Text: Julia Milz
Ich sitze ganz am Rand der hinteren Reihe im gut besuchten Kino des Filmforums und rutsche unruhig im Sitz hin und her. Immer wieder lege ich mal das linke über das rechte, mal das rechte über das linke Bein, nur um dann beide Beine so weit wie möglich in den Gang auszustrecken. Es scheint anderen auch so zu gehen, denn in den Sitzreihen vor und hinter mir bewegt es sich unaufhörlich. Menschen verlassen den Saal, wobei nicht wenige wiederkommen, einige vermutlich vom Klo, andere mit Limo-Flaschen in den Händen. Ich fische in meinem 3Sat-Beutel nach gesalzenen Nüssen, versuche dabei keinen Laut von mir zu geben und stelle fest, dass ich mal wieder vergessen habe, meine Wasserflasche aufzufüllen. Es ist die dritte und letzte Vorstellung an diesem vierten Tag der Duisburger Filmwoche. Ich habe heute schon (und wieder) um den im Mai verstorbenen Filmemacher Thomas Heise getrauert, dem im Rahmen der morgendlichen Sonderveranstaltung Keine Denkmalpflege, mit Freunden und Kollegen gedacht wurde. Ich habe auch viel über Farahnaz Sharifi’s Film gegrübelt, dessen Titel Sayyareye dozdide shodeye man (My Stolen Planet) irgendwie auch bezeichnend für diese Woche ist, denn vor zwei Tagen wurde ein Faschist zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, die Ampel-Koalition hat kurz darauf endgültig das Koalieren aufgegeben und der Deutsche Bundestag hat heute eine Resolution verabschiedet, die Minderheiten nicht zu schützen vermag und die Freiheit der Meinung, der Kunst, und der Wissenschaft in diesem Land in Frage stellt (darüber übrigens kein Wort während dieser Woche)[1]. Es ist sehr stickig in diesem Raum und der zweieinhalbstündige Film, wegen dem ich eigentlich hier sitze und für den ich gegen meine Müdigkeit mit Herumzappeln und Rauchmandeln ankämpfe, fährt vermeintlich „unaufgeregt“, wie es eine Stimme später im Publikumsgespräch nennt, fort.
I. Sehen
„Doch vor allem habe ich aus den mir liebsten Filmen gelernt, dass man dem Publikum – sei es sehend oder lesend – eines immer abverlangen muss, und das ist Geduld.“ – Esther Kinsky, Sehen lernen
Vor der inneren (meiner) und äußeren Unruhe (des Saals), auf der Leinwand: schrumpelige Maiskolben in einem Eimer und ein Maisfeld, dessen schon halbtrockene Halme vor der Erntearbeit zweier Menschen erzittern. Dann das vermutlich gleiche Maisfeld an einer Straßengabelung und aus einiger Entfernung aufgenommen. Die Halme regen sich jetzt kein bisschen. Etwas weiter weg, aber in der Nähe des Feldes mischt ein Mann Zement. Darauf folgt eine nächtliche Einstellung, in der ein anderer Mann an der Kasse eines leeren Supermarktes sitzt. Menschen arbeiten, bauen Häuser, hacken Holz, gehen zur Schule, sie rasen auf Motorrädern Berge rauf und runter und rufen zum Gebet auf. Zwei weiße Pilze leuchten auf dunkelgrünem Untergrund und immer wieder erscheint ein Wald zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten auf der Leinwand. Mal ist dieser Wald undurchdringlich, mal lichter, so dass wir aus der Distanz sehen, wie sich kleine Menschengruppen hindurch bewegen. In einer späteren Einstellung unterhalten sich Frauen aus mehreren Generationen in einem Wohnzimmer darüber, wie sie versuchen, diese Menschen, die mitunter hungrig bei ihnen anklopfen, zu versorgen. Sie sprechen von der Kälte und Feuchte des Waldes, durch den sie irren oder in dem sie mitunter schlafen müssen und von der Brutalität der Polizei, die in ihm nach ihnen sucht. Es folgt eine Einstellung von zurückgelassenen Gegenständen am Waldrand, ein Mensch, der in diesem Areal Minen sichert und eine Einstellung bei Nacht, deren Dunkelheit dem Blick jene schwer zu ertragende Brutalität verwehrt, von der die Frauen eben noch sprachen und die sich nur über einen Off-Ton aus Schreien, Bitten und Flehen vermittelt. Dann eine Einstellung bei Tag: die Grausamkeit stummer, karger Baumkronen, die langsam im Wind hin und her schwanken. Ein paar Jahreszeiten später, in einer verlassenen Schule, die von Durchreisenden als temporäre Unterkunft genutzt wird, bereitet eine Familie Essen zu. Die kleinsten Mitglieder dieser Familie werden mit einem aufblasbaren Swimmingpool überrascht. Es wird Zeit an einem Ort, an vielen Orten dieses einen Ortes verbracht, wobei der Film keine lineare Bewegung durch die Zeit vollführt, denn die Jahreszeiten folgen nicht chronologisch aufeinander. Auch sprechen die Bilder nicht explizit miteinander. Vielmehr wird in ihrer Anordnung eine Gleichzeitigkeit spürbar und wegen der Zeitsprünge auch eine gewisse Gegenwärtigkeit der Vergangenheit.
II. Erfahren
Es muss eine Stunde vergangen sein (tatsächlich sind es anderthalb) und wieder ist da der Wald. Mit einem langsamen Schwenk gleitet die Kamera über dessen Dichte. Ich fühle mich etwas getrieben von meiner Ungeduld, etwas suchen und finden zu müssen, um es dann zu interpretieren. Natürlich könnte ich meinen Blick einfach über die Landschaft streifen lassen – die Kamerabewegung als poetische Meditation wahrnehmen, doch lädt sie nicht zum Meditieren ein. Sie ist kein wohliges Streifen eines Blickes über eine Landschaft (wobei sich mir die Frage stellt, wer überhaupt blickt). Das Bild ist so dicht, wie der Wald in ihm. Irgendwie erscheint es mir auch andächtig bis hin zu bedrohlich, was vom vermeintlich minimalistischen, in dieser Setzung jedoch episch anmutenden Drone-Score unterstützt wird. Dieses Bild ist alles andere als ruhig. Im Wald bewegt sich einiges, auch wenn das üppige Laub verdeckt, was sich im Inneren regt; seien es nun Menschen, wie schon die erste Einstellung des Films suggeriert, eine Kamera, die sich in der Perspektive einiger atmender und flüsternder Körper durch das nächtliche Dickicht bewegt, oder eine unsichtbare Grenze über die sich wiederum diese Körper bewegen. Ein bewegtes Bild ist es auch aufgrund der flimmernden Körnung des 16mm Materials, das mit dem langsam schweifenden Kamerablick ein waberndes Ganzes ergibt, für das mir kein besseres Adjektiv einfällt als „psychedelisch“, oder doch: „psychoaktiv“. Ersteres deutet schon auf die Wirkung hin, letzteres eher auf das Aktive in der Substanz (oder eben des Bildes). Das ist für die Sache, um die es in dem Film zu gehen vermag, vielleicht nicht unbedingt relevant, für die Bewegung zur Sache hin aber schon. Diese asynchronen Bewegungen und unterschiedlichen Tempi des Bildes: die zittrige Körnung der Bildoberfläche, der langsame Schwenk über den Wald und der Wind in den Wipfeln der Bäume, vermitteln ein Mehr an Vorgängen, Bewegungen und Geschwindigkeiten an diesem Ort: ein Dahinter, Darunter, eine Weite und Tiefe im Dahinter und Darunter und eine Unsichtbarkeit, die keinesfalls mit Abwesenheit zu verwechseln ist. Kurz gesagt, hat dieses Bild eine wahrnehmungsverändernde Wirkung. Die Filmemacherin wird im anschließenden Gespräch von einer „schwebenden Wahrheit“ sprechen und dem Publikum damit einen Begriff für eine weitere Bewegung in diesem Film geben, jedoch verstehe, oder besser gesagt, erfahre ich das beim Sehen erst nach einiger Zeit.
Zunächst einmal werde ich ungeduldig und teile meine Ungeduld auch meiner Sitznachbarin mit (sie möge es mir nachsehen). Wieder verlässt jemand das Kino. Zwar gebe ich nicht auf, wie manch’ andere Person im Raum, ich gebe aber nach und tue etwas für mich sehr seltenes: erstens verlasse ich den Saal während der Vorstellung und zweitens kaufe ich mir eine Cola. Das vermag wieder etwas irrelevant für die Betrachtung dieser filmischen Arbeit sein, aber ganz und gar nicht ist es das für meine eigene Seherfahrung. Esther Kinsky, Schriftstellerin, Übersetzerin und vor allem, „Filmeseherin“, wie sie am Tag vorher während ihres Vortrags Sehen lernen unterstreicht, rückt an dieser Stelle wieder in mein Gedächtnis. Ich erinnere mich, wie sie mit ihrer zarten Stimme von der vorrangigen Bedeutung der Arten und Weisen des Sehens, statt der Sache an sich, dem „Was“ spricht. Es ginge nicht darum, Bilder in einem, wie sie formuliert „Bilderlärm“, zu konsumieren, sondern das Sehen als „bewusste Aktivität“ zu verstehen. Die bewusste Aktivität – auch das ist eine Bewegung. Die bewussten Entscheidungen werden nicht nur im Film getroffen. Auch das Publikum entscheidet, sich einzulassen (oder nicht), einer Bewegung zu folgen und eigene Bewegungen zu vollführen.
Im nachfolgenden Filmgespräch stellt eine zuschauende Person die lange Dauer der Einstellungen in Frage: “Die Bilder würden dadurch weder wahnsinniger noch ästhetischer.” [2] und bezieht sich dabei auch auf den Titel des Films, Landschaft und Wahn, zu dem ich, wie auch zum atmosphärischen Score (Alva Nota), ambivalente Gefühle habe. Nicole Vögele, die Regisseurin des Films, räumt hier ihren eigenen Unmut über die deutsche Übersetzung des Titels Landscape and Fury ein, der schließlich ein Verweis auf Faulkner’s Roman The Sound and the Fury sei, wobei sich „Fury“ nicht besser ins Deutsche übersetzen ließe. Ich melde mich daraufhin zu Wort und merke an, dass der Film auch mich anfänglich frustrierte (tatsächlich die ersten anderthalb Stunden), mit seinen Längen und dieser Distanz „zur Sache, um die es ja eigentlich geht“, wie ich etwas flapsig in den Raum werfe. Mit der Sache meine ich eigentlich die Menschen, die auf der Flucht an der bosnisch-kroatischen Grenze gewalttätigem Zurückdrängen ausgesetzt sind. Dann spreche ich über meine Seherfahrung während des Films als eine langsame Bewegung hin zu diesen anfänglich nicht differenzierbaren Punkten in der Landschaft, diesen Stimmen aus dem Off, diesen gesichtslosen Gestalten aus den Erzählungen der Einheimischen und wie sie allmählich zu Menschen werden. Wie mit den Pilzen, Baumwipfeln und Anwohnern beginnt die Kamera mehr und mehr Zeit mit ihnen zu verbringen, ohne die unsichtbare Grenze zwischen Betrachtenden und Betrachteten zu überschreiten, ihnen Geschichten abzuringen oder sie gar anzuleiten. Der Film zeigt mir keine flüchtig auftauchende, anonyme Masse ohne Handlungsspielraum, sondern setzt die Menschen, auf die er trifft, in Beziehung zum Ort, den sie durchkreuzen und zu den Anwohnern, auf die sie stoßen und die sich derer mitunter annehmen, wenn auch nur temporär.
Wieder erinnere ich mich an Esther Kinsky’s Vortrag, in dem sie vor allem Bezug auf James Benning’s Film Thirteen Lakes nimmt: “– das Was der Erkenntnis bleibt offen. Doch wie man sich einlässt, wie man sich öffnet, die Bilder auf sich wirken lässt, welcher Bewegung man folgt, das ist der Stoff, an dem man lernt.“ Es ist kein Was, keine Erzählung oder Plot in Landschaft und Wahn, sondern es ist die Erfahrung meines eigenen Sehens, die mir etwas lehrt. Wenn dieser Film mir etwas erzählt, dann von der Zeit, die es braucht, um einer Sache näher zu kommen und von der Komplexität des Raumes, in oder durch den diese Sache sich bewegt. Und dann ist da dieses Bild – ich nannte es zu Beginn schon, ein Maisfeld, das im Gespräch zwischen zwei Männern wieder auftaucht und eine Bewegung in mir auslöst, die weder technisch, physisch, noch materiell ist: und zwar die der Erinnerung.
III. Erinnern
In einer kargen, abgeholzten Landschaft stehen zwei Männer mit dem Rücken zur Kamera, rauchen und unterhalten sich über die Minen, die seit Jahrzehnten in der Erde vor ihnen verstreut sind. In der darauffolgenden Einstellung laufen sie auf einem Weg durch eben diese verminte Landschaft und sprechen über einen gemeinsamen Bekannten, der trotz Minengefahr in diesem Gebiet Pilze sammelt und dabei mitunter auch die ein oder andere beseitigt. Anschließend grillen sie Würstchen auf einem Berg und unterhalten sich über ihre Vergangenheit als Soldaten im Bosnienkrieg. Es fallen viele Namen von verletzten und getöteten Kameraden. Sie sprechen darüber, wie Verletzungen und Tod irgendwann zur Gewohnheit werden und sie denken nach, über die eigene Unversehrtheit inmitten dieser Unmöglichkeit unversehrt zu bleiben. Und dann erinnern sie sich an ein Maisfeld, an die Höhe der Pflanzen (50-60 cm) und daran, wie ein Mann hineinrennt, wie daraufhin ein Schusswechsel folgt und ein Kamerad im Feld zurückbleibt. Ich sehe das Feld ganz deutlich vor meinem inneren Auge, das Feld an der Weggabelung, die zitternden Maishalme vor den Menschen bei der Ernte, die vertrockneten Kolben im Plastikeimer. Ich nehme teil am Erinnern. Auch wird mir bewusst, dass in dieser spezifischen Anordnung von Betrachtungen oder Blicken, die oft auch an die gleichen Orte wiederkehren, eine Art Erinnern steckt. Dabei ist das Wer hinter dem Blick weniger eine Autorin, die mir etwas vermitteln möchte. Vielmehr scheint es der Blick einer Zeugin zu sein, der sich allen Orten und Menschen in diesem Film gleichermaßen widmet. Solch ein Verweilen und Bezeugen braucht Zeit und Geduld. Nur so entstehen Bilder, die vielschichtig, nicht eindimensional sind und die das Bewusstsein erweitern, statt zu emotionalisieren.
Die Einstellung wechselt von den Männern zu der von einem kargen Feld. Keine einzige Pflanze, nur braune, durchpflügte Erde. Ihre Stimmen fahren fort mit dem Erzählen von Erinnerungen, die unmöglich bebildert werden können. Vergangenheit und Gegenwart an einem Ort, in einer Landschaft, die erzählt: von einem bitteren Krieg vor dreißig Jahren, von einer Abgeschiedenheit und Langeweile, die auf Motorrädern tiefe Furchen in die Erde gräbt, vom brutalen Zurückdrängen geflüchteter Menschen an oder über unsichtbare Grenzen, von Solidarität, die sich als zurückgelassene Brotreste und Decken materialisiert. Mein Blick hört zu – ist Zeuge, so wie im Bild die Landschaft und im Ton die Stimmen Zeugen sind. Es braucht kein Suchen oder Finden, keine Interpretation. Stattdessen fordert dieses Bild ein Sehen, das Erfahren ist, und Erinnern – eine Bewegung des Bewusstseins, ein, wie Esther Kinsky es nennt: „Engagement“, eine Teilnahme an einer unsichtbaren und doch allgegenwärtigen, schwebenden Wahrheit.
[1] Die Resolution: https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf und eine ausführliche Kritik an dieser Resolution, Presse Konferenz vom 6.11.2024: https://www.youtube.com/watch?v=TkM4-g5bKr8
[2] Nachzulesen im Protokoll von Eva Kirsch https://protokult.de/2024/landschaft-und-wahn/