Melone, das Zusammenprallen zweier Körper beim Sex, selbst das seltsam hölzerne Klappern der Schuhsohlen in einem Gang aus Beton. Die Sprache ist in dem Film auf ein absolutes Minimum reduziert, der Gehör wird so für die Wahrnehmung der verschiedenen Sounds sensibilisiert. Und diese Sounds sind allgegenwärtig: Baulärm, der von der Straße in eine Wohnung schwappt, das Summen eines laufenden Kühlschranks, das Brutzeln von Öl in der Pfanne; es ist intensiv und intim über jegliche Schwelle des Wohlbefindens hinaus. Einzig während des Singens schweigen Stadt und Körper. Das Format des Musicals wird hier genutzt, um eine Kontrastwirkung zu erzeugen. Nicht nur auf der Ebene des Tons: da wird der Protagonist plötzlich zu einem Meermann oder einem Riesenpenis, Geschlechter werden getauscht und die ganze Stadt tanzt, bestückt mit Regenschirmen, mit. Es ist erstaunlich und irritierend, in welchen Momenten und worüber da gesungen wird: ein seltsam pathetisch-melancholisches Liebeslied beim nächtlichen Bad im Wassertank oder ein Song über erektile Dysfunktion beim unterbrochenen Pornodreh. The Wayward Cloud ist ständig darauf aus, die Zuschauer von sich selbst abzustoßen, sei es durch den Einsatz der Musical-Nummern, als auch durch das Gegenüberstellen von Genuss und Elend. Brecht schreibt über eine Szene aus seiner Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, in der sich Herr Schmidt zu Tode isst, dass der eigentliche Konflikt im Wissen des Zuschauers darüber bestünde, dass andernorts zur selben Zeit jemand an Hunger sterben könnte. In diesem Gegensatz wird der Genuss plötzlich abstoßend und so ist es auch in Tsai Ming-liangs Film, wenn für die Wasserzufuhr wertvolle Wassermelonen als Sexspielzeug verwendet werden, wenn es kaum gelingt Wasser aufzutreiben, um die Illusion einer funktionierenden Dusche für den Dreh eines Pornos aufrecht zu erhalten und wenn dieser Dreh nicht unterbrochen wird, selbst wenn die Darstellerin schon tot ist. Beim Betrachten des sich lange aufbauenden Orgasmus‘, der das „Liebespaar“ des Films am Ende des Films zusammenbringt, gibt es beim Publikum wohl keine ähnlichen Höhegefühle, in keiner Weise, auch kein musikalisches Finale. Die Klüfte zwischen Musical-Passagen und dem Rest des Filmes, zwischen Publikum und Protagonisten, sie bleiben ungeschlossen.

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Auch wenn der Einsatz von Musical-Nummern in 8 Femmes und The Wayward Cloud sehr unterschiedlich wirkt, so bricht er doch in beiden Fällen die filmische Struktur auf und dient in gewisser Weise auch einem Durchbrechen der vierten Wand. Anders ist es mit Musical-Filmen, in denen Musikschaffende selbst im Mittelpunkt stehen. Hier wird oft die Musik selbst zum Thema: Die beiden Meerjungfrauen in Córki Dancingu von Agnieszka Smoczyńska, sind zum Singen geboren und weil sie jung und hübsch sind finden sie schnell eine Anstellung als Act in einem Nachtclub, doch ihr Gesang hat eine besondere Wirkung, er kann die Menschen um sie herum ihrem Willen unterwerfen. Musik ist hier wegen ihrer emotionalen Wirkung eine mächtige Waffe, der Film ist gefüllt mit Szenen von Menschen, die sich von Musik mitreißen lassen, deren Bewegungen von Musik im Tanz geleitet werden. Der englische Filmtitel von Córki Dancingu lautet „The lure“, und das ist es auch, was Musik sein kann: ein Köder. Musik vereint und animiert, aber sie kann Menschen auch gleichschalten und zu Mitläufern werden lassen. Für die Meerjungfrauen ist Gesang ihre einzige Ausdrucksform, es ist auch die Art ihrer Kommunikation, sie können diese Sprache entschlüsseln und verstehen, alle anderen können sie nur erfühlen, selbst dann, wenn sie in menschlicher Sprache singen. Es ist ein spannendes Bild des Musikschaffenden als potentieller Manipulator, das hier gezeichnet wird. Dabei zeigt sich die Verbindung zwischen der Meerjungfrauensprache und der Musik auch auf stilistischer Ebene. Der Synthie-Pop, den die beiden produzieren, enthält immer wieder Samples ihrer eigenen Sprache, die sich organische in den synthetischen Klang einbetten. So erklärt sich auch die Wirkung der Musik auf das Publikum. Und trotz dieser extremen Wirkung bleibt die Musik für die beiden am Ende immer noch einfach ein Ausdruck ihrer selbst. Diesen Ausdruck zu verlieren bedeutet gleichzeitig auch den Verlust der eigenen Identität und so kommt es auch in Anlehnung an Hans Christian Andersen bei einer der Schwestern zum Verlust der Sprache, wodurch sie ihr Verderben gestürzt wird.

Musik oder Gesang als Ausdruck des Selbst zu verstehen ist eine durchaus problematische Annahme, vor allem wenn es um die Thematik von Interpretation, Cover und Plagiat geht. So ist es zwar aus wirtschaftlicher Sicht durchaus verständlich, dass sich Hedwig in Hedwig and the Angy Inch von ihrem ehemaligen Liebhaber betrogen fühlt, als dieser mit den von ihr geschriebenen Liedern erfolgreich wird, doch darf man aus ideologischer Sicht die Frage stellen: Macht er sich die Musik durch die Interpretation nicht zu eigen? Doch für Hedwig ist die Sache klar, für sie ist Musik die einzige Möglichkeit, ihre schmerzhafte Geschichte zu erzählen. Musik ist für sie ein Megaphon für die Menschen, die in der breiten Masse sonst untergehen. Hedwig ist die Verkörperung der Queer-Bewegung, die sich in den 80ern und 90ern vor allem in der musikalischen Szene Ausdruck verschafft hat. Zeigte sich in Córki Dancingu die Gefährlichkeit der einnehmenden Natur von Musik, so zeigt sich in dem Film von John Cameron Mitchell (der selbst die Hauptrolle spielt), wie Musik eine Masse von Individuen vereinen kann, die als Einzelmenschen ungehört blieben. Dies ist allerdings nur die heile Welt, in der wir uns zu Beginn des Filmes bewegen. So gibt es auch in dieser Masse aus Individuen immer einige, die sich vor die anderen Stellen, schließlich ist das Megaphon Musik nicht groß genug, damit alle zugleich hineinschreien können und während einige auf der Bühne sich frei ausdrücken, bleiben andere im Publikum und haben nur die Möglichkeit sich dem anzuschließen oder sich abzuwenden, Musik und nun mal mitreißend, man lässt sie zu oder verschließt sich ganz; so zeigt es zumindest der Film – for the sake of argument, gewissermaßen. Jedes Lied von Hedwig ist unweigerlich mit einer ihrer Erinnerungen verknüpft, eine Vergegenwärtigung ihrer Lebensgeschichte. Und so strukturiert sich der Film auch: der gegenwärtige Handlungsstrang zeigt vornehmlich Auftritte von Hedwig und ihrer Band, während in Rückblenden vor, nach und während der Lieder auf Hedwigs Vergangenheit eingegangen wird, als Zuschauer erlebt man eben jene Vergegenwärtigung bildlich mit, welche sich auch in Hedwigs Gedanken ergibt. Mitchell bedient sich dabei für jedes Lied eines anderen Inszenierungsstils: mal imitiert er einen Konzertmitschnitt, es gibt Zeichentrickclips und Musikvideos mit Karaoke-Texteinblendungen. Als ebenso vielseitig erweist sich der musikalische Stil des Films: von Rock, über County bis zu Pop bedient Hedwig alle Felder, schließlich ist sie auch eine Person, die sich nicht einordnen lassen will. Da werden selbst die eigenen Lieder im Film in komplett verändertem Stil mehrmals neuinterpretiert, wodurch Hedwig die von mir anfangs gestellte Frage selbst beantworten. Und als sie sich bei ihrem letzten Auftritt die Perücke vom Kopf und die Kleider vom Leib reißt fragt man sich plötzlich, warum man Hedwig bis zu diesem Punkt nur in Drag und niemals ohne Kostüm gesehen hat. Wozu dient die Verkleidung? Zum Selbstschutz, weil man sich durch das Darbringen der eigenen Musik als Medium des Selbst verwundbar macht? Oder ist weist es doch darauf hin, dass am Ende Musik als selbstständige Entität doch nicht nur reinen Ausdruck der eigenen Gefühlswelt ist?

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Einen völlig anderen Weg, nämlich den einer depersonalisierten Musik bzw. eines depersonalisierten Gesangs, schlägt London Road ein. Im Film von Rufus Norris werden Sprachsamples frei von Person zu Person verschoben, wiederholt, gebrochen. Die Sprache wird so zum Thema des Films, die Sprache mit all ihren besonderen Eigenheiten, mit Akzenten, Fülllauten und -wörtern, mit falscher Grammatik und Syntax. Was im normalen Sprachgebrauch authentisch wirkt, wird ohne spürbaren Übergang im Gesang plötzlich fremd; und dann beginnt man sie zu hinterfragen, die Sprache. Wie authentisch sind meine Worte? Wie viel Ich ist in meinen Worten? Die Form des Gesagten bestimmt unbedingt seinen Inhalt mit, verändert seine Wirkung. Und diese Form ist keine selbstgewählte; sie ist vorgegebenen, von meiner Herkunft, von meinem Umfeld, von den Medien. Und mit der Sprache verändert sich auch die Gebärde: Die kleinen Gesten, die mit der Sprache einhergehen und so wie sie auch unbewusst wahrgenommen und vervielfältigt werden. Durch die Kamera um ein Vielfaches vergrößert, durch die Musik choreographiert werden auch sie sichtbar, werden auch sie zum Gegenstand des Hinterfragens. Durch die Form des Musicals werden hier gesellschaftliche Mechanismen von Beeinflussung und Nachahmung aufgedeckt und am Ende bleibt vom persönlichen Ausdruck nicht mehr viel übrig. Die Sprache ist nur eine Wiederholung dessen, was man auf der Straße oder in den Medien aufschnappt, weder die Worte, noch die Melodie, in der sie gesungen werden, sind individuell. Am stärksten tritt dies in einem Kanon der Nachrichtensprecher in der Mitte des Films. Die Wahl dieser strengen Form ist relativ ungewöhnlich für ein Musical, betont in London Road aber nochmals stärker die Frage nach der Genese von Sprache und Ausdruck, schließlich baut der Kanon auf die strengste Art der Imitation auf. Diese Imitation gibt denen, die von ihr Gebrauch machen, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Sicherheit, im Schutze der Imitation darf ich alles sagen, denn ich bin ja nicht der Einzige. Aber im Schutze dieser Imitation verliert mein Ausdruck auch seine Individualität, denn alle werden gleichgeschaltet.

Es ist schwierig, eine abschließende Bemerkung zu diesen einzelnen Filmen zu machen, weil wir hier von musikalischer Form und Ausdruck bringen, bleibt eine gewisse Unklarheit, eine Ambivalenz, die der Musik inhärent ist, immer erhalten. Diese Unklarheit ist es aber schlussendlich, die den Reiz eines Musical-Films ausmacht. Die Musik verändert unseren Blick auf die Dinge und macht uns dadurch offen für neue Erfahrungen, ohne jemals eindeutige Antworten zu bieten. Macht man sie sich im Film zunutze, können wahrhaft spannende Werke hervorgebracht werden. Im zeitgenössischen Kino zeigt sich in diesem Genre eine Vielfalt an Formen und Stilen, dessen Vertreter dadurch mehr sind, als einfach nur Filme mit Musik und Gesang.  Es ist nur wichtig genau hinzuschauen und hinzuhören.  Und so hat es sich am Ende ausgezahlt, die Scheuklappen abzunehmen, denn dadurch eröffnet sich die volle Bandbreite an Formen und Ausdrücken, zu denen Musical-Filme fähig sind.

Musikalität, Tanz und Fassbinder

Wenn ich an Rainer Werner Fassbinders Filme denke, gibt es immer wieder eine Szene, die mir als erstes einfällt: Die Prostituierte Lola steht, wie so oft, auf der Bühne des hochfrequentierten Bordells und singt das Capri-Fischer-Lied. Plötzlich bemerkt sie ihren Ex-Verlobten, der nichts von ihrer Profession weiß, in einer Ecke zusammen mit ihrem besten Kunden im Gespräch vertieft. Kurzer Schock auf beiden Seiten, Lola dreht sich um und singt, nun mit dem Rücken zum Publikum weiter, der Ex-Verlobte verlässt das Etablissement. Lolas Reaktion: sie singt weiter, steigert singt weiter, steigert sich immer mehr in ihren Gesang hinein, reißt sich in einem energetischen Striptease die Kleider vom Leib und wirft sich ins Publikum, das sie in einem ekstatischen Tanz dorthin führt, wo ihr Verlobter gerade noch vor einer Minute war: in die Ecke zu ihrem besten Kunden. Warum also gerade diese Szene? Was macht sie für mich zu jenem Moment, den ich unbewusst so sehr mit Fassbinder verbinde?

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In einem Interview zur Münchner Premiere von Lili Marleen definierte Fassbinder auf eine Frage hin das Melodram als eine „Geschichte, die man mit Personen und Musikalität erzählt“ – wohl gemerkt: Musikalität, und nicht Musik. Was nun mit dieser Musikalität gemeint ist, lässt sich schwer in wenigen Worten beschreiben und schließlich auch Auslegungssache. Für mich allerdings brachte mich dieses Zitat der Antwort auf meine Fragen etwas näher. Wenn ich eine Eigenschaft nennen müsste, die Fassbinders Filme auszeichnet, dann wäre sie: Energie. Er legt seine Beobachtungen auf Prozesse von Dominanz und Unterwerfung, Geflechte aus Abhängigkeitsbeziehungen, welche die Grundlage aller zwischenmenschlichen Beziehungen in seinen Filmen sind. Prozesse, die von innerhalb und außerhalb der Beziehung liegenden Faktoren immer wieder beeinflusst werden und so ständig dynamisch bleiben. Immer wieder öffnen sich neue Konflikte, die sich rasant verdichten und somit am Abgrund zur Katastrophe stehen. Diese zwischenmenschlichen Dynamiken geben den Filmen ein unabwendbares Moment hin zum großen Zusammenprall, das ständig fühlbar, aber schwer beschreibbar ist. Vielleicht ist es eben dieses Moment, welches Fassbinder mit der Musikalität meint. Ein Streben hin zur Auflösung einer Dissonanz, das den Fluss der Dramaturgie immer weiter am Laufen hält, sich nur kurz in einer Konsonanz erholen kann, aber niemals dort verweilt. Ein Vorwärtsdrang, der sich in eben solchen Szenen wie Lolas Tanzszene ergießt, die Protagonistin des Films selbst durchzieht und diese keinen anderen Weg mehr findet, als diesen Drang zu ständiger Dynamisierung durch ihren Körper Ausdruck zu verleihen. Hier ist ein Punkt erreicht, an dem Worte nichts mehr ausdrücken können: der Blick wird zur Ansprache, der Tanz zur Rede. Und es ist auch immer wieder der Tanz als Ausdrucksmittel, auf den Fassbinder zurückgreift; in seiner Körperlichkeit konkret, in seiner Bewegung voller Energie, in seinem Ausdruck stets ambivalent. Als solcher der höchste Ausdruck der „Musikalität“ in Fassbinders Filmen.

Wenn man sich auf die Suche nach Tanzszenen in Fassbinders Filmen begibt, wird deutlich wie facettenreich die verschiedensten Konflikte im Tanz dargestellt werden. Da gibt es die junge Karin Thimm in Die bitteren Tränen der Petra von Kant, welche die Aufmerksamkeit der titelgebenden Modedesignerin auf sich zieht. Auch sie tanzt, auf die Aufforderung hin, doch alleine, wie in ihrer eigenen Welt, in Trance. Petra darf zuschauen, und das reicht ihr auch, für den Moment. Karins Tanz gibt uns sehr viel Aufschluss über die Beziehung der beiden Frauen zueinander, die zu diesem Zeitpunkt erst am Aufkeimen ist. Das Geheimnis und die undurchschaubare Verführung, die von Karin ausgehen, lassen sich durch ihren eigenen Körper besser ausdrücken, als es Worte können, genauso ihre unendliche Befriedigung beim Erfüllen der eigenen Sehnsüchte, bei der Petra Zuschauerin sein darf. Hier tut sich eben jene Dynamik an Konflikten auf, in diesem Falle innerhalb einer beginnenden Liebesbeziehung, die den Film antreibt. Eine Wechselwirkung von Dominanzen, in der Petra als Versorgerin durch ihr Alter und ihre Lebensweisheit und durch ihren unbedingten Wunsch nach Karins Nähe und ihrer emotionalen Abhängigkeit zu ihr zugleich über und unter ihrer Partnerin steht. Doch die Konflikte erstrecken sich über die Beziehung der beiden hinaus auch auf Petras stumm bleibende Hausdame Marlene, die jedes Signal von Zärtlichkeit und Härte von ihrer Herrin dankend entgegennimmt und in sich verhallen lässt. Vor allem die unbändige Härte, die Petra ihr entgegenbringt, lässt Fassbinder den Zuschauer sehen, doch eine kleine Szene zu Beginn des Films kontrastiert all jene Misshandlung und erweitert unseren Blick auf die Beziehung Marlene – Petra. Marlene verlässt das Zimmer, um Post zu holen; Petra legt eine Platte auf und beginnt zu tanzen; Marlene betritt das Zimmer wieder und will an Petra vorbei zu ihrem Arbeitsplatz, doch Petra fasst sie im Vorbeigehen an der Hand und zieht sie mit zu sich; die beiden tanzen zusammen. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass diesem Tanz eine gewisse Innigkeit beiwohnt, so, als ob er ein alteingesessenes Ritual ist. Hier eröffnet sich die Frage, wie die Beziehung der beiden vor dem Beginn des Films wohl ausgesehen haben mag. Waren sie ein Liebespaar? War Marlene immer schon so unterwürfig? Hat sie einst mit Petra gesprochen? Der Tanz kann im Falle Petra/Karin als eine Vorausdeutung des Beziehungsverlaufs der beiden gesehen werden, im Falle von Petra/Marlene hingegen eröffnet er mehr Fragen, als er beantwortet und lässt uns mit völlig anderen Augen auf die beiden Figuren blicken. In ihm verdichten sich die einzelnen Konflikte der Personen, dargestellt durch die Körperlichkeit des Tanzes wird so der dynamische Fluss des Films zur Dynamisierung der Körper.

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Der Tanz ist hier Ausdruck einer Intimität zwischen zwei Personen, einer Abschottung, eines Alleinseins, das allerdings nicht die Probleme (auch von außen herangetragene) auslöschen kann. Nichtsdestotrotz gibt es auch Momente, in denen der Tanz zum Mittel der Verdrängung wird. Die Initiation eines neuen Lebensabschnitts, in dem alte Probleme vergessen werden, wie für Emmi und Ali (Angst essen Seele auf). Der Tanz stellt den Anfangspunkt und Ursprungszustand, auf dessen Grundlage die Liebe funktioniert. Dieser Zustand ist freilich kein Gleichberechtigter und ähnlich wie in Petra von Kant ein durchaus ambivalenter: Emmi ist einerseits die Versorgerin und hat als gebürtige Deutsche klare Vorteile, steht allerdings in einer emotionalen Abhängigkeit zu Ali, vielleicht auch aus Angst in einen Zustand der Einsamkeit zurückzufallen. Der Tanz als Reminiszenz an den unschuldigen Beginn ihrer Beziehung wird für die beiden zu einem scheinbaren Reset-Knopf, mit dem sie oberflächlich all jene Schuld, die sich die beiden innerhalb der Beziehung zukommen haben lassen, wieder auf null setzen können. Ein Bestreben hin zu diesem Unschuldszustand, dem Grundton, der Tonika, wenn man so will (um wieder auf die Musikalität zu kommen), das die beiden antreibt, doch wie in der Musik so klingt auch diese Grundtonart nach all den Modulationen am Ende nicht mehr gleich wie am Anfang, der Neubeginn bleibt ein Wunschtraum, der in der absoluten Intimität des Tanzes denkbar, aber niemals außerhalb dieser utopischen Sphäre umsetzbar ist.

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Diese Intimität des Tanzes wird von Fassbinder allerdings auch immer wieder aufgebrochen, wenn Personen, die am Tanze nicht beteiligt sind, mit in das Geschehen gezogen werden. In Querelle und Warnung vor einer heiligen Nutte spielen sich ganze Eifersuchtsdramen fast vollständig auf der Tanzfläche ab. Da gibt es Blicke von allen Seiten, ein Leutnant, der von draußen durch das Fenster schaut, ein besorgter Ehemann hinter der Theke und ein erboster Bruder davor, wenn Querelle und Lysiane zusammen tanzen. Und noch viel spannender als die Blicken, die von draußen auf das Paar eintreffen, sind jene, die von Innen auf die zuschauende Menge fallen, vor allem die Blicke von Querelle auf seinen Bruder, die von unbrüderlichem Hass und unbrüderlicher Liebe geprägt sind. Lysiane ist hier einerseits eine Trophäe, im Tanz präsentiert, die dem Bruder entwendet wurde, andererseits ein Surrogat für den eigenen Bruder, den Querelle doch viel lieber im Arm halten möchte als die Dame; der Tanz ist Akt der Liebe und der Gewalt zugleich, den nur eng umschlungen oder in synchronem Tanz treten die beiden Brüder in direkte gewaltvolle Konkurrenz.

Schlussendlich ist der Tanz auch eine Art der Selbstdarstellung und im weiteren Sinne der Selbstvermarktung, sei dies nun um den Tanzpartner von sich zu beeindrucken und für sich zu gewinnen (so wie Maria in Die Ehe der Maria Braun ihren Bill kennenlernt) oder als Solotanz in Lola. Man denke nur an das erste Zusammentreffen zwischen Henkel und Willie in Lili Marleen. Ein einziger Bühnenauftritt wird hier zum Zündfunken für Willies Karriere, ein Auftritt, in dem es nicht um Gesang oder Kunst geht, sondern um die reine Körperlichkeit der Bühnenpräsentation, die Willie zum Erfolg verhilft: „Was für eine schöne Frau“, kommentiert Henkel. Im Tanze schön und begehrlich sein, dies ist für Lola, Maria und Willie ihr „Verkaufsargument“, eine kühle, fast wirtschaftliche Entscheidung. Es entsteht eine gewisse Diskrepanz zwischen der Ästhetik des Tanzes und dessen Intention, die durchaus den Grundton für die einzelnen Filme setzt, die so jeweils zur Fassbinders Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder und der nationalsozialistischen Repräsentationspolitik werden. Schließlich eröffnet der Tanz auch einen Spielraum zwischen Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung und tatsächlichem Sein. „Ich singe nur“, sagt Willie, doch tatsächlich verdankt sie ihren Erfolg nicht ihrem Gesang und ebenso wenig kann sie leugnen, mit ihren Auftritten zur Repräsentation des NS-Regimes beizutragen. Vielleicht ist es genau jene Realisation dieser Diskrepanzen, die sie bei ihrem letzten Auftritt für das NS-Regime erstarren lassen. Wie eine lang gehaltene, dissonante Fermate vor der Coda, kommt der Fluss des Films auch hier zum Stehen, aber nicht ruhig und energielos, sondern wie aufgestaut und bereit den Damm zu zerbrechen, Willies Tanz setzt sich gewissermaßen in ihrer Körperspannung fort.

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Fassbinder setzt den Tanz in seinen Filmen in zahlreichen Varianten und zu verschiedenen Zwecken ein. Seinen Tanzszenen wohnt eine gewisse Energie inne, in der sich die aufgestauten Konflikte der Personen in der Dynamisierung der Körper entladen. Fasst man den ständigen Vorwärtsdrang der Fassbinder-Filme als Musikalität auf, so ist der Tanz das Zusammentreffen aller tragenden Motive innerhalb des Stücks, die in ihm zum körperlichen Ausdruck kommen. In jedem Fall ist er eine Kernzelle der Darstellung der mannigfaltigen Konflikte, die sich zwischen den einzelnen Personen abspielen, die Treibkraft, die „Musikalität“, des Films.

Die Faszination des Kontrapunkts – Tarkowski und Bach

Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, als ich zum ersten Mal Tarkowskis Film Zerkalo sah. Es ist gar nicht so sehr, weil der Film einen besonderen Eindruck bei mir hinterließ, sondern vielmehr die Handlungen, welche die Sichtung dieses Films nach sich zog, welche einen entscheidenden Einfluss auf meine Wahrnehmung von Film und Musik, oder besser gesagt: Kunst im Allgemeinen haben sollten. Am Tag, nachdem ich Zerkalo gesehen hatte (es war mein erster Kontakt mit Tarkowskis Filmen), ging ich in die nächstgelegene Bibliothek und entlehnte dort zwei CDs: die beiden Passions-Oratorien von Johann Sebastian Bach. Prompt hörte ich die Aufnahmen durch und wusste, dass ich etwas (für mich) Bedeutendes entdeckt habe. Wenn ich heute an diesen Tag zurückdenke, dann tue ich das nicht aus nostalgischen Gründen, sondern weil ich mich frage, in welchem Zusammenhang diese beiden Erlebnisse, der Film und die Musik, stehen, wie das eine zum anderen führte. Welche Wechselwirkungen, die ich damals freilich nicht begreifen konnte, finden dort in diesem Zwischenraum der beiden Medien statt? Und schließlich die Frage: welche ästhetischen Korrelationen gibt es zwischen den Filmen Andrei Tarkowskis und der Musik Johann Sebastian Bachs? Dass es dort eine besondere Verbindung gibt, war mir damals schon klar. Und je weiter ich mich mit beiden Künstlern auseinandersetzte, desto mehr verschärfte sich der Eindruck einer gewissen Zusammengehörigkeit. Doch wie genau ich sie beschreiben sollte, wusste ich nicht.

Ebenso wie diese Beziehung entziehen sich auch die Filme Tarkowskis einer einfachen Beschreibung. Die menschliche Sprache ist begrenzt, gerade in Anbetracht der Auseinandersetzung mit einer Kunst, die für sich beansprucht, wirklich filmisch zu sein. Filmisch zu sein, das bedeutet, den Ausdruck dort fortzusetzen, wo andere Ausdrucksformen enden, im bewegten Bild. Und dieser dem Film ureigener Ausdruck ist für Tarkowski die Grundlage der Kunstform Film: Zeit fühlbar machen. Die Dramaturgie der einzelnen Einstellung ist der Kern dieses Zeitempfindens. Was bewegt sich wie und wann in welche Richtung? In einem Spiel mit Dichte und Leere, Geschwindigkeit und Stillstand wird so das Wesen der filmischen Ästhetik hervorgehoben. Organisches Werden und Vergehen aus der Einstellung inhärenten Konflikten heraus. Das künstlerische Bild wird aus einem Widerspruch heraus lebendig, ein Widerspruch, der zwar aufgedeckt und beschrieben, aber niemals gelöst werden kann, wie die Einstellungen von merkwürdiger Trägheit im Zerkalo, die selbst nach der Erkenntnis, dass eine sanfte Zeitlupe die Ursache dieser Trägheit ist, nichts von ihrer unauflösbaren Spannung verlieren. Es sind Bilder, die sich einem letztgültigen Eindruck entziehen. Diese „Wechselwirkung antagonistischer Elemente“, wie sie Tarkowski, beschreibt, ist wiederum eine Eigenschaft, die nicht nur dem Film zu eigen ist, sondern allen künstlerischen Werken gemeinsam. Tarkowski findet sie in den Gemälden Leonardo da Vincis wieder, in den Romanen Dostojewskis und nicht zuletzt auch in der Musik Bachs. Es ist die Nicht-Endgültigkeit, welche die Kunst zu etwas Universellem macht, einem „Erfassen sämtlicher Gesetzmäßigkeiten der Welt“, deren letztendliches Ziel nur eines ist: Erkenntnis.

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Hier ist ließe sich also eine Verbindungsstelle zwischen Bach und Tarkowski finden, die in der Symbiose der Werke zu einer Art positiven Feedbackschleife führt, in welcher der Ausdruck der beiden im autonomen Zusammenspiel verbundenen Werke so verstärkt wird. Ein ästhetischer Konsens, eine Faszination von Seiten des Regisseurs für die Musik, die sich unweigerlich auch auf den Rezipienten überträgt.

In der Beschreibung eines Gemäldes von Carpaccio lobt Tarkowski eine bestimmte Unwiderstehlichkeit, die von dem Bild ausgeht und sich in einem unbestimmten Gefühl beim Rezipienten ausdrückt, dessen genauen Ursprung dieser beim ersten Betrachten gar nicht verorten kann. Erst bei mehrfacher Betrachtung fällt auf, dass es kein eindeutiges fokales Zentrum des Bildes gibt, alle abgebildeten Figuren stehen gleichwertig im Fokus. Der Blick des Zuschauers, der im ersten Moment irritiert ist, fühlt sich im zweiten Moment inspiriert und wandert frei von Figur zu Figur. Jede Figur für sich autonom, alle nebeneinander gleichwertig, ergeben sie doch ein großes Ganzes. Ein Prinzip, das analog zum musikalischen Kontrapunkt, wie ihn Bach beispielsweise in seinen Fugen praktiziert, funktioniert.

Der Kontrapunkt ist eine Kompositionstechnik, bei der mehrere Melodien gegeneinander gesetzt werden. Die Besonderheit daran ist, dass jede Melodie dabei eine größtmögliche Eigenständigkeit besitzt. In der Stimmführung muss darauf geachtet werden, dass die einzelnen Stimmen sich dem Gehör des Rezipienten als unterschiedlich zu erkennen geben und nicht ineinander verschmelzen. Nichtsdestotrotz ist stets darauf zu achten, dass die Melodien im harmonischen Zusammenklang zueinanderstehen, um die Einheit des Werks nicht zu gefährden. Eine wahre „Wechselwirkung antagonistischer Elemente“, die dennoch zusammen eine Einheit bildet. Eine Einheit, die freilich irritiert weil sie in sich so heterogen, so voller kleiner Störungen ist, genauso wie ein kleiner Käfer auf der Hand des Stalkers im gleichnamigen Film, Margarita Terechowa, die sich mit einer forschen Handbewegung eine ehrliche Träne aus dem weich-hartem Gesicht wischt. Es ist dies auch ein Zugeständnis an die Autonomie und die kognitiven Fähigkeiten des Rezipienten, der sich so seinen eigenen Fokus legen kann, seinen eigenen Film, seine eigene Musik, kreiert. So wird das Werk zu einem universalen, vielschichtig und vieldeutig. Schlussendlich unendlich groß.

Tarkowski 2

Ein Eindruck, der durch den religiösen Kontext von Bachs Musik – Tarkowski setzt in seinen Filmen ausschließlich geistliche Musik von Bach ein – noch verstärkt wird. Dies ist keine Musik, die zur Unterhaltung geschrieben wurde, die ist Musik, in der religiös-poetische Ideen reflektiert und gefühlt verständlich gemacht werden. Ein Prinzip, das sich auch in Tarkowskis Ästhetik wiederfinden lässt: Das Gefühl ist für ihn das Tor zum menschlichen Bewusstsein, in dem sich die Außenwelt spiegelt. Ungreifbare Ideen, wie die des Opfers, können über das Gefühl greifbar gemacht werden. Und gerade hier ist es auch, wo Tarkowski auf die Musik Bachs, auf das Erbarme dich aus der Matthäus-Passion zurückgreift. In Offret findet sich der Protagonist Alexander in einer Situation wieder, in der ihm die Worte der Alt-Arie fast eins zu eins in den Mund gelegt werden könnten: „Erbarme dich, mein Gott, um meiner Zähren Willen“. So wenig gesagt, und doch so viel: in acht Worten. Tarkowski benutzt sie, zusammen mit dem Gemälde Anbetung der Könige von Leonardo da Vinci, um eine Idee, die des Opfers, zu umreißen: Weihrauch, Myrrhe, Gold, Tränen, das gesamte Hab und Gut sind die Opfergaben, welche jeweils dargeboten werden, Verehrung und Vergebung das Ziel. Diese Idee zu bezeichnen vernichtet sie beinahe, oder umgekehrt, die Idee vernichtet ihre eigene Bezeichnung, denn in einfach beschreibenden Worten lässt sie sich nicht ausdrücken. Ein anderes Mal hören wir die Arie in Stalker, doch ob der Schriftsteller wohl den Text zur Melodie kennt, die er unbeschwert während seiner ersten Schritte in der Zone pfeift? Zwei Filme, zwei Mal dieselbe Komposition, doch ein neuem Kontext und anders interpretiert. Vor allem im zweiten Fall, Stalker, kontrapunktisch zum Geschehen und zum Charakter des Schriftstellers. Dennoch, und dies ist der Kern, des Kontrapunkts, in enger Beziehung zu seinem Konterpart, selbst wenn, oder gerade weil, es eben nicht-ist, was um es herum ist.

Doch das Prinzip des Kontrapunktes wenden Bach und Tarkowski nicht nur innerhalb einer Einstellung eines Taktes, einer Szene/eines Satzes an, sie breiten es formal über gesamte Werke aus. In der Kunst der Fuge zieht Bach ein vier-taktiges Thema als Kernstück eines Werks heran, in dem anhand dieses einen musikalischen Themas die mannigfaltigen Formen der Fuge durchprobiert werden. Dieses auf den ersten Blick fast lehrstückhafte Werk erweist sich auf den zweiten Blick aufgrund eben dieser Prämisse als extrem spannend. Dies ist die besondere Faszination des Kontrapunkts, die enge Beziehung des Seins und Nicht-Seins, der Gegensätze, die bis ins Unendliche weitergeführt werden kann und trotzdem immer auf einen Kern zurückzuführen ist, der gleichzeitig winzig klein und unermesslich groß ist. Ein Zeugnis der künstlerischen Inspiration. Ebenso wie die Dreifaltigkeitsikone des Andrei Rublev, die wie Bachs Fugenthema das Zentrum des Films Andrei Rublev bildet, zu dem alle anderen Elemente des Films in Bezug stehen, auch wenn sie es als Kontrapunkt nur tun, indem sie es bewusst nicht tun. Die wenigen ausgewählten Szenen aus dem Leben des Ikonenmalers, die uns der Film zeigt, wirken auf den ersten Blick zusammenhangslos und werden zudem von langen Episoden unterbrochen, in denen der titelgebende Künstler gar nicht oder nur am Rande vorkommt. Erschließt sich in der Kunst der Fuge dieser Zusammenhang bereits beim ersten Hören, weil die zentrale Idee des Werks am Beginn steht, so bleibt der Zuschauer während Tarkowskis Film sehr lange im Unklaren darüber, wie die einzelnen Episoden des Films zueinander stehen. Umso eindrucksvoller ist das Erlebnis, wenn am Ende des Films alle Kontrapunkte in einer widersprüchlichen Einheit zusammenfallen. Doch das Wesen dieser zentralen Idee bleibt auf ewig ungeklärt. Die Kunst der Fuge ließe sich mit einer sehr detaillierten Analyse sicherlich in seine Einzelteile zerlegen, doch der Ursprungskern, das erste Fugenthema, aus dem alles entspringt, würde dennoch in seiner Art unaufgeschlüsselt bleiben. Es beschreibt sich nicht einmal über die Notenfolge, die es darstellt, sondern erst über den Klang und die damit einhergehenden Implikationen beim Zuhörer. Ebenso ist es mit der Kernidee des Andrei Rublev, die mit nichts als sich selbst bezeichnet werden kann. Unteilbar, im wahrsten Sinne des Wortes ein Atom, wie eine religiös-poetische Idee, gefühlt verständlich gemacht.

Tarkowski 4

Durch ihre Art, wie sie den Rezipienten mit der Form ihres eigenen Ausdrucks ansprechen, ihn gleichzeitig vor ein nicht lösbares Rätsel stellen und unbegreifliche Konzepte greifbar machen, durch die Art, wie sie sich selbst widersprechen und doch immer ein Einheit sind, durch die Art, wie sie sich aus dem Kern einer unendlichen Idee ausbreiten, dadurch sind die Musik Bachs und die Filme Tarkowskis verbunden. Manchmal ergänzen sie sich, manchmal stehen sie selbst gegeneinander. Auf jeden Fall ist der große Respekt, den Tarkowski für Bachs ästhetisches Schaffen hat, in seinem Umgang mit der Musik spürbar und am Ende ist es genau jene Liebe zur Kunst, die sich auch auf den Zuschauer überträgt und in dazu anregt, sich tiefergehend mit den Wechselwirkungen zwischen Bach und Tarkowski auseinanderzusetzen, gerade weil die Lücken innerhalb dieser Wechselwirkung niemals schließbar sind und immer wieder für Spannungen sorgen, aber dies ist die Faszination des Kontrapunkts.