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„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Die Kunst des Wirkens: Adieu Philippine von Jacques Rozier

«Wir genossen das Fehlen jeglichen Maßes, die Kühnheit, den Wagemut, die Freiheit, die Leidenschaft, die Ausdruckskraft,…» (Miguel Marías über das Kino der 1960er Jahre)

Jacques Roziers Adieu Philippine gilt als Vorzeigewerk der Nouvelle Vague und eines bestimmten Geistes der 1960er Jahre. Da der Film im Vergleich zu den frühen Filmen eines Jean-Luc Godards (der Rozier einmal zusammen mit Varda und Demy als die Zukunft des französischen Kinos pries) oder Jacques Rivettes formal eher wenig aufregend daherkommt, liegt das vor allem an seinem Verhältnis zur filmischen Erzählung. Außer zwei oder drei amüsanten Passagen mit Montage-Spielereien ist es ein geradezu braver Film, auch wenn er sich nie so anfühlt. In Schwarz-Weiß-Bildern, die alle so laut und ästhetisch fasziniert nach Kino schreien, dass es eine Freude ist, folgt die Kamera großteils Michel, einem jungen Kameraassistenten beim Fernsehen, der gerne selbst Kunst machen würde, aber bald ins Militär nach Algerien eingezogen wird. Eigentlich aber hat er vor allem Flausen und Frauen im Kopf. Dazu zählen beispielsweise Juliette und Liliane, die andauernd kichern und auch sonst viel Spaß haben und die auf Michel stehen oder auch nicht. Außerdem gibt es da Pachala, einen zwielichtigen und etwas albernen Filmregisseur/Produzenten, der junge Leute ausnimmt, um mehr als fragwürdige Visionen in Werbungen, Fotoromanen und anderen Reverien umzusetzen.

Gleich zu Beginn setzt der Film mit einem nüchternen Textbild ein Gewicht: Es ist die Zeit des Algerienkriegs. Das darauffolgende, sich geradezu planlos von Situation zu Situation spielende Geschehen steht im Schatten dieses Titels, man könnte sagen, was Rozier zeigt, ist ein Bild der Jugend vor ihrem Verschwinden. Er grast die Klischees ab: Blödeleien, Verlieben, Herzschmerz, protziges Gehabe, Schönheit und Verlorenheit. Je befreiter die Jugend dabei erscheint, desto heftiger wirkt ihre drohende Abwesenheit, die er gar nicht zeigen muss. Erst in der letzten Sequenz vollzieht sich ein Abschied, der gleichermaßen aus dem Chaos in eine Stille führt. Aber im Gegensatz zum klassischeren Drama um den Verlust des Leichtsinns, wie er etwa in Filmen wie The Deer Hunter vorgeführt wird, interessiert sich Rozier nur insofern für den großen Handlungsbogen, als dass er ihn nutzen kann, um in wie zufällig auf der Leinwand erscheinende Momente einzutauchen.

Dabei ist ihm egal, ob der Moment einfach die Jugend abbildet oder um Themen wie kommerzielle Ausbeutung, Kapitalismus oder traditionelle Familienwerte kreist. Er wählt immer den Moment aus den Fragmenten einer Nicht-Handlung, der ihm die größte Freiheit erlaubt: Man fährt umher und weiß nicht wohin, man möchte essen, aber die Wespen lassen einen nicht, man verabredet sich, aber niemand kommt, man tanzt. Momente, in denen das Leben improvisiert wird, Momente, die ein bisschen blöd sind aber auch schön. Dazu findet er irrational handelnde Figuren, sodass sich die Szenen weniger über ihr logisches oder psychologisch nachvollziehbares Auseinanderhervorgehen verstehen lassen, sondern gerade durch ihren Widerspruch, ihre Plötzlichkeit. Dass er mit Laien arbeitet, verstärkt diesen Eindruck einer unfreiwilligen Gegenwart. Hinter allem steht fort und fort ein banaler Satz wie: So ist sie eben, die Jugend. Dadurch entsteht eine Energie, die ihresgleichen sucht, weil Rozier einen Rahmen schafft, in dem er alles falsch machen darf, einen Rahmen, der die Steifheit des Kinos aus den Angeln hebt. Ein Kino, in dem jede Geste den Fortlauf der Handlung nicht nur unterbricht sondern nachhaltig verändert.

Dieses Prinzip hat der Filmemacher fast in seiner gesamten Laufbahn angewandt, schon in seinem ersten Kurzfilm Rentrée des classes betrachtet er eine solche, von den herkömmlichen Regeln ausgenommene Zeit (Ekkehard Knörer schrieb von einem «Innehalten für Sekunden»), nämlich das Ausbüchsen eines Jungen aus dem Schulalltag, der eigentlich eine Rückkehr ins Klassenzimmer von ihm erwartet. Es entsteht ein Raum jenseits der Erwartung. In Adieu Philippine bewegt sich dieser zwischen Slapstick bei einem Werbedreh mit «Eskimos, die einen Kühlschrank brauchen» in Paris bis zu langen romantischen Sonnenuntergangssequenzen auf Korsika. Der Film driftet weil es seine Protagonisten auch tun. Ist das Milieu erst etabliert, filmt es sich ganz ungeniert, könnte man etwas idiotisch sagen.

Tatsächlich aber ist es gerade dieser Resttribut an das klassische Kino, diese Notwendigkeit, sich die Freiheit durch einen Kniff, eine dramaturgische Erklärung oder wie Roland Barthes das einmal in Bezug zur Literatur genannt hat, «die Kunst des Wirkens», zu verdienen, die den Film so nachhallend macht. Heute kommentieren folglich auch alle Kritiker die Rahmung des Films, sie ist fast so wichtig, wie alles andere, obwohl sie nur einige Sekunden als Text auf der Leinwand erscheint und zwischendurch befreit von jeglichem Gewicht erwähnt wird. Die letzte Sequenz zeigt einen Abschied, ja, aber sie zeigt keinen konkreten Abschied, sie zeigt alle Abschiede und den spezifischen Abschied Micheles zugleich. Algerien verweist hier nicht auf einen Befreiungskampf oder den Krieg einer Kolonialmacht, Algerien ist schlicht das Ende der Jugend. Rozier hat einen Film gedreht, der sich nur als Teil der Wirklichkeit verstehen lässt, der diese Wirklichkeit aber nicht politisch analysiert, sondern in ihr aus einer bestimmten, sich nicht hinterfragenden Perspektive lebt. Deshalb fühlt sich der Film so wie das Leben und nicht wie die Repräsentation eines Diskurses.

Man könnte auch schreiben, dass der Bildrand bei Rozier immer offen ist. Er ist offen, aber es gibt ihn. Alle können jederzeit aus dem Bild fallen und ins Bild kommen, das ist das Gefühl der Freiheit und der Gegenwärtigkeit. Dass es aber ein Bild gibt, dass jemand in diesem Moment eine Rahmung vornimmt, das ist die Ankündigung eines kommenden Endes und zugleich der ganze Grund, auf dem die Willkür der Bilder Anker fasst. Selbstredend hat dieses Vorgehen auch mit den geringen finanziellen Mitteln zu tun, die ja bekanntlich auch mit einer gewissen Freiheit einhergehen, wenn man sie zu nutzen weiß.

Das Kino der Zukunft ist aus diesem Mäandern nicht geworden, höchstens noch Hong Sang-soo könnte man heute in die Nähe eines solchen dramaturgischen, bisweilen unbeherrschten Impressionismus bringen, auch wenn der südkoreanische Regisseur in Verbindung mit einer moderneren Sensibilität über die Rolle der Männer und des Alkohols bisweilen in surrealistischere oder absurdere Gefilde abtaucht. Was Rozier und Hong Sang-soo eint, ist sicherlich die Selbstgenügsamkeit ihrer Bilder, die nichts dafür tun, nicht doch einfach an denen, die unaufmerksam schauen, vorbeizulaufen, ganz gewichtslos, als wären sie gar nicht da, obwohl sie sehr viel mit sich tragen. Es bleibt der Eindruck, dass auch heute nichts radikaler ist im Kino, als die hart erarbeitete Freiheit, sich plötzlich für das aufblitzende Sonnenlicht zu begeistern, das zwischen einer Hüfte und einem Segelmast auf die Kameralinse fällt und es solange zu filmen, wie es braucht, bis die Faszination verglüht und eine neue Bewegung, ein neues Begehren unsere Aufmerksamkeit verlangt – und dabei zu spüren, dass keine Faszination ewig währen kann, dass sie nur flüchtig ist und enden muss.