Filmfest Hamburg: Turist von Ruben Östlund

Manchmal spielen Menschen Liebe, Schmerz oder Familie, um diese zu bewahren, um sich nicht einzugestehen, dass es eigentlich ganz anders wäre. Dann lächeln sie, auch wenn es sie innerlich zerreißt und sie sind zärtlich, auch wenn sie schreien müssen. Und manchmal handeln sie dann doch so wie sie fühlen. Sie schreien, schlagen und laufen davon. Meist folgt die Scham oder die Verdrängung. Beides ist unglücklich und absurd. Es gibt dieses Versprechen am Anfang einer Liebe: Wir sind anders. Und es gibt dieses Versprechen in jedem von uns: Ich bin richtig. Erst, wenn man bemerkt, dass dies Lügen sind, kommt die Krise. Im Fall von Turist von Ruben Östlund, der bislang der bei weitem beste Film ist, den ich auf dem Filmfest in Hamburg und im Kinojahr 2014 gesehen habe, kommt sie durch ein traumatisches Erlebnis, wie eine Explosion aus den Gefühlen und Instinkten seiner Figuren. Ein Schlag in die Mägen all jener, die an die Wahrheit der Liebe glauben, ein Film, bei dem mir kalt wurde, den ich körperlich spürte.

Es geht um eine schwedische Familie, die in den französischen Alpen Skiurlaub macht. Gleich in der ersten Einstellung lassen sie sich von einem Profifotografen im verlorenen Weiß der Berge fotografieren und halten so einen Moment fest, weil ein Moment hier alles verändern kann, weil er zählt und Dinge definiert. Später wird diese Familie auf der wunderschönen Terrasse des Hotelrestaurants sitzen und einen dieser zahlreichen knallenden Schüsse hören, die kontrollierte Lawinen auslösen. Dann sehen sie eine Lawine auf sich zu kommen. Aber kein Grund zur Panik, denn es handelt sich ja um eine kontrollierte Schneemasse…oder? Oder nicht. Instinktiv greift Tomas nach seinem Handy statt nach seinen Kindern und seiner Frau Ebba und rennt davon. Ebba hält sich schützend über ihre Kinder und verschwindet in einem weißen Dunst. Die Lawine ist vorher zum stehen gekommen. Das war nur der aufgewirbelte Schnee. Aber eine andere Lawine wurde losgetreten. Jene, die eine ganze Familie, eine ganze Liebe, ein ganzes Leben mit einer Sekunde in Frage stellt.

Turist von Ruben Östlund

Damit bewegt sich Östlund auf ähnlichem Terrain wie zuletzt Julia Loktev in ihrem The Loneliest Planet. Verrät hier das Unterbewusstsein etwas über die Wahrheit einer Person? Hatte Loktev ihre Handlung in der georgischen Steppe beobachtet und damit eine Isolierung und Leere zum Teil ihrer Sprache gemacht, findet Östlund sein Pendant in der Künstlichkeit und fehlenden Anonymität eines bizarren Skihotels. Bizarr ist weniger das Hotel sondern die Art, in der Östlund es filmt. Es wirkt durch sein Framing und durch die Musikuntermalung mit Vivaldi so als wäre das ganze eine Kunstwelt, vielleicht ein Freizeitpark, jedenfalls nichts echtes. Selbiges gilt für die Skipisten, die immerzu im Nebel verschwinden oder in geometrischen Formen aufgelöst werden. Dort scheinen Maschinen ihr eigenes Leben zu führen ganz so wie ein merkwürdiger Mann vom Hotelpersonal, der als ständiger Beobachter (und vor allem als einziger Beobachter) die nächtlichen Konflikte im Hotel beobachtet und sich dabei eine Zigarette anzündet. Damit erinnert Turist unter anderem an Jia Zhang-kes The World, indem das Setting auch ein deformierter Star war.

Darin liegt – und das ist wirklich bemerkenswert – Komik. Mancher bezeichnet Turist gar als Komödie. Das geht, weil Östlund mit einem derartigen Zynismus und einer brutalen Schärfe auf die Lügen einer Liebe und familiären Beziehung blickt und das immer wieder mit schockierenden Momenten (ein Ufo-Angriff in einem kontemplativen Moment oder ein OneLiner am Ende eines existentialistischen Gesprächs) aufbricht. Aber der Humor hat hier immer eine Kehrseite der wahrhaftigen Offenbarung, genauso eben wie die Realität immer etwas Absurdes hat. So werden Tränen vorgetäuscht und Launen wechseln ständig, Versprechen werden nicht gehalten und immer wieder wird versucht, ein Bild zu bewahren. Ein Bild von einem Ideal, das scheitern muss. Für Tomas führt das in einen Selbsthass. Bei Ebba in paranoiden Eskapismus. Mir ist immer noch kalt, ob der tatsächlichen Show, die die Eltern dann vor ihren Kindern abspielen, um die Rolle des Vaters wiederherzustellen. Diese Familie macht den ganzen Film nichts anderes als ein Familienfoto. Nur, dass man deutlich sehen kann, dass es nicht echt ist.

Der einzige Moment wahrer Liebe findet sich kurz vorher als die Kinder das geben, was ihr Vater ihnen nicht gab: Schutz. Als er heulend zusammenbricht werfen sie sich auf ihn und versuchen ihm zu helfen. Der einzige Moment von Wahrheit, der einem von Östlund brutal entrissen wird. Brutalität ist allgemein ein gutes Stichwort. Östlund denkt sich – und hier würde ein Kritikpunkt ansetzen, wenn er es nicht so perfekt machen würde – viele kleine Gemeinheiten aus, die seine Figuren weiter entzweien, gegeneinander und untereinander. So werden zwei Freunde der Familie am Abend zum Essen eingeladen und vor ihnen wird das ganze psychologische Theater zwischen Verdrängung und Hass durchgespielt. Wie auf einer Buñuel-Bühne des sarkastischen Selbstmitleids. Aus einer fast voyeuristischen Lust wird die Kamera dem befreundeten Paar in ihr Bett folgen und beobachten welche Krisen durch dieses Erlebnis in ihrer Beziehung entstehen. Als würde es die Zuseher in der Nacht nach dem Film filmen. Später sitzt Tomas mit jenem Freund bei einem Bier auf der Terrasse. Eine junge Frau kommt zu ihnen, sie scheint sie anzubaggern. Sie sagt, dass ihre Freundin gesagt hat, dass Tomas der schönste Mann auf der Terrasse sei. Es läuft Club-Musik, sie tragen Sonnenbrillen und trinken Bier. Sie lächeln und sind lächerlich cool. Dann kommt die Frau zurück und entschuldigt sich. Es wäre gar nicht um Tomas gegangen, sie hätte sich getäuscht.

Turist2

Östlund lässt einen Geschlechterkampf entstehen. Dieser folgt aber weniger einer großen biblischen Idee sondern einer ungeheuren Beobachtungsgabe und den Figuren selbst. Damit steht er trotz oder gerade wegen der humoristischen Einflüsse in Verbindung mit Ingmar Bergman und Bruno Dumont (vor allem dessen Twentynine Palms). Es geht darum ein Gesicht zu haben und es zu verlieren, es zu wahren, es zu vergessen, es zu akzeptieren, es zu hassen, es zu lieben. In Filmen wie Climates von Nuri Bilge Ceylan oder den genannten Twentynine Palms und The Loneliest Planet suchen Regisseure nach der verbitterten Seele der Liebe, dem Abgrund von Beziehungen. Sie werden dafür oft kritisch beäugt, denn meist entstehen Filme, die einem Schmerzen zufügen oder mit denen man nicht einverstanden ist. Zyniker stehen prinzipiell über dieser Art von Film. Es wird ignoriert, dass das ihre Größe ist, weil sie eine Ehrlichkeit besitzen, die ihren Subjekten oft fehlt. Bei Turist ist das Außergewöhnliche, dass er es schafft zynisch von Gefühlen zu erzählen und gefühlvoll von Sarkasmus. Er hat einen Film aus und mit einer Angst gemacht. Das Ungewisse in einem selbst, die Schutzlosigkeit, das Schauspiel, der Egoismus. Einer der besten Filme über die Heuchelei in menschlichen Beziehungen. Und doch ein Liebesfilm.

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