Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Bilder aus der Produktion – Drei Beispiele: Hände in Großaufnahme

von Ron­ny Günl

Vor ein paar Tagen kauf­te ich ein altes Pres­se­fo­to des Öster­rei­chi­schen Film­mu­se­ums. Es zeigt die Schluss­sze­ne von Ser­gei Eisen­steins Bro­nen­osec Potem­kin. Matro­sen, mit dem Rücken der Kame­ra zuge­wandt, win­ken mit ihren Müt­zen zu den Schif­fen der Admi­rals­flot­te hin­über. Sie haben sich im Auf­stand gegen den Zaris­mus ver­brü­dert. Ich hat­te es aus kei­nem bestimm­ten Grund gekauft, außer dass mich das Motiv ansprach. In einem Bil­der­rah­men hängt es nun an der Wand. Selt­sa­mer­wei­se scheint es dem Film, den ich in Erin­ne­rung hat­te, zu wider­spre­chen. Nichts dar­an ver­weist auf die eigen­tüm­li­che Revo­lu­ti­ons-Rhe­to­rik. Statt­des­sen das wei­te Meer, der ange­schnit­te­ne Rücken eines Matro­sen und eine still­ge­stell­te Bewe­gung. Kei­ne Spur von aus­ge­zehr­ten Gesich­tern in Groß­auf­nah­men oder den gewal­ti­gen Sym­bo­len der Insur­rek­ti­on. Ein­zig, eine ver­schwom­me­ne Hand, die eine Müt­ze geballt gen Him­mel streckt.

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Harun Faro­cki spricht in sei­nem Film Der Aus­druck der Hän­de davon, dass zuerst die Gesich­ter in der Geschich­te des Films in Groß­auf­nah­men auf­ge­nom­men wor­den wären, dann die Hän­de. Wäh­rend uns die Gesich­ter bekannt erschie­nen, zeig­ten sich die Hän­de, iso­liert von der Hand­lung, rät­sel­haft, so als hät­ten sie ein puri­ta­ni­sches Eigen­le­ben, wenn sogleich das Gesicht, abge­trennt von Kör­per und Sze­ne tran­szen­die­re. Die Hän­de sprä­chen eine eige­ne Spra­che, die aber für das Auge fremd blie­be. „Die­se Lust, mit der das Kano­nen­rohr durch die Hand glei­tet, das lässt dar­an den­ken, dass das Kino kein Medi­um der Berüh­rung ist. Viel­mehr lei­tet es sich vom Augen­sinn ab. Die meis­ten tas­ten­den Emp­fin­dun­gen über­setzt das Kino in Bli­cke“, stellt Faro­cki am Ende des Films fest. Die Hand auf der Lein­wand schafft in einer gespens­ti­schen Wei­se eine Ver­bin­dung vom Sehen zum Tasten.

Nie weiß man im Kino wohin mit den eige­nen Hän­den. Gleich­zei­tig wir­ken die Hän­de auf der Lein­wand, als hät­ten sie ihren Besit­zer oder ihre Besit­ze­rin ver­lo­ren. Es könn­ten auch die eige­nen sein, die auf ein­mal eine unver­mit­tel­te Berüh­rung erfah­ren. Indem das Kino die Hän­de in die Groß­auf­nah­me zwängt, macht sich die­se vor­be­wuss­te Emp­fin­dung zu eigen. Sie sind jetzt kei­ne ein­fa­chen Hän­de, sie sind zu Din­gen gewor­den, wie Vol­ker Pan­ten­burg im Wör­ter­buch kine­ma­to­gra­phi­scher Objek­te über die Hand schreibt. Immer ist ihnen eine beson­de­rer Auf­ga­be zuge­teilt. Die meis­ten Hän­de, die in bzw. an einem Film arbei­ten, bekommt jedoch nie­mand zu Gesicht. Offen­bar gibt es Hän­de, deren Abbil­dung für das Kino ent­schei­den­der ist als ande­re. Es stellt sich die Fra­ge, ob sie tat­säch­lich han­deln oder eher denken?

I

Arbeit ist für den Film kein Fremd­wort. Im Gegen­teil: Man könn­te fast sagen, über­all wird im Film gear­bei­tet. Nur spielt das meist kei­ne Rol­le für die soge­nann­te Hand­lung. Viel­mehr ist die Arbeit die not­wen­di­ge Bedin­gung des Gesche­hens. Man könn­te glau­ben, dass die Arbeit nur in der Ästhe­tik der Groß­auf­nah­me eine fil­mi­sche Funk­ti­on erfül­le. Der Irr­tum über­rascht: In Char­lie Chap­lins Modern Times gibt es kei­ne ein­zi­ge Groß­auf­nah­me von arbei­ten­den Hän­de. Selbst unter dem Takt-Régime der Maschi­nen hält es Chap­lin nicht für not­wen­dig, die Arbeit visu­ell vom Men­schen zu tren­nen. Für Chap­lin bleibt in der Halb­to­ta­len ein erret­ten­des Resi­du­um des Komi­schen bestehen, wo sich die Kame­ra nicht oppor­tu­nis­tisch mit der Ent­frem­dung identifiziert.

Das Verb Arbei­ten wird erst in der Groß­auf­nah­me zum Sub­stan­tiv der Arbeit. Viel zu oft heißt es, ein Film sei beson­ders rea­lis­tisch, wenn er vor allem kein Detail der Arbeit aus­spart. Aber lässt er sich so nicht von einer Bewe­gung ver­ein­nah­men, die nicht sei­ne eige­ne ist? Macht sich selbst zum Lauf­band, auf dem die Güter mit­tels Mon­ta­ge her­ge­stellt wer­den? Dafür sind die durch die Kadrie­rung abge­schnit­te­nen, anonym-arbei­ten­den Hän­de nur noch ver­stumm­te Werk­zeu­ge. Es sind nicht immer nur die Hän­de, die am Lauf­band an einem Werk­stück han­tie­ren im Kino. Meist sind es eher die Hän­de an Knöp­fen, Reg­lern oder vor allem Schreib­ma­schi­nen. Jer­ry Lewis wuss­te dies zu karikieren.

Die Hän­de büßen die meta­phy­si­sche Bedeu­tung der Groß­auf­nah­me für das Gesicht. Das heißt, sie wer­den nur noch zu blo­ßen „Schnitt­bil­dern“ redu­ziert, die den Fluss der Hand­lung erhal­ten soll­ten. Die Bil­der arbei­ten­der Hän­de glei­chen den tay­lo­ris­ti­schen Stu­di­en, wo der Film als Medi­um zur Ratio­na­li­sie­rung indus­tri­el­ler Pro­duk­ti­on dien­te. Die­se Hän­de ver­kör­pern weder den abs­trak­ten noch den kon­kre­ten Aus­druck der Arbeit. Sie sind das all­ge­mei­ne Mit­tel der Pro­duk­ti­on, nicht der Zweck des fil­mi­schen Bil­des. Womög­lich lie­ße sich die­ses Ver­hält­nis umkeh­ren, wenn der Film die Hand sinn­lich begrei­fen wür­de. Aber nicht im Sin­ne des über­tra­ge­nen Füh­lens bzw. Spü­rens, son­dern mit einer Erfah­rung, der das Publi­kum unver­mit­telt aus­ge­setzt wird.

II

Zöger­lich, als kämp­fe sie gegen etwas an, legt Clau­dia ihre Hand auf San­dros Haar am Ende des Films ‌L’avventura von Michel­an­ge­lo Anto­nio­ni. Ein Film vol­ler Ent­täu­schun­gen: Bei einem Aus­flug auf eine ein­sa­me Insel vor Sizi­li­en ver­schwin­det Anna, San­dros Ver­lob­te. Wäh­rend er sich auf die Suche nach ihr begibt, ent­wi­ckelt sich die pla­to­ni­sche Freund­schaft von Clau­dia und San­dro in eine roman­ti­sche Bezie­hung. Nach einer aus­ge­las­se­nen Fei­er am Ende des Films fin­det Clau­dia San­dro, mit einer ande­ren Frau umschlun­gen, wie­der. Ergrif­fen flüch­tet sie aus dem Hotel. Die bei­den tref­fen schließ­lich auf einem erhöh­ten Platz im Mor­gen­grau­en über dem rau­schen­den Meer wie­der zusam­men. Die Bli­cke der bei­den über­schnei­den sich in die­ser Sze­ne nie. So sehen wir die Groß­auf­nah­men der bei­den wei­nen­den Gesich­ter, die ver­lo­ren in die Fer­ne schauen.

Die Halb­to­ta­le bringt sie zuein­an­der ins Bild. Obwohl die Hand­lung bis­lang nur aus den Posi­tio­nen bei­der gezeigt wur­de, ergreift auf ein­mal eine frem­de, drit­te Per­spek­ti­ve die Macht über die Hand­lung. Ein Schnitt, wie ein Schau­der, zeigt Clau­di­as Hand, auf­ge­nom­men aus einem unbe­kann­ten Blick­win­kel. Die Kame­ra ver­folgt ihre fast schon gelähm­te Bewe­gung. Es ist ganz so, als wäre die Hand beses­sen von etwas und müs­se sich gegen der betro­ge­nen Ver­nunft wider­set­zen. Die Hand, die vom Ein­satz der Musik poin­tiert, San­dros Kopf und Nacken strei­chelt, scheint wie eine Alle­go­rie zu sein. Kei­ne idea­lis­ti­sche Ver­söh­nung, son­dern der Schmerz will­fäh­ri­ger Ver­zweif­lung ist dort zu sehen. So schrei­ben Ulrich Gre­gor und Enno Pata­l­as über die­sen Film: „Betrach­tet man L’avventura im Zusam­men­hang von Anto­nio­nis Gesamt­werk, so zeich­net sich the­ma­tisch das gene­rel­le Ver­sa­gen des Man­nes ange­sichts sei­ner gesell­schaft­li­chen und zivi­li­sa­to­ri­schen Auf­ga­ben ab, eine Situa­ti­on, in der sich Anto­nio­ni weib­li­che Figu­ren eher für die Ein­sam­keit als für die Medio­kri­tät einer Bin­dung ent­schei­den; allen­falls das gegen­sei­ti­ge Mit­leid ver­mag als Brü­cke zwi­schen den Geschlech­tern zu bestehen.“ 

Clau­di­as Hand scheint sanft zu sein, doch die zer­rüt­te­te Bezie­hung zwi­schen den bei­den Figu­ren, hebt sich nicht auf. Die Groß­auf­nah­me wirkt eher wie ein Fremd­kör­per, der etwas ver­deut­licht, was die abschlie­ßen­de Tota­le nicht ein­zu­lö­sen vermag.

III

Viel­leicht spielt in kei­nem ande­ren Film eine Hand in Groß­auf­nah­me eine gewich­ti­ge­re Rol­le als in Fritz Langs M. Eben­so wie der Buch­sta­be „M“ selbst tre­ten die Hän­de des Kin­der­mör­ders als eine Chif­fre her­vor. Einer­seits sind es die Hän­de des Mör­ders, die im Ver­bor­ge­nen das Ver­bre­chen ver­üben. Ande­rer­seits wird erst durch den Abdruck einer mit Krei­de beschrie­be­nen Hand der Mör­der Hans Beckert iden­ti­fi­ziert. Die Hän­de, beson­ders die von Peter Lor­re, sind nicht ein­fach Teil des Gesche­hens: Sie füh­ren ihr eige­nes abge­trenn­tes, ges­ti­sches Spiel. Ob es noch die von Peter Lor­re oder schon die Regie­hän­de Fritz Langs sind, scheint zu verschwimmen.

Wahr­schein­lich ist die letz­te Sze­ne des Fil­mes schon in jeder erdenk­li­chen Facet­te ana­ly­siert und all ihren his­to­ri­schen Zusam­men­hän­gen inter­pre­tiert wor­den. Womög­lich aber noch nicht unter dem Aspekt der Hand, die hier gera­de­zu para­dig­ma­tisch in Erschei­nung tritt: Hän­disch wird M ali­as Hans Beckert vor das Tri­bu­nal gezerrt – Es ist die Hand des blin­den Bal­lon-Ver­käu­fers, die den Mör­der ertas­tet – Und dann sind es immer wie­der Hän­de die M von hin­ten antip­pen oder mit Schlä­gen dro­hen – Sei­ne Hän­de ver­kramp­fen zu Kral­len – Alle Mit­glie­der des Tri­bu­nals erhe­ben ihre Hän­de, als die Poli­zei das Ver­steck ent­deckt – Schließ­lich ergreift die Hand des Staa­tes den ange­klag­ten Mörder.

In Fritz Langs Film bestä­tigt sich, das Prin­zip der Über­tra­gung, das Faro­cki in sei­nem Fern­seh­bei­trag beschrie­ben hat, und geht dar­über hin­aus. Die Hand bezie­hungs­wei­se die Hän­de wer­den zu auto­no­men Hand­lungs­trä­gern. Hans Beckert ist sozu­sa­gen nur noch ein Anhäng­sel sei­ner Hän­de, wenn er mor­det. Man könn­te wohl sagen, dass es Lang in die­sem Film gelingt, die Erfah­rung einer Hand abzu­bil­den. Er ver­sucht sie, in ihrer Wider­sprüch­lich­keit als unver­söhn­lich zu begrei­fen. In der Groß­auf­nah­me ist sie nie ein­fach nur ein fili­gra­nes Instru­ment, son­dern stets eine Meta­pher für den Gegen­satz von Kopf und Hand. Das Bild macht damit etwas begreif­lich, das weder arbei­ten­de noch füh­len­de Hän­de her­stel­len können.

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Nie wür­de ein Magi­er frei­wil­lig den Zau­ber sei­ner Kunst­stü­cke ver­ra­ten. Doch um ihn zu durch­schau­en, muss man auf sei­ne Hän­de bli­cken. Hän­de in Groß­auf­nah­men las­sen trotz ihrer Rät­sel­haf­tig­keit etwas Wah­res durch­schei­nen. Dabei darf jedoch nicht ver­ges­sen wer­den, dass sie der Teil eines Gan­zen sind. Die Groß­auf­nah­me ist sich des­sen nur sel­ten bewusst. Unbe­merkt nimmt sie die­se Tren­nung – eine Ampu­ta­ti­on – vor, indem sie die Hand zum blo­ßen Gebrauch einer beweg­li­chen Ges­te degra­diert. Bei Robert Bres­son wird dies schließ­lich zur bil­den­den Form des Films L’Argent, wie Hart­mut Bitom­sky in einer Aus­ga­be der Film­kri­tik 1984 schreibt: „Hän­de, die eine Sache ergrei­fen, hal­ten, über­ge­ben, anneh­men, ver­brin­gen. Man könn­te dem Film auch als einer lan­gen gewun­de­nen Ket­te von Hand­rei­chun­gen nach­ge­hen. […] Bres­son führt mit die­sem Film die Hän­de als Gegen­stän­de des Kinos ein, so wie die Maler des Quat­tro­cen­to die Hän­de in die Male­rei ein­ge­führt haben.“ 

Auf der Lein­wand ringt die Hand den Gesich­tern etwas von ihrer ver­geis­tig­ten Vor­herr­schaft ab. Im sel­ben Moment läuft sie jedoch Gefahr, zu eben­die­sem sche­ma­ti­schen Abbild zu wer­den. Ein­mal mehr auf die Hän­de zu schau­en und das, was sie zu ver­ber­gen schei­nen, anstatt sich von psy­cho­lo­gi­schen Taschen­spie­ler­tricks hin­rei­ßen zu las­sen, wäre not­wen­dig. Das wür­de näm­lich bedeu­ten, die Hand in ihrer sen­si­blen Vir­tuo­si­tät und nicht zuge­rich­tet in einer Kadrie­rung zu ver­ste­hen. Wenn ich jetzt erneut das Bild des Matro­sen betrach­te, fällt mir auf, dass gera­de die still­ge­stell­te Bewe­gung in ihrer fra­gi­len Unein­deu­tig­keit das zu offen­ba­ren scheint. Der Hand gilt hier nicht die Auf­merk­sam­keit einer ein­sil­bi­gen Bedeu­tung. Viel­mehr ver­kör­pert sie Gedan­ken und Emp­fin­dun­gen eines gan­zen Zusam­men­hangs, der sich nicht mit einem blo­ßen Wort über­set­zen lässt. Der Aus­druck wird nur les­bar in der Spra­che des Films. In sei­ner Sim­pli­zi­tät birgt das Bild eine ergrei­fen­de Schön­heit, die so alles hin­ter sich ver­ges­sen lässt. Aber die schrei­ben­den, stem­men­den, win­den­den oder mon­tie­ren­den Hän­de dahin­ter las­sen mich dabei in Gedan­ken nicht los.