Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Drei Ansichten von Ode(s)sa

Text: Luk Polleit

Als ich Odessa das erste Mal sah, lag die Stadt im Nebel, an ihrer Küste ein Mann. Vakulinchuk, ein Matrose, der seine Kumpanen auf der Potemkin zum Aufstand anzettelte, lag begraben am Hafen – „getötet für eine Schüssel Borschtsch“. Ich sah den Pier, überflutet mit trauernden Massen und die Matrosen in ihren nach dem sowjetischen Ideal geformten Körpern. Gestählte Muskeln und geschärfter Geist, um gegen die zaristische Herrschaft aufzubegehren, deren unmittelbarstes Symbol das vergammelte Fleisch an Bord war, das der Kommandant und der Schiffsarzt, als Vertreter der höheren Stände trotz Inspektion, der mit Maden übersäten Rinder, weiter ihren Untergebenen auftischten.

Als ich das zweite Mal Odesa erreichte, jetzt nur noch mit einem „s“ – eine sprachpolitische Entscheidung, die sich aus der Romanisierung der ukrainischen im Gegensatz zur russischen Schreibweise ergibt, war der erste Mann, der mich ansprach, auch ein Matrose. Aber ein ganz anderer als Vakulinchuk. Dieser Matrose war eher klein, hatte Frau, Kind, einen Hund und sprach exzellentes Englisch. Ich musste etwas verloren gewirkt haben, gestrandet am Ende der Stadt, wo die hohen Betonbauten dominieren und nichts die Weite des Meeres oder auch nur einen Hafen erahnen lässt, mit meinem riesigen Koffer und ein paar gestammelten ukrainischen Wörtern. Der Matrose bat seine Hilfe an, bereit mich auf den richtigen Kurs zu bringen. Wir sprachen ein wenig darüber, was mich nach Odesa getrieben hatte, das Filmfestival, und über seine Rückkehr von der Reise mit dem Getreidefrachter. Er stellte mir Frau, Hund, Kind vor, bis mich ein brummeliger Taxifahrer, der durch seinen prächtigen Schnauzer zumindest dem Gesicht nach schon eher der Potemkin Besatzung glich, einsammelte. Eigentlich war das nicht ganz richtig gewesen. Die Wahl auf Odesa als Ziel meiner Reise fiel aufgrund Sergei Eisensteins Film Bronenosec Potemkin. Zur Zeit des Entschlusses wusste ich nichts von einem Festival. Meine Gedanken waren ganz bei der Treppe gewesen. Als ich den Film vor einigen Jahren das erste Mal sah, hatte sich mir ein neuer Blick aufs Kino und das Medium Film eröffnet: Wo zuvor eine Wand gewesen war, hatten die sowjetischen Montagetheoretiker Ziegel sichtbar gemacht. Sie lösten den Mörtel auf und nahmen fröhlich wie in einem Jengaspiel, das nicht zu verlieren war, die Steine nach Belieben heraus, um sie an gänzlich veränderter Stelle wieder einzusetzen. Nicht bloß aus Begeisterung an der neugewonnenen, nahezu gottgleichen Schaffenskraft, die es erlaubte, unsere alltäglich erfahrene raumzeitliche Kontinuität unter Erhalt eines bis dahin unerreichten Realitätseindrucks frei zu verändern, sondern um jeden Teil ebendieser Realität einem maximalen Eindruck aufs Kinopublikum zu unterwerfen.

So formte sich in mir der Wunsch einmal auf dieser Treppe, die durchaus eine Attraktion, aber doch für die wenigsten Besucher ein Pilgerort der Filmgeschichte darstellte, zu stehen und einen Moment aus privatöffentlicher Verbundenheit zu erleben – einmal das Material zu berühren, das diese Regisseure auf der Leinwand zu immer neuen Mauerwerken zusammensetzten.

Ich fand mich auf der Rückbank des Lada wieder und rauschte auf eine Stadt zu, die für mich nicht viel mehr war als die Idee einer Treppe. Immer wieder ging mir, auf meiner langen Fahrt zwischen den ukrainischen Sonnenblumenfeldern, die Montage der berühmten Treppenszene durch den Kopf: Die Bilder der Massen in panischer Bewegung, getrieben von Gewehrläufen; Stufen übersäht mit Körpern; Gräuel der zaristischen Skrupellosigkeit, auf der Leinwand getrieben bis zum Moment größten Pathos – dem mutterlosen Kinderwagen, der in einer endlosen Dehnung der Zeit in den Abgrund stürzt.

Auf der Taxifahrt durch Odesa sah ich zwei Gruppen junger Männer in Militäruniformen durch die Stadt marschieren. Allen etwas Keckes, übermütiges ins Gesicht geschrieben, eine jugendliche Kraft, die ich ganz gut wiedererkannte. Doch bei ihrem Anblick, dachte ich nicht an Potemkin. Ich dachte an den Krieg, den eingefrorenen Krieg im Osten, der aus Kyjiw, der ersten Station meiner Reise, immer in weiter Ferne gewesen war.

Nachdem ich im Hotel angekommen war, kam mir wieder die Absicht meiner Reise in den Sinn und ich eilte darauf die Fußgängerzone entlang, ließ die Cafés und das Opernhaus hinter mir, bis ich aus der Ferne die ersten Laternenspitzen und schließlich die oberste Stufe erspähte. Über die monochromen Bilder begannen sich langsam Töne eines warmen Ockers und blassen Grüns zu legen. Ich blickte über die Stufen hinweg und wurde von einer mittäglichen Leere überrascht. Wo waren die Massen? Die Realität entpuppte sich als Trugbild. Ich bildete mir ein, die Szene musste gänzlich falsch montiert sein. 1. Die Sonne steht brütend in einem graublauen Himmel. 2. Aufsicht auf die Treppe. Weit und breit kein Mensch in Sicht. Nur der Wind fegt ab und zu sanft über die Stufen. 3. Eine staubige Stufe. Der Wind setzt ein paar Körner Sand und Kiesel in Bewegung. 4. Halbtotale: Seitlich – große Stufen mit Laternen. Vogelzwitschern. 5. Halbnah: Ein bebrillter Kopf der vorsichtig über die oberste Stufe blickt. 6. Die ganze Treppe, von oben: Eine Katze sonnt sich auf der untersten Stufe.

Als ich kürzlich Bronenosec Potemkin erneut sah, schienen mir die Bilder meiner Reise ähnlich weit entrückt, wie damals die farblosen. In die Montage hatten sich neue Einstellungen geschlichen, zunächst unbemerkt, versteckt hinter ihrer Farbigkeit. Doch diese neuen Bilder sind gerahmt durch die Logos der Nachrichtensender und den Laufbändern, durch die unaufhaltsam neue Informationen ins Bild drängen. Informationen, die die letzten Bilder immer schon unzulänglich erscheinen lassen und nach neuen drängen. Mit der gleichen Dringlichkeit begann ich mich durch die Bilderflut auf der Suche nach der Treppe zu wühlen. Zwischen zerbombten Hausfassaden und Rauchsäulen versuchte ich noch einmal einen Blick zu erhaschen in der Hoffnung auf die Chance eines erneuten Abgleichs meines mittlerweile imaginären Bildes der Treppe mit der Wirklichkeit. Doch nirgendwo kam sie in Sicht, vielleicht liegt sie gut versteckt unter der Verkleidung weißer Sandsäcke zum Schutz gegen die Bombensplitter. Weiter schritt ich durch die Bilder, diesmal zurück, im Versuch wenigstens die Eindrücke der Reise noch einmal in aller Klarheit aufzurufen, doch da will auch das mir nicht mehr gelingen und auf einmal erschienen wieder Eisensteins schwarz-weiße Filmbilder, die wenigstens durch die Sicherheit des fotografischen Prozesses von der Treppe zeugen.