Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Jauja von Lisandro Alonso

Filmfest Hamburg: Before From What Is Before

In der letz­ten Nacht in Ham­burg tropft es plötz­lich in mei­nem Zim­mer. Ein defek­tes Was­ser­rohr hat zunächst einen rie­si­gen gel­ben Fleck an der Decke mei­nes Hotel­zim­mers hin­ter­las­sen und dann drin­gen kleins­te Trop­fen durch die dicke Wand und gleich dem Ticken einer Uhr, begin­nen sie den Boden zu bewäs­sern. Mein Schlaf wird dadurch emp­find­lich gestört und ich füh­le mich selbst­ver­ständ­lich wie in einem Tsai Ming-liang Film. Mit wei­ßer Unter­ho­se und gleich eines Raub­tiers (also zumin­dest in mei­nem Kopf) unter­su­che ich Lee Kang-shen­ges­que die Decke, bli­cke aus dem Fens­ter, in mei­ner Erwar­tung an Lav Diaz, der am letz­ten Tag auf dem Pro­gramm steht mit sei­nem Locar­no-Gewin­ner From What Is Befo­re.

Diaz hat die Zuse­her sei­ner Fil­me ein­mal als „War­ri­ors“ bezeich­net. Sie wür­den sich auf die enor­me Län­ge vor­be­rei­ten. Außer­dem wäre es völ­lig in Ord­nung für ihn, wenn Zuse­her sei­ne Scree­nings ver­las­sen wür­den und wie­der kom­men wür­den. Ob dies eine Rei­se nach Jeru­sa­lem zur Fol­ge haben muss, die sich spä­ter im Rah­men des Ham­bur­ger Film­fests abspiel­te, sei dahin­ge­stellt. Jeden­falls bleibt Diaz eine cine­phi­le Meis­ter­prü­fung, die völ­lig zu Unrecht oft auf ihre Län­ge redu­ziert wird. An ande­rer Stel­le habe ich mich genau­er mit dem Film beschäftigt.

Mein letz­ter Tag in Ham­burg ist ein beson­ders war­mer Tag für die Jah­res­zeit. Das ist an sich nicht wirk­lich bemer­kens­wert jedoch spielt es in die Vor­be­rei­tung auf einen Lav Diaz Film durch­aus eine Rol­le. Es geht um Trin­ken, Essen und Bewe­gung. Denn im Gegen­satz zu Diaz und den meis­ten Zuse­hern bin ich nicht der Mei­nung, dass man eine Sekun­de sei­ner Fil­me ver­pas­sen soll­te. Es gibt Sze­nen in die­sem Film und auch in den ande­ren Fil­men des Regis­seurs, die das Gese­he­ne kom­plett umdre­hen, die es ein­ord­nen, ver­än­dern und die für ein Ver­ständ­nis des Films abso­lut unent­behr­lich sind. Viel­leicht wäre es kon­se­quent, im Stil von Luis Buñuel Toi­let­ten statt Kino­ses­sel im Kino aufzustellen.

Misunderstood von Asia Argento
Incom­pre­sa

Also gehe ich spa­zie­ren und decke mich mit einer Fül­le an Ver­pfle­gung ein, trin­ke, esse und mache tat­säch­lich Locke­rungs­übun­gen. Unmit­tel­bar vor Beginn gehe ich auf die Toi­let­te. Ein „War­ri­or“ eben…und ich habe dabei eini­ges an Zeit die ver­gan­ge­nen Tage in Ham­burg gedank­lich zu resü­mie­ren. Es war ein sehr anspre­chen­des Fes­ti­val für mich und ins­be­son­de­re zwei Fil­me, die ich so nicht auf der Rech­nung hat­te, haben mich begeis­tert: Turist von Ruben Öst­lund und The Tri­be von Myros­lav Sla­bosh­py­ts­kiy. Dar­über hin­aus bin ich zwei wei­te­ren Groß­wer­ken von Regis­seu­ren begeg­net, die ich schon zuvor abso­lut ver­ehr­te. Zum einen Lisan­dro Alon­so, der mit sei­nem Jau­ja eini­ge neue Aspek­te zu sei­nem Schaf­fen hin­zu­fügt und den­noch sein unheim­li­ches Auge für Bild­ge­stal­tung in einem bestimm­ten Set­ting bei­be­hält und eine medi­ta­ti­ve Iro­nie ent­fal­tet. Und außer­dem Win­ter Sleep von Nuri Bil­ge Cey­lan, der mich nach wie vor völ­lig irri­tiert. Wenn man hart mit dem Film ins Gericht gehen wol­len wür­de, dann könn­te man ihn durch­aus mehr als Hör­spiel denn als Film bezeich­nen. Schließ­lich muss­te ich drei­ein­halb Stun­den der­art inten­siv mit­le­sen, da es außer weni­ger Sze­nen fast aus­schließ­lich um Dia­lo­ge geht. Aber dann ist da das Wesen die­ser Dia­lo­ge. Win­ter Sleep ist näm­lich nicht nur ein Film mit Dia­lo­gen son­dern in gro­ßem Maße auch ein Film über Dia­lo­ge. Es geht um die Selbst­recht­fer­ti­gung, Selbst­be­lü­gung, den Selbst­hass, den Men­schen­hass, die Funk­ti­on von Spra­che und Den­ken dar­in. Das gan­ze fin­det in einer inhalt­li­chen und phi­lo­so­phisch-psy­cho­lo­gi­schen Tie­fe statt, die man aus gro­ßer Lite­ra­tur kennt. Für mich der schwächs­te Film eines gro­ßen Regisseurs.

Zu einer gan­zen Rei­he inter­es­san­ter und erwäh­nens­wer­ter Begeg­nun­gen rech­ne ich Vent­os de Agos­to von Gabri­el Mas­ca­ro, Incom­pre­sa von Asia Argen­to, Tim­buk­tu von Abder­rah­ma­ne Sis­sa­ko, Favu­la von Raúl Per­ro­ne oder Her­mo­sa juventud von Jai­me Rosales.

Mei­ne zwei gro­ßen Ent­täu­schun­gen sind Mom­my von Xavier Dolan und Fehér Isten von Kor­nél Mun­druc­zó. Ers­te­rer ist ein Schritt zurück für den durch­schnitt­li­chen kana­di­schen Lieb­lings­jun­gen einer unre­flek­tier­ten Kino­welt, die sich nur all­zu bereit­wil­lig von Style blen­den lässt. Dolan hat sehr wenig zu erzäh­len (in Kon­se­quenz ist Mom­my ein schlech­te­res Remake von J’ai tué ma mère) und er weiß auch nicht unbe­dingt wie er das erzäh­len soll. So lässt er fast in zwang­haf­ter Manier sei­ne Pop­songs lau­fen, um eine Art Rhyth­mus zu ent­wi­ckeln, der nie aus den Bil­dern son­dern immer aus der Musik kommt. Sei­ne Grund­for­mel besteht dar­in hys­te­ri­sche, neu­ro­ti­sche und auf mani­pu­la­ti­ve Wei­se lie­bens­wer­te Men­schen in Kon­flik­te zu brin­gen. Dabei bedient er sich in einem 1:1 Insta­gram-Look, der zu einer dra­ma­tur­gi­schen Funk­ti­on auf­steigt. Dolan ist kein böser Mensch, kein schlim­mer Regis­seur. Aber der unver­ständ­li­che Hype, der sei­ner Arbeit ent­ge­gen­ge­bracht wird, ist ein schlech­tes Zei­chen für das Kino. Ich bin mir bewusst, dass ich die­se Aus­sa­gen nicht ein­fach so hin­stel­len kann. Daher will ich sie mit einer bemer­kens­wer­ten Kri­tik von Adam Nay­man recht­fer­ti­gen, der ich zu 100% zustim­men kann. (was sel­ten vorkommt).

Timbuktu
Tim­buk­tu

Fehér Isten dage­gen ist wirk­lich eine Belei­di­gung. Ein mit allen Mit­teln nach bil­li­ger Empa­thie hecheln­des Stück Spielberg-lebt!-Pathos-Kuschelrock im Kino. Die Dis­ney-Sto­ry wäre ja an sich nichts Schlim­mes, aber jeder Dis­ney-Film, den ich ken­ne baut auf ambi­va­len­te­re Figu­ren, eine viel­schich­ti­ge­re Geschich­te und mehr psy­cho­lo­gi­scher Tie­fe in den Cha­rak­te­ren. Natür­lich bleibt es beein­dru­ckend, dass Mundruz­có mit einer der­ar­ti­gen Quan­ti­tät und Qua­li­tät an ech­ten Hun­den arbei­te­te, aber jen­seits eini­ger wahr­lich epi­scher und fes­seln­der Momen­te mit denen, liegt die ein­zi­ge Fas­zi­na­ti­on dar­in, dass man sich wäh­rend dem Schau­en für ein Making-Of inter­es­siert. Dabei don­nert der Film mit Musik und Bild­spra­che der­art mas­siv ins Kino, dass jede Form von Mensch­lich­keit und Sub­ti­li­tät ver­lo­ren geht.

Es ist fast 13Uhr, eini­ge See­len war­ten schon auf Lav Diaz im Kino­saal. Ande­re lie­gen bis kurz vor Beginn vor dem Kino auf einer Wie­se. Man muss das Licht ver­las­sen, um es lan­ge Zeit zu sehen.

Ich betre­te Kinoseele.