Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die Augen des Nebels

von Andrey Arnold

Es war der Nebel, der mich ins Kino brach­te. Fort­wäh­rend hing er drau­ßen vor der Tür, in den Stra­ßen und zwi­schen den Häu­sern, unbe­weg­lich und dicht. Ging man hin­aus, ver­schwand die Hand vor den Augen. Ich tapp­te und strau­chel­te, stieß mich an stump­fen Ecken und bröck­li­gen Kan­ten auf der Suche nach Halt. Manch­mal konn­te ich Men­schen durch den zäh­flüs­si­gen Schlei­er erken­nen. Doch immer, wenn ich mich mühe­voll zu den Stel­len durch­ge­tas­tet hat­te, wo ich sie ver­mu­te­te, fand ich dort nichts und nie­man­den vor, nur ein paar ahnungs­voll wabern­de Schwa­den. Der Nebel schien die gan­ze Welt ver­schluckt zu haben.

Ver­geb­lich ver­such­te ich, mich an eine Zeit ohne Nebel zu erinnern.

Nachts lag ich wach und horch­te unter der Bett­de­cke an mei­nem Funk­ge­rät, lau­ernd auf Bot­schaf­ten jen­seits des Nebels. Manch­mal dran­gen ver­ein­zel­te Signa­le durch. Rau­schend und ver­hei­ßungs­voll kün­de­ten sie von unge­ahn­ter Klar­heit, befeu­er­ten mei­ne Sehn­sucht nach gro­ßer Ent­ne­be­lung. Doch sie währ­ten nie lan­ge genug, ver­puff­ten nach kur­zem Fla­ckern wie Ker­zen im Wind.

Eines Tages erspäh­te ich im Zuge eines Spa­zier­gangs ein eigen­tüm­li­ches Leuch­ten. Es drang aus einer beson­ders ver­ne­bel­ten Gegend und zog mich hyp­no­tisch in sei­ne Rich­tung. Ich fand kei­nen Grund, dem Ruf nicht zu fol­gen. Nach einer Wei­le, die sich wie ein Augen­blick anfühl­te, erreich­te ich die Quel­le des Lichts. Es ent­sprang einem unschein­ba­ren Haus mit offe­nen Pfor­ten. Selbst­ver­ges­sen trat ich ein. Durchs Foy­er kam ich in einen Saal mit klei­ner Büh­ne, über der eine Lein­wand auf­ge­spannt war. Viel­leicht war es auch ein gewal­ti­ger Bild­schirm – ich weiß es nicht mehr genau. Jeden­falls lief ein Film.

Ich blick­te mich um. Außer mir war im Saal nie­mand zu sehen. Ich zog den Schluss, dass die Vor­füh­rung für mich bestimmt sein müs­se, und such­te mir einen Platz.

Was sich vor mir dar­bot, ver­setz­te mich in nach­hal­ti­ges Erstau­nen. Genau wie die Welt jen­seits des Kinos war auch die Welt im Film von Nebel durch­zo­gen. Doch die­ser Nebel war anders. Er schil­ler­te und beweg­te sich, schwang in anste­cken­den Rhyth­men zu betö­ren­den Klän­gen, klei­de­te alles, wor­um er sich wickel­te, in einen vibrie­ren­den, unwi­der­steh­li­chen Glanz. Sei­ne Win­dun­gen waren greif­bar, sie gaben den Din­gen Kon­tur. Plötz­lich konn­te ich das, was mir drau­ßen wie in einem trü­ben Spie­gel erschie­nen war, in aller Deut­lich­keit aus­ma­chen: Men­schen und Gegen­stän­de, Land­schaf­ten und Bau­ten. Selbst Gefüh­le ver­mein­te ich im Nebel des Licht­spiels erfas­sen zu können.

Letz­te­re waren nicht immer ein­deu­tig, wirk­ten mir aber ver­traut. Der Nebel erzähl­te von Sehn­sucht und Suche, vom Tau­mel der Ver­lo­re­nen im end­lo­sen Traum, von flüch­ti­ger Gebor­gen­heit unter dem Flü­gel­schlag der Hoff­nung. Ganz gleich, wovon er flüs­ter­te, sein duns­ti­ger Man­tel mach­te es schön. Mit sei­nen lau­ni­schen Wal­lun­gen brach­te der Nebel das Unwirk­li­che im Wirk­li­chen zum Blü­hen. Er umarm­te es und zog es her­vor, dra­pier­te es mit den pracht­volls­ten Far­ben und der ent­zü­ckends­ten Dun­kel­heit, hiev­te es in eine Sphä­re des Erha­be­nen, wo Angst und Unge­wiss­heit kei­nen Zutritt hat­ten. Je län­ger ich sei­nen Tanz beob­ach­te­te, umso weni­ger Sor­gen berei­te­te mir der Nebel, den ich hin­ter mir gelas­sen hat­te – und in den ich frü­her oder spä­ter wie­der ein­tre­ten musste.

Mei­ne Sin­ne ent­spann­ten sich. Im flir­ren­den Gesche­hen war alles mög­lich: Der Fluss der Zeit war nur ein loses Rinn­sal, das sich leicht unter­bre­chen und zer­tei­len, deh­nen oder straf­fen, bei Bedarf sogar umkeh­ren ließ. Obwohl die Film­do­mä­ne her­me­tisch ver­sie­gelt schien, war kei­ner ihrer Räu­me in sich geschlos­sen. Von einen Moment auf den ande­ren konn­ten sie inein­an­der­flie­ßen, gan­ze Uni­ver­sen harr­ten hin­ter ver­schlos­se­nen Por­ta­len. Ein toll­küh­ner Schritt, und man stürz­te kopf­über in unbe­kann­te, namen­lo­se Dimen­sio­nen. Wie­der­holt begeg­ne­ten einem Figu­ren, denen auf den ers­ten Blick kei­ner­lei Auf­fäl­lig­keit eigen war, die arg­los dem Gewöhn­li­chen frön­ten – nur um sich völ­lig unver­mit­telt, gleich­sam mit einem Schlag, in Engel oder Unge­heu­er zu ver­wan­deln. Eini­ge von ihnen ver­schwan­den eben­so schnell, wie sie auf­ge­taucht waren. Ande­re bli­chen all­mäh­lich aus, bis nichts von ihnen blieb als eine lei­se Anmu­tung von Trauer.

Oft wur­de mir bei all dem wun­der­li­chen Mum­men­schanz unheim­lich zumu­te – aber nie­mals ban­ge. Im Gegen­teil: Die selbst­ver­ständ­li­che Leben­dig­keit, mit der sich an die­sem ver­las­se­nen Ort die son­der­bars­ten Eska­pa­den offen­bar­ten, erschien mir nach und nach als ver­kapp­te Aner­ken­nung mei­ner eige­nen Irrun­gen und Wir­run­gen im Nebel vor der Tür.

Den­noch frag­te ich mich, woher die vor mir abge­spiel­ten Fil­me (denn ich saß lan­ge und sah vie­le davon) ihre Kraft zogen. Es muss­te etwas mit ihrer Tex­tur zu tun haben – einer Tex­tur, die vom Nebel selbst gewo­ben schien. Sie hat­te etwas Unent­schlos­se­nes und Irr­lich­tern­des: Ihre Punk­te form­ten kei­ne Lini­en, sie schwirr­ten unmerk­lich und unauf­hör­lich um gehei­me, gewun­de­ne Ach­sen, kamen nie zur Ruhe, leg­ten sich nie fest. Immer, wenn sich eine kla­re Abbil­dung abzeich­ne­te, fiel sie wie­der in sich zusam­men oder ver­schwamm in einer wat­ti­gen Über­blen­dung. Dar­in spie­gel­te das Licht­spiel die ver­ne­bel­te Außen­welt. Doch der fah­le Dampf, der drau­ßen sei­ne Run­den dreh­te, gab kei­ne Wahr­heit Preis. Hier war alles wahr, weil die Wahr­heit kei­ne Rol­le spielte.

Spä­ter (ich weiß nicht, wie viel Zeit ver­gan­gen war) tor­kel­te ich glück­lich und benom­men aus dem Saal. Ich ließ mich fal­len, und der Nebel trug mich heim.

Nach mei­nem ers­ten Besuch zog es mich immer wie­der ins Kino zurück, der Gang dort­hin wur­de zu einem Ritu­al. Obwohl ich mich kaum an den Weg erin­nern konn­te, war es stets ein Leich­tes, ihn aus­fin­dig zu machen: Ich ging ein­fach drauf­los und kam irgend­wann an. Ein ums ande­re Mal nahm ich Platz im lee­ren Audi­to­ri­um und ließ mich von den Bewe­gun­gen des Film­ne­bels ver­zau­bern, gefes­selt von sei­nen viel­fäl­ti­gen For­men und Schat­tie­run­gen. Mit der Zeit begeg­ne­ten mir auch Fil­me, in denen der Nebel nur unmerk­li­che Spu­ren hin­ter­las­sen hat­te – oder sol­che, die völ­lig los­ge­löst waren von sei­ner Magie.

Anfangs mach­te mich das stut­zig, doch aus Gewohn­heit blieb ich sit­zen. Stück für Stück akzep­tier­te ich die­se nebel­frei­en Spek­ta­kel, die sich ste­tig mehr­ten, lern­te sie zu lesen, ihnen Schön­heit abzu­rin­gen, sie zu spü­ren. Schon bald stör­ten sie mich nicht mehr, berei­te­ten mir sogar Freu­de. Gleich­zei­tig merk­te ich, dass ich nicht mehr allein war im Kino. Um mich her­um saßen ande­re, eben­so gebannt wie ich, mit jeder Vor­stel­lung stieg die Zuschau­er­zahl. Ich konn­te sogar ihre Gesich­ter erken­nen. Und begann, mich immer öfter nach ihnen umzudrehen.

Mitt­ler­wei­le ist der Nebel weg – genau, wie ich es mir einst gewünscht hat­te. Drau­ßen ist alles sicht­bar, um nicht zu sagen: strah­lend hell. Bei mei­nen Streif­zü­gen stol­pe­re ich nur noch sel­ten, sto­ße mich so gut wie nie an. Die Men­schen sehe ich jetzt schon von wei­tem, und wenn ich näher kom­me, blei­ben sie erwar­tungs­voll ste­hen und win­ken mir freund­lich zu. Auch aus den Fil­men ist der Nebel gewi­chen. Es muss schlei­chend pas­siert sein, lan­ge Zeit fiel es mir gar nicht auf. Doch die Tex­tur, die mich so fas­zi­nier­te, hat sich auf­ge­löst. An ihrer Stel­le prangt nun ein aus­ge­klü­gel­tes Mus­ter. Es ist von erle­se­ner Raf­fi­nes­se, aber unmiss­ver­ständ­lich und klar. In sei­nen Orna­men­ten schlum­mert kein Geheimnis.

Auf dem Weg ins Kino ver­lau­fe ich mich immer öfter. Manch­mal fra­ge ich mich, ob es über­haupt noch da ist. Viel mehr beschäf­tigt mich aller­dings, wohin der Nebel sich ver­zo­gen hat. Denn dass er im Äther ver­si­ckert ist, wie vie­le behaup­ten, kann ich mir beim bes­ten Wil­len nicht vor­stel­len: Dafür waren sei­ne Schwa­den viel zu schwer. Ich ver­mu­te, dass er es irgend­wie geschafft hat, sich in den Men­schen selbst ein­zu­nis­ten – viel­leicht sogar, als sie im Kino geses­sen sind, ver­lo­ren in sei­nen beweg­li­chen Wun­dern. Da ist der Nebel lang­sam zusam­men­ge­schnurrt und hat sich in die vor Stau­nen offe­nen Mün­der hin­ein­ge­stoh­len, um sich von sei­nen lan­gen Wan­de­run­gen zu erho­len. Nun gärt er unbe­merkt in unse­rem Inne­ren. Nur nachts, wenn wir Schla­fen, wagt er sich vor­sich­tig hin­aus und füllt unse­re Zim­mer mit faden­schei­ni­gem Dunst. Und wenn er lan­ge genug gewar­tet hat, wenn er spürt, dass er wie­der bei Kräf­ten ist, wird er sich jäh­lings auf­bäu­men und uns alle zum Plat­zen brin­gen – und dann wer­den die Welt und das Kino wie­der dem Nebel gehören.

Das ist nur eine Theo­rie, nichts deu­tet auf ihre Rich­tig­keit hin. Ich wür­de sie ger­ne ver­wer­fen, doch es fällt mir schwer. Denn wenn ich am Abend durch spär­lich erleuch­te­te Gas­sen spa­zie­re, oder bei einem ver­wir­ren­den Film unwill­kür­lich in müden Gedan­ken ver­sin­ke, dann sehe ich manch­mal im Traum oder irgend­wo tief in ver­wahr­los­ten Win­keln die Augen des Nebels.