Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

In My Room von Ulrich Köhler

Ein scharfer Blick durchs trübe Fenster des Menschseins: In My Room von Ulrich Köhler

Das Fens­ter ist ein zen­tra­les Motiv in den Fil­men von Ulrich Köh­ler. Am Anfang von Bun­ga­low, Köh­lers ers­tem Kino­film, taucht der neun­zehn­jäh­ri­ge Bun­des­wehr-Deser­teur Paul im Bun­ga­low sei­ner Eltern unter, die auf Urlaub gefah­ren sind. Der plötz­li­che Zusam­men­prall zwei­er ein­an­der ent­frem­de­ter Gene­ra­tio­nen im Fami­li­en­haus, wird durch die glä­ser­ne Flä­che eines Wohn­zim­mer­fens­ters insze­niert: Pauls älte­rer Bru­der und sei­ne däni­sche Freun­din tau­chen im Gar­ten auf, fan­gen an, sich vor dem Pool aus­zu­zie­hen, nicht ahnend, dass sie von Paul beob­ach­tet wer­den. Die Sze­ne gewinnt zusätz­lich an Bri­sanz, wenn Pauls Freun­din Kers­tin, kurz davor end­gül­tig mit ihm Schluss zu machen, auf das baden­de Paar trifft. Paul hat­te sie absicht­lich nicht vor der Ankunft der uner­war­te­ten „Gäs­te“ gewarnt. Was nur ein klei­ner Zwi­schen­fall gewe­sen zu sein scheint, erweist sich nur ein paar Sekun­den spä­ter als der Anfang vom Ende, denn Kers­tin ver­schwin­det schließ­lich auf ihrem Motorrad.

Bei Ulrich Köh­ler stellt also das Fens­ter den Augen­blick einer spie­geln­den Begeg­nung zwi­schen dem Mann und der Frau, dem einen Paar und dem ande­ren, dar. Der Titel von Köh­lers nächs­tem Film Mon­tag kom­men die Fens­ter erscheint auf den ers­ten Blick rät­sel­haft, bezieht sich aber kon­kret auf die Lebens­si­tua­ti­on des Prot­ago­nis­ten­paars: Ein klein­bür­ger­li­ches moder­nes Paar zieht in ein frisch gebau­tes Haus um – an einem Mon­tag wer­den die Fens­ter gelie­fert. Zugleich hat der Titel aber auch eine über­tra­ge­ne Bedeu­tung: die Rei­se einer Frau ins Unbe­kann­te, ein sich all­mäh­lich bil­den­des meta­pho­ri­sches Fens­ter auf die Welt um sie her­um. Mit In My Room mel­det sich Ulrich Köh­ler nach acht Jah­ren wie­der mit einer Regie­ar­beit zurück. Der Film hät­te den glei­chen Namen tra­gen kön­nen wie sein Vor­gän­ger – wenn­gleich das Fens­ter hier ein ande­res gewor­den ist. Ohne zu viel zu ver­ra­ten: Das Para­dox die­ses Films besteht dar­in, dass das Fens­ter einer­seits zum wich­tigs­ten mate­ri­el­len Gegen­stand der Insze­nie­rung wird, dass es sich ande­rer­seits aber auch auf einer geis­ti­gen Ebe­ne, im Inne­ren der Figu­ren, wie­der­fin­det – ohne dass die Ebe­ne des Kon­kre­ten sich der des Geist­li­chen je unterordnet.

Am Anfang scheint Armin (Hans Löw), die Haupt­fi­gur von In My Room, jedoch nicht ganz zu begrei­fen, in wel­chem Umfang das Fens­ter, vor allem als Rah­men ver­stan­den, für ihn wich­tig sein soll­te. Die ers­ten Bil­der des Films sind geprägt von visu­el­lem Cha­os, von raschen, wir­beln­den Kame­ra­be­we­gun­gen. Erst in der nächs­ten Sze­ne wird geklärt, was man gera­de gese­hen hat. Armin, der als frei­er Kame­ra­mann für einen TV-Sen­der arbei­tet, soll­te bei einem Mee­ting Poli­ti­ker fil­men, nur hat er den „An“- mit dem „Aus“-Modus der Kame­ra ver­wech­selt. Ein Feh­ler, auf­grund des­sen er ledig­lich die ers­ten und letz­ten Wör­ter der Gesprä­che auf­ge­nom­men hat. Armins Leben ist trotz die­ses Mal­heurs nicht gänz­lich aus dem Rah­men gefal­len – was hier buch­stäb­lich zu ver­ste­hen ist, da Köh­ler trotz einer leicht unste­ten Kame­ra sei­nen Haupt­dar­stel­ler fast immer sehr prä­zi­se kadriert. Zum Teil sogar dop­pelt, durch einen Rah­men inner­halb des Rah­mens. In einer ande­ren Sze­ne zu Beginn des Films, kommt Armin nach einer Par­ty spät in der Nacht zusam­men mit einer jun­gen Frau (Emma Bading) in sei­ner klei­nen Woh­nung an. Wäh­rend er auf sei­nem Lap­top Musik aus­sucht, geht sie ins Bade­zim­mer – die Tür ist offen, man sieht aber nichts außer das gel­be Licht, wel­ches das Zim­mer beleuch­tet. Plötz­lich ver­schwin­det die Frau aus der Woh­nung und lässt Armin allein. Erst dann wird das Bade­zim­mer gezeigt, wo Armin pin­kelt und sich die Zäh­ne putzt. Die­se Auf­nah­me, in der die Tür­öff­nung den Dar­stel­ler umrahmt, mag unauf­fäl­lig erschei­nen, ist aber sehr prä­zi­se insze­niert und wirkt als grau­sa­mer Moment der Ent­blö­ßung. Der Dar­stel­ler ist nun fast nackt, nur sei­ne Unter­ho­se hat er noch an. Der etwas her­aus­fal­len­de Bauch ist das ers­te Zei­chen des Älter­wer­dens einer noch jun­gen und attrak­ti­ven Figur, des­sen Leib sich in den wei­te­ren Ent­wick­lun­gen des Plots in einen dün­nen, mus­ku­lö­sen und fes­ten Kör­per ver­wan­deln wird. Als Armin mit her­un­ter­ge­zo­ge­ner Unter­ho­se vor der Toi­let­te steht, wird plötz­lich an die Tür geklopft: die jun­ge Frau taucht wie­der auf, um ihre Tasche zu holen, dann geht sie wie­der weg. Zwi­schen zwei Türen gefan­gen, genau durch die­ses sowohl bana­le als auch küh­le, unheim­li­che Bild, wird eine ers­te Skiz­ze von Armin gezeich­net – dabei geht es eigent­lich mehr um die Umris­se, als um den psy­cho­lo­gi­schen Gehalt der Figur.

Das Über­na­tür­li­che ver­steckt sich in die­sen ers­ten Minu­ten von In My Room noch hin­ter einem sanf­ten Natu­ra­lis­mus, der nur lei­se Köh­lers Vor­lie­be für die Abs­trak­ti­on, für die rei­ne Räum­lich­keit andeu­tet, ohne sie zwangs­läu­fig psy­cho­lo­gisch an die inne­re Erfah­rung der Prot­ago­nis­ten zu bin­den. In der Sze­ne im Eltern­haus in der deut­schen Pro­vinz wird der Raum als eine pure Fol­ge von Fens­tern, Rah­men, Öff­nun­gen und Türen insze­niert. Weni­ger, weil der Regis­seur in kal­ten, unmensch­li­chen Bil­der ein schwer­wie­gen­des Miss­ver­ständ­nis inner­halb der Fami­li­en­zel­le deut­lich machen will, als viel­mehr, weil er dadurch am genau­es­ten die eigent­li­che Seins­wei­se sei­ner Haupt­fi­gur spür­bar machen kann. Beson­ders eine Sze­ne zeigt das auf ganz geschick­te Wei­se: In ihrer ers­ten Ein­stel­lung sieht man im Vor­der­grund einen klei­nen Fern­se­her, in dem ein Ski-Ren­nen läuft und der neben der Tür zum Wohn­zim­mer steht. Im Hin­ter­grund ist durch den Rah­men der Tür unscharf Armins schwer­kran­ke Groß­mutter zu sehen, die im Kran­ken­bett liegt. Dass die Kame­ra den Fern­se­her fokus­siert, bedeu­tet aber nicht, dass die Figur im Hin­ter­grund von sekun­dä­rer Wich­tig­keit ist – ganz im Gegen­teil. Der Gegen­schuss ent­larvt dann die Zuschau­er, näm­lich Armin und sei­nen Vater, die etwas unbe­tei­ligt auf den Schirm glot­zen. Köh­ler ver­ur­teilt sei­nen „Anti­hel­den“ aber nicht zu einer end­gül­ti­gen, apa­thi­schen Gleich­gül­tig­keit gegen­über sei­ner Umwelt, denn er weist zugleich auf die Mög­lich­keit einer Über­win­dung die­ses Zustands hin, selbst wenn die­ses Über­win­den sich sei­nen Weg durch den Tod und das Töten bah­nen wird müssen.

In My Room von Ulrich Köhler

Es folgt die ers­te gro­ße Wen­dung der Erzäh­lung. Armin muss fest­stel­len, dass die Mensch­heit um ihn her­um ein­fach ver­schwun­den ist. Im ers­ten Moment wirkt sich die­se Frei­heit para­do­xer­wei­se hem­mend aus. Ein tra­gi­scher, wenn nicht mor­bi­der, Neben­ton darf auch nicht aus­ge­klam­mert wer­den. Armin setzt die Lei­che der ver­stor­be­nen Groß­mutter in Brand und ver­ur­sacht unab­sicht­lich den blu­ti­gen Tod eines Hun­des, des­sen Bauch von den Glas­split­tern einer Tür auf­ge­schlitzt wird, durch die Armin am Vor­tag gewalt­sam in das zuge­sperr­te Haus ein­ge­drun­gen war. Hier wird noch eine wei­te­re Idee ins Spiel gebracht, der Ulrich Köh­ler in ihrem gan­zen fil­mi­schen Aus­maß zu fol­gen ver­steht, indem er betont, dass das anschei­nend rück­sichts­lo­se Spren­gen aller Gren­zen, wel­ches die extre­me, indi­vi­du­el­le Frei­heit aus­macht, in Wirk­lich­keit kein schmerz­lo­ser Pro­zess ist – weder für die fik­ti­ven Figu­ren noch für den Zuschau­er. Die Tür – das Fens­ter – des Ver­bo­te­nen spren­gen, ist zwar der Weg zur Befrei­ung, führt aber auch dazu, dass man sich mit dem aus­ein­an­der­set­zen muss, was hin­ter dem zer­split­ter­ten Fens­ter tot zurück­ge­las­sen wird.

Die Erwei­te­rung des Ein­stel­lungs­rah­mens, die nach dem rät­sel­haf­ten Ereig­nis zustan­de kommt, bezie­hungs­wei­se der Über­gang von der fast ersti­cken­den Enge der Innen­räu­me zu den men­schen­lee­ren Land­schaf­ten, darf nicht als naï­ve Meta­pher einer Befrei­ung von allen Ver­pflich­tun­gen ver­stan­den wer­den, die das Leben inner­halb einer Gesell­schaft kenn­zeich­nen, eines Zustan­des der über­mäch­ti­gen Sub­jek­ti­vi­tät also, wel­cher dem inne­ren Leben Armins ent­sprä­che. Das ist eigent­lich die groß­ar­tigs­te Leis­tung des Fil­mes, dass er die ver­däch­ti­ge Stil­le des Allein­seins aus­schließ­lich durch klei­ne – zugleich aber auch deut­li­che – Ver­än­de­run­gen inner­halb des Rah­mens insze­niert. Fast alles geschieht bin­nen zwei Ein­stel­lun­gen. In der ers­ten sitzt Armin nachts in sei­nem Auto am Ran­de einer gro­ßen Brü­cke. Die tie­fe Ruhe wird plötz­lich von einem Tou­ris­ten­boot unter­bro­chen, wel­ches an Armin vor­bei­fährt, und des­sen bun­te Laser­show das dunk­le Was­ser hoch­mü­tig streift. Am Mor­gen des nächs­ten Tages, nach­dem er am Fuß der Brü­cke gepin­kelt hat, merkt Armin, dass der Fluss und sein Ufer total leb­los gewor­den sind. Statt des Boots vom Vor­tag, sind ins Was­ser gestürz­te oran­ge Kanis­ter zu sehen. Weni­ge Sekun­de spä­ter ist Armin am Steu­er, er fährt auf die Brü­cke. Er hält an. Erst wird Armins Gesicht gezeigt, dann schwenkt die Kame­ra auf die von Was­ser­trop­fen bedeck­te Wind­schutz­schei­be, um Armins Per­spek­ti­ve zu ent­hül­len. Auf der Stra­ße lie­gen Motor­rä­der her­um. Die Kame­ra bleibt ste­hen wäh­rend Armin aus dem Auto steigt, um sich der Sze­ne­rie anzu­nä­hern. Er lehnt sich an den Brü­cken­zaun. Wie­der eine Nah­auf­nah­me auf sein etwas ver­zwei­fel­tes Gesicht. Die fol­gen­de Ein­stel­lung zeigt in Drauf­sicht das lee­re Tou­ris­ten­boot, das im Fluss treibt. Nüch­tern aber hart­nä­ckig, kon­fron­tiert uns Ulrich Köh­ler weni­ger mit der Idee eines Ver­schwin­dens der Mensch­heit, als er uns auf die dro­hen­den Spu­ren die­ses Ver­schwin­dens auf­merk­sam macht. Etwas Beun­ru­hi­gen­des ist gesche­hen, aber der Film ver­zich­tet auf eine Erklä­rung des Ereignisses.

Danach geht die Erzäh­lung ellip­tisch in ihren zwei­ten Teil über: In Süd­ti­rol ange­langt ist der frü­her am Ran­de der Apa­thie ste­hen­de Armin ein kräf­ti­ger Land­ar­bei­ter gewor­den. In den soge­nann­ten „Natur­zu­stand“ ist er dadurch frei­lich nicht zurück­ge­kehrt, da er sich ein funk­tio­nel­les Häus­chen gebaut hat, dane­ben einen Hüh­ner­stall und sogar einen klei­nen Pfer­de­stall für ein Zug­pferd, das er auf der Auto­bahn gefun­den hat. Ab die­sem Punkt schlägt In My Room eine vor­her­seh­ba­re­re Rich­tung ein. Der Film unter­nimmt einen Über­tra­gungs­ver­such des Ursprungs­my­thos von Adam und Eva in einen von aktu­el­len, drin­gen­den Fra­gen auf­ge­la­de­nen Zusam­men­hang. Obwohl sich nun der Ver­lauf des Plots oft­mals zu ein­fach erah­nen lässt, bie­tet jede Ein­stel­lung eine über­ra­schen­de Per­spek­ti­ve aufs radi­kal neue Dasein Armins. Die fol­gen­reichs­ten Momen­te spie­len sich hier erneut in den Fens­tern, durch die Fens­ter, ab. In einer Sze­ne zum Bei­spiel, hört Armin das Schrei­en eines Zie­gen­kit­zes, das gera­de von einem Fuchs geraubt wird. Wäh­rend Armin hin­aus­geht, um dem Fuchs hin­ter­her­zu­ren­nen, ver­bleibt die Kame­ra im Haus. Sie schwenkt, Armin fol­gend, lang­sam nach rechts, um schließ­lich vor einem Fens­ter aus trü­bem Glas anzu­hal­ten. Armin ist nun eine trü­be Figur, die sich von uns ent­fernt. Mehr als das Ver­schwin­den der Mensch­heit, ist es das lang­sa­me Ver­schwin­den sei­nes Hel­den, das Ulrich Köh­ler mit die­ser Geschich­te fil­men möch­te. Er wirft sei­nen Prot­ago­nis­ten in ein mys­te­riö­ses Schick­sal des Auf­lö­sens, wie er das schon in Mon­tag kom­men die Fens­ter getan hat. In der Plan­se­quenz am Ende von In My Room wird das beson­ders deut­lich. Armin wird letzt­lich von jedem Zusam­men­le­ben ent­frem­det, mög­li­cher­wei­se sogar von sei­nem eige­nen Menschsein.

Das Haus wird zum Fens­ter, ähn­lich wie am Ende von And­rei Tar­kow­skis Opfer. Den aller­ers­ten wir­beln­den Auf­nah­men Gegen­ge­wicht leis­tend, fährt die Kame­ra lang­sam rück­wärts, die Sicht auf das stil­le Land – nur ein LKW macht etwas Lärm – durch den Tür­stock ein­ge­rahmt. Nach­dem sie das Zim­mer gera­de­aus durch­wan­dert hat, ver­lässt die Kame­ra den Raum. Die Frau (Ele­na Rado­ni­cich), die Armin ken­nen­ge­lernt hat und mit der er ein gemein­sa­mes Leben anfan­gen woll­te, fährt plötz­lich mit dem LKW weg. Armin, der uns Zuschau­ern den Rücken zuwen­det, steht rat­los beim Hüh­ner­stall. Die End­ti­tel brin­gen den Film zum Abschluss, schrei­ben sich in die letz­te Ein­stel­lung ein. Sie lau­fen aber nicht wie ein gewöhn­li­cher Abspann, son­dern häu­fen sich stu­fen­wei­se auf­ein­an­der, die frü­he­ren unter den spä­te­ren noch unscharf zu sehen. Dadurch wird die Lein­wand in zwei Tei­le gespal­ten, wodurch sich eine Art Fens­ter­la­den bil­det. Armin sperrt sich in sei­nem „Room“ ein, der Film sperrt uns aus. Oder ist es anders­her­um? Dass der Titel erst ganz am Ende erscheint, ist also kein blo­ßer Witz, son­dern eine Ent­schei­dung, um auf sei­ne Zwei­deu­tig­keit hin­zu­wei­sen. Wo man am Anfang noch ver­sucht ist, den Titel mit „In mei­nem Zim­mer“ zu über­set­zen, so erwei­tert sich der Begriff nach zwei Stun­den auf einen grö­ße­ren „Raum“ – einen Film­raum, einen Fik­ti­ons­raum, einen Lebens­raum. Die­ser Raum ist es, der vom Zuschau­er durch das Fens­ter Lein­wand betrach­tet wird und sich mal klar, mal trü­be darbietet.