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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Cannes 2016: Sieranevada von Cristi Puiu

Realismus im Kino kann bedeuten: Dass man das Gefühl hat, die Ereignisse auf der Leinwand würden auch dann stattfinden, wenn die Kamera sich wegdrehen würde. Dass sie also nicht gestellt oder ausgestellt sind in ihrer exklusiven Hier-und-Jetztigkeit – als Sondervorführung for your eyes only – sondern ihre unausgesprochene Vergangenheit und Zukunft mit einschließen, ein temporales Off, dass dem Zuschauer nicht Untertan ist. Was diesen Effekt verstärkt, ist Gleichzeitigkeit, die Wahrnehmung einer Parallelität von Zeitläufen. Nicht im Sinne einer Parallelmontage, die den illusorischen Eindruck erzeugt, an zwei Orten zugleich zu sein, sondern verstanden als Bewusstsein einer Versäumnis, eines Mitdenkens dessen, was vielleicht gerade anderswo passiert. Diese Möglichkeit des Mitdenkens wiederum wird freigeschalten, wenn der Impetus einer Szene nicht darin liegt, auf etwas „hinauszulaufen“, was man womöglich herbeisehnt – ein Herbeisehnen, das zu stark ist, um andere Sehnsüchte oder Denkräume neben sich zu dulden. Ein gewisser Realismus verdankt sich auch der Belanglosigkeit.

Sieranevada von Cristi Puiu

Unter diesen Gesichtspunkten ist Cristi Puiu einer der großen Kinorealisten der Gegenwart. Sein neuer Film Sieranevada, der vor einigen Tagen bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere hatte, kann man als undramatisches Drama der Nebensächlichkeiten und der Verzögerung bezeichnen. Er spielt fast vollständig in einer engen, dunklen, echten Mehrzimmerwohnung, wo sich eine große Familie versammelt, um des Todes einer Vaterfigur zu gedenken. Die Verzögerung beginnt schon in der ersten langen Totalen – einer von vielen – in der die „Hauptfigur“ Lary, ein Arzt, seine Familie abholt und mit dem Auto um den Block fahren muss, weil er keinen Parkplatz findet. Als wir mit ihm in der Wohnung ankommen, laufen die Vorbereitungen für den Leichenschmaus schon auf Hochtouren, doch zum Essen kommt die immer hungrigere Michpoche erst am Ende der knapp dreistündigen Laufzeit, weil immer etwas dazwischenkommt. Was bis dahin abläuft, ist eine subtil-komplexe Choreografie von Auf- und Abtritten, fruchtlosen Wortwechseln und beiläufigen Bewegungen – das einzig Spektakuläre daran ist der Ablauf selbst.

Der Film eröffnet in jedem Zimmer einen anderen Zeit-Raum, der unabhängig von den anderen funktioniert, wenn die Tür geschlossen ist, und spielt dann mit den Zirkulationen zwischen diesen Räumen. Im Korridor fließt alles ineinander: Die Kamera schwenkt  an offenen Portalen vorbei und gewährt Einblicke in die verschiedenen Abteilungen im Versuch, Gleichzeitigkeit zu filmen, das parallele Verstreichen verschiedener Zeitlichkeiten. Während Moartea domnului Lazarescu und Aurora noch einigermaßen linear gestaltet waren, fokussiert auf die Wege einer Figur, ist Sieranevada ein orchestriertes Durcheinander ohne Zentrum, obwohl Lary eine Art Ankerpunkt bildet. Die Familienbande sind zersplittert, nichts an der Zusammenkunft ist harmonisch. Aber es kommt auch nicht wirklich zu Streit oder zu Konflikten, die nicht dem Alltag anzugehören scheinen. Es hat einfach jeder seine eigenen Probleme, und ist mit diesen auch ein wenig alleine. Man kann darüber reden, und in Sieranevada wird viel geredet – über Kommunismus, 9/11, Privatangelegenheiten, in jedem Zimmer über etwas anderes – doch das erzeugt meistens nur neue Komplikationen. Eine Sehnsucht nach Harmonie ist spürbar, aber alleine schon deswegen vergeblich, weil sich die Verhältnisse konstant verschieben. Der Tonfall ist abhängig davon, wer gerade anwesend ist, zuhört oder hinsieht. Nur einmal, als eine Gruppe orthodoxer Geistlicher vorbeischaut und für ein Ritual den Raum mit polyphonen Gesängen füllt, scheint der Wohlklang der Musik etwas wie Eintracht zu stiften.

Sieranevada von Cristi Puiu

Faszinierend ist, dass alles, was da ist, auch da ist, Geschichte z.B. (familiär und national). Nichts wird ausbuchstabiert oder erklärend deklariert, und nichts fügt sich zu einem ganzheitlichen Bild, stattdessen bleibt diese Beinahe-Echtzeit-Erfahrung ein Puzzle voller fehlender Teile, eine Art offenes Konnotationskino. Eine der Figuren offenbart sich als Verschwörungstheoretiker als Überzeugung, der nach der Wahrheit hinter den Fassaden der Gegenwart sucht. Aber seine Ansichten werden angezweifelt, und die Wirklichkeit bleibt ein unlösbares Rätsel, wie das Wimmelbild des Films mit seinen überlappenden Vernetzungen und Verflechtungen, seinen widersprüchlichen Perspektiven. Man wähnt sich mittendrin im Gewusel, gerade weil man nie den kompletten Überblick hat. Wie durch die Augen eines Toten, sagt Puiu, erschließt sich diese Nicht-Gemeinschaft. Im Hintergrund läuft permanent Musik im Radio, die niemand bewusst zu hören scheint. Als ein später Gast kurzzeitig für Aufruhr sorgt, geht Puiu raus auf die Straße und widmet sich anderen Dingen, die aber auch keine Antworten sind. Letztlich löst sich die Spannung in einem Lachen auf, doch dieses Lachen ist eigentlich eine Kapitulation.