Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die Kinomomente des Jahres 2015

Es war ein Jahr des Flie­ßens, in dem man sich an das Ver­ges­sen erin­ner­te. Daher ist mein klei­ner Rück­blick die­ses Jahr nicht nach den Fil­men geord­net, son­dern nach ver­schie­de­nen Phä­no­me­nen, Emo­tio­nen oder Sym­pto­men des Film­jah­res, die in sich die Geschich­te einer wie­der­keh­ren­den Lie­be und Angst erzählen.

Die Berüh­rung

No No Sleep

2015 war ein Jahr für das Poten­zi­al einer Lie­be im Kino. Es leb­te von den Mög­lich­kei­ten, sich doch ein­mal zu berüh­ren, zu küs­sen, wenn nicht in der Rea­li­tät, so doch in einem Traum, in einem abwe­sen­den Moment oder in einem ande­ren Kör­per. Eine der gro­ßen Sze­nen der Berüh­rung fin­det sich in No No Sleep von Tsai Ming-liang. Lee Kang-sheng liegt in einer hei­ßen Wan­ne mit einem ande­ren Mann. Es ist ein Moment, bei dem man nicht weiß, ob es eine Berüh­rung gibt oder nicht. Eine Hand greift unter Was­ser nach einer ande­ren Hand. Ist es eine Illu­si­on, eine Sehn­sucht, pas­siert es wirk­lich? In Ceme­tery of Sple­ndour von Apichat­pong Weer­a­set­ha­kul gibt es die Fas­zi­na­ti­on der Berüh­rung von Schla­fen­den. Wie alles im Film bewegt sich die­se Lust in einer Dazwi­schen­heit von Ekel und Ver­füh­rung sowie Spiel und Tod. Mit einer Berüh­rung über­tritt man die Schwel­le, sie ist wie eine Erin­ne­rung an die Gegen­wart. Es sind die leich­ten Berüh­run­gen wie in Carol von Todd Hay­nes oder L‘ombré des femmes von Phil­ip­pe Gar­rel, kaum sicht­ba­re Berüh­run­gen wie in Samuray‑S von Rául Per­ro­ne oder die zer­fet­zen­den Berüh­run­gen wie in The Exqui­si­te Cor­pus von Peter Tscher­kass­ky (der nicht nur die Kör­per berührt, son­dern gleich den Film­kör­per), die letzt­lich ein Fie­ber aus­lö­sen. Die Berüh­run­gen haben uns weni­ger gerührt als zerstört.

Der Kuss

Carol

Und dann stürzt man sich hin­ein. Arnaud Des­plechin hat in sei­nem Trois sou­ve­nirs de ma jeu­nesse etwas voll­bracht, was mutig ist: Der Film­kuss. Ganz klas­sisch, magisch. Das Ver­schmel­zen zwei­er Men­schen, das Sym­bol, das Kli­schee, das Kino, ja. Es war Godard – aus­ge­rech­net er – der gefor­dert hat, dass das Kino wie­der zurück zu einer sol­chen Leich­tig­keit muss. Des­plechin, der manch­mal zu Unrecht mit Roh­mer ver­gli­chen wur­de, hat gezeigt, dass er genau das kann, denn wo bei Roh­mer ein Kuss nicht ein­fach nur ein Kuss sein will, da kann er bei Des­plechin ein Kuss sein. Es ist die Lust dar­an, die Hin­ga­be. Eine ähn­lich muti­ge und kräf­ti­ge Ein­fach­heit gibt es am Ende von Carol. Lan­ge habe ich kein der­art kom­pro­miss­lo­ses und kei­nes­falls auf­ge­setz­tes Hap­py End gese­hen. Einen ganz ande­ren Kuss gibt es im zwei­ten Teil von Hong Sang-soos Right Now, Wrong Then. Hier geht es um die Unbe­hol­fen­heit, die Schüch­tern­heit. Es ist ein Kuss auf die Wan­ge mit dem Ver­spre­chen, dass es das nächs­te Mal die Lip­pen wer­den. In die­sem Ver­spre­chen taucht wie­der das Poten­zi­al einer Lie­be auf, einer ande­ren Zeit. Es muss ein neu­es Tref­fen geben, einen neu­en Ver­such, einen zwei­ten Kuss. Aber gibt es den?

Die Krank­heit

Les dos rouge2

Schließ­lich ver­lässt die Prot­ago­nis­ten des Kinos 2015 die Kraft. Sie bre­chen zusam­men im Rauch einer gehei­men Schwan­ger­schaft wie in The Ass­as­sin von Hou Hsiao-hsi­en oder sie ent­de­cken einen mys­te­riö­sen roten Punkt auf ihrem Rücken wie Bert­rand Bonel­lo in Les dos rouge von Antoine Bar­raud. Die Kör­per ver­sa­gen und mit ihnen ver­schwimmt die See­le, das Selbst­ver­trau­en. Das bestän­di­ge Hus­ten im töd­li­chen Asche­re­gen von La tier­ra y la som­bra von César Augus­to Ace­ve­do ist Inbe­griff die­ses Dahin­sie­chens, das glei­cher­ma­ßen jeg­li­ches Poten­zi­al der Lie­be erstickt, als auch genau die­se wie­der von Neu­em ermög­licht, wenn das was man liebt nicht die Kraft, son­dern die Schwä­che des Part­ners, des Vaters oder des Frem­den ist. Außer Chan­tal Aker­man in No Home Movie hat kaum ein Fil­me­ma­cher Krank­hei­ten offen the­ma­ti­siert. Viel­mehr waren es uner­klär­li­che, fast magi­sche Ele­men­te, gar nicht so ver­schie­den von einer Berüh­rung oder einem Kuss. Dar­in liegt auch ein letz­tes Auf­bäu­men des Spi­ri­tu­el­len im west­li­chen Kino, das die Krank­heit als (sur­rea­lis­ti­sche) Erschei­nung insze­niert, als ein Geheim­nis und Tabu, das ganz vor­sich­tig umflo­gen wird mit Gefüh­len einer wun­der­vol­len Deka­denz wie bei Bar­raud oder der Schön­heit, die den Tod bringt wie bei Ace­ve­do. Im Kino, ver­mag die Direkt­heit genau­so zu tref­fen wie ihre inne­re Zen­sur, die Angst.

Die Angst

No Home Movie

Im Dun­kel einer plötz­li­chen Nacht irrt die Kame­ra von Aker­man in No Home Movie durch das Haus ihrer Mut­ter. Sie ret­tet sich hin­aus auf den Bal­kon, wild atmend und dann ver­schwin­det sie im Bad, wo Was­ser die Bade­wan­ne flu­tet. Es ist dies eine abso­lut ein­zig­ar­ti­ge Sze­ne, denn Aker­man filmt das Auf­wa­chen aus einem Alb­traum hier wie einen Alb­traum. Man kennt sol­che Tricks von Fil­me­ma­chern, wenn man glaubt, dass die unheim­li­che Traum­se­quenz vor­bei ist und sie dann doch wei­ter­geht. Aber dar­um geht es bei Aker­man nicht, weil es kei­ne Illu­si­on eines Frie­dens gibt, es gibt kei­nen Unter­schied zwi­schen dem Auf­wa­chen und Schla­fen, zwi­schen den obsku­ren Schat­ten Innen und Außen, es bleibt ein Hor­ror, eine Angst.

Das Unver­mö­gen

One floor below

Ein ers­ter Ver­such, aus die­ser Angst zu ent­kom­men, ertränkt sich im eige­nen Unver­mö­gen. Wie­der hat vor allem das rumä­ni­sche Kino eini­ge unver­gess­li­che Momen­te des Unver­mö­gens gefun­den. Da wäre ein Wün­schel­rou­ten­ex­per­te in Cor­ne­liu Por­um­boi­us Com­o­ara und ein ver­zwei­fel­ter, zögern­der, lügen­der, ängst­li­cher Prot­ago­nist in Radu Mun­te­ans Un etaj mai jos. Dort filmt Mun­te­an sei­nen Prot­ago­nis­ten ähn­lich wie Renoir Michel Simon film­te, wie ein Raub­tier. Teo­dor Cor­ban lie­fert eine Dar­stel­lung ab, die neben jener von Jung Jae-young in Right Now, Wrong Then sicher­lich zu den bes­ten schau­spie­le­ri­schen Leis­tun­gen des Jah­res gehört. Bei­de fabri­zie­ren ein Unver­mö­gen, indem sie alles dafür tun, die­ses zu ver­ste­cken, sodass es für den Zuse­her sicht- und fühl­bar wird. Die­ses Schau­spiel exis­tiert in der Wahr­heit einer Lüge oder bes­ser: im Spiel mit der Iden­ti­tät, die sich dadurch offen­bart, dass man sich selbst nicht wahr­ha­ben will, ver­ste­cken will und sogar erneu­ern darf wie im Fall von Jung Jae-young, der zwei­mal das­sel­be anders leben darf und doch vor uns der glei­che bleibt. Als drit­te schau­spie­le­ri­sche Ver­un­si­che­rung sei hier noch Jen­ji­ra Pong­pas in Ceme­tery of Sple­ndour genannt, deren Unver­mö­gen sich in den weit auf­ge­ris­se­nen Augen einer iden­ti­täts­lo­sen Sehn­sucht äußert. Was in die­sem Unver­mö­gen, das aus Angst ent­steht, noch bleibt, ist das Bli­cken, das Beob­ach­ten. Johan Lurf hat zwei span­nen­de Bli­cke gezeigt, die poli­ti­sche Struk­tu­ren hin­ter­fra­gen. In Embar­go und Capi­tal Cuba ist ein Blick auch immer zugleich das Ange­blick-Wer­den. Die Macht­lo­sig­keit und Pene­tra­ti­on die­ser Bli­cke, es ist das Kino selbst, das sich dahin­ter ver­birgt, ver­un­si­chert, immer nur ein Potenzial.

Die Flucht

Kaili-Blues

Und was einem bleibt, ist die Flucht. Es ist nicht nur so, dass der Main­stream 2015 eine enor­me Lust an Ver­fol­gungs­jag­den ent­fes­selt hat, die in Mad Max: Fury Road ihren nack­ten Gip­fel erreich­te, son­dern auch der Fil­me­ma­cher selbst floh in Per­son von Miguel Gomes aus sei­nem ers­ten Teil von As Mil e uma Noi­tes. Und doch füh­ren die­se eska­pis­ti­schen Aus­brü­che in lee­re Ver­spre­chen. Der Weg führt zurück. Von der Illu­si­on in die Rea­li­tät und von der Rea­li­tät in die Illu­si­on. Ein flir­ren­des Wech­sel­spiel zwi­schen dem Aktu­el­len und dem Ver­gan­ge­nen hat sich 2015 in den Kinos ent­fal­tet. Es sind die unter­schied­li­chen zeit­li­chen Schich­ten in Ceme­tery of Sple­ndour, die nost­al­gi­sche Ver­gan­gen­heit der Zukunft in Star Wars: The Force Awa­kens von J.J. Abrams, die Land­schaf­ten Chi­nas, die heu­te genau so aus­se­hen, wie vor über 1000 Jah­ren in The Ass­as­sin,das bestän­di­ge Echo in Aus einem nahen Land von Man­fred Neu­wirth, japa­ni­sche Stumm­fil­me ent­stan­den mit digi­ta­len Tech­no­lo­gien im Haus eines Argen­ti­ni­ers in Samuray‑S oder Jean Renoir, der als Syn­the­se einer dia­lek­ti­schen Gefan­gen­schaft aus einem Aqua­ri­um aus­bricht in Jean-Marie Straubs L‘aquarium et la nati­on. Die Flucht geht nach vor­ne zurück, zurück in die Zukunft und vor­ne ist es mehr hin­ten als jetzt. Das Ende von Bi Gans hyp­no­ti­schen Kai­lil Blues lässt die Zeit dann tat­säch­lich rück­wärts lau­fen. Die Flucht zurück, der Neu­an­fang, die Nost­al­gie und die Erkennt­nis, dass man nir­gends wirk­lich hin­flie­hen kann. Es ist dies das Kino einer Iden­ti­täts­kri­se. Ihr per­fek­tes Bild fin­det die­se Kri­se im Schluss­bild von Jia Zhang-kes ansons­ten über wei­te Stre­cken ent­täu­schen­den Moun­ta­ins May Depart: Im Schnee tanzt die groß­ar­ti­ge Zhao Tao zur uner­füll­ten und schreck­li­chen „Go West“ Hoff­nung einer Ver­gan­gen­heit. Eine Welt, die sich geöff­net hat, um wie­der davon zu träu­men, träu­men zu dür­fen, dass man sich öff­net. Aber man ist schon offen und die­se Zukunft war auch nur Geschich­te. Vor was flieht man?

Die Ver­schwun­de­nen

IEC Long

Es ist klar, dass man in die­sem Nebel aus Flucht, Angst, Berüh­rung und Sehn­sucht ver­schwin­den wird, wie die Berg­gip­fel hin­ter den Wol­ken in The Ass­as­sin. Viel­leicht ver­schwin­det man in einen Wald wie in The Lobs­ter von Gior­gos Lan­t­hi­mos oder man ver­steckt sich ein­fach mit­ten im Bild wie einer die­ser Flüch­ten­den im Mise-en-Scè­ne Spek­ta­kel Aferim! von Radu Jude. Das Film­ma­te­ri­al löst sich auf, die Asche bedeckt die Reprä­sen­ta­ti­on, ein Hund ver­schwin­det in der Magie von Say­ombhu Muk­deeprom­ein, ein Oze­an über­flu­tet all unse­re Exis­ten­zen wie in Storm Child­ren, Book One von Lav Diaz. Es bleibt Treib­gut, klei­ne Res­te wie in Things von Ben Rivers oder IEC Long von João Pedro Rodri­gues und João Rui Guer­ra da Mata, mehr scheint nicht mehr mög­lich, wenn man von der Gegen­wart erzäh­len will. Ent­we­der die Frag­men­te die­ser Iden­tit­äst­lo­sig­keit oder das Bedau­ern über ihren Ver­lust wie auf dem Gesicht von Sta­nis­las Mer­har in L‘ombré des femmes, der zeigt, wie man sich selbst belügt, um zu lie­ben. Hilf­los irren auch die star­ken Figu­ren in Hap­py Hour von Hama­guchi Ryu­suke durch die Welt nach­dem eine ihrer Freun­din­nen kör­per­lich und auch bezüg­lich ihrer Iden­ti­tät ver­schwun­den ist. Selbst die Hel­din­nen Hol­ly­woods ver­schwin­den wie Emi­ly Blunt in Sica­rio von Den­nis Ville­neuve. Es ist das Ver­schwin­den in einer Macht­lo­sig­keit und wir ver­dan­ken es den gro­ßen Fil­me­ma­chern unse­rer Zeit wie Aker­man, Gar­rel, Rodrigues&Guerra da Mata, Diaz, de Oli­vei­ra oder Weer­a­set­ha­kul, dass sich in die­sem Ver­schwin­den eine Sinn­lich­keit grei­fen lässt. Der Sinn und die Sinn­lich­keit des Ver­schwin­dens. Viel bru­ta­ler ver­schwin­det die Bedeu­tung des Bil­des und des Kinos in 88:88 von Isiah Medi­na. Hier ver­schwin­det alles in der Flut der Bil­der, die Mon­ta­ge regiert, aber sie steht nicht mehr im Dienst der Bil­der, die sie ver­bin­det, son­dern sie wird zum ein­zi­gen Zweck eines Zap­pings und Cli­ckings, das unse­re Wahr­neh­mung in Zei­ten die­ser Iden­ti­täts­kri­se bestimmt. Eine Schwe­re­lo­sig­keit setzt ein, sie fühlt sich nur sehr schwer an.

Die Wie­der­kehr

Cemetery of Splendour2

Der ein­zi­ge Film, der aus die­ser Rei­se der Angst zurück­kehrt, der Film, der gleich Phö­nix tat­säch­lich wie­der­kehrt, ist Visi­ta ou Memóri­as e Con­fis­sões von Man­oel de Oli­vei­ra. Ver­schlos­sen, um nach dem Tod sicht­bar zu wer­den, ist die­ser Film eine wirk­li­che Offen­ba­rung, in der sich der Stil eines Man­nes als sei­ne See­le ent­puppt. Er zeigt, dass Berüh­rung im Kino immer im Wech­sel­spiel aus Wahr­neh­mung und Selbst-Wahr­neh­mung ent­steht. Die Distanz, sei sie zeit­lich, räum­lich oder emo­tio­nal und die Umar­mung, Zärt­lich­keit, das Trei­ben in und jen­seits einer Zeit und Zeit­lich­keit. Dann schlie­ßen wir die Augen und fal­len in eine Roll­trep­pen-Hyp­no­se der Schlaf­krank­heit und vor uns kann nicht nur die Ver­gan­gen­heit ver­ge­gen­wär­tigt wer­den, son­dern auch die Gegen­wart in ihrer Ver­gäng­lich­keit greif­bar wer­den. Das Kino 2015 bemüht sich nicht mehr so stark dar­um, die Zeit fest­zu­hal­ten, als wie­der, wie in frü­hen Tagen des Kinos, die Flüch­tig­keit von Erfah­run­gen spür­bar zu machen und sie dadurch in unser Bewusst­sein zu rücken. Die Erin­ne­rung in den Fil­men des Jah­res ist kei­ne fest­ste­hen­de Grö­ße, sie ist selbst wie die Ober­flä­che eines unru­hi­gen Was­sers, in dem wir manch­mal etwas erken­nen kön­nen und manch­mal ver­schwin­den. In Visi­ta ou Memóri­as e Con­fis­sões ver­schwin­den die bei­den Besu­cher in der Dun­kel­heit. Wir wis­sen nicht, ob sie von Ges­tern sind und das Heu­te besucht haben oder ob sie von Heu­te sind und das Ges­tern besucht haben. Das­sel­be gilt für die Fil­me des Jah­res 2015.