Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Formen filmischer Sorge: Super Natural von Jorge Jácome

Super Natural von Jorge Jácome tanzt auf einem schmalen Grat zwischen experimentellem Kino und Meditations-App und bringt dabei schillernde Bilder einer zärtlichen Gemeinschaft zustande. Die ersten Minuten des Films im Delphi Filmpalast am Berliner Zoo bestehen aus einem Schwarzbild, sphärischen Klängen und elektronisch kratzenden Geräuschen; die Untertitel fragen: „Have we started already?“ Eine Stimme, die sich zwischen Kratzen und Schrift manifestiert, fragt uns weiter, wie es uns geht, fordert uns auf, uns zurückzulehnen, unsere Umgebung wahrzunehmen – viele Köpfe im Kinosaal folgen der Anweisung, blicken um sich, recken die Arme – während ovale und runde Farbflächen auf der Leinwand ineinander verlaufen und immer neue Farbvariationen hervorbringen.

Die runden Formen erinnern an Lavalampen, die Klänge an ein Massagestudio. Eine merkwürdige Stimmung für ein Kino, die die filmische Erfahrung in die Nähe von populären Online-Entspannungs-Übungen rückt. Diese formalästhetische Gratwanderung findet ihr explizite Entsprechung in diesem Film, der beharrlich um Körper und deren Grenzen kreist – zu anderen Körpern, zu Materialien und zur Umwelt. In episodischer Manier führt er verschiedene Szenen vor, die nicht über ein Narrativ, sondern über sensorische Erfahrungen zusammengehalten werden. Close-Ups von sich berührenden und streichelnden Händen und Gesichtern im Wasser, von Händen, die als Latex Erweiterungen auf die Finger von Händen aufgesetzt werden und so sich selbst und eine Pflanze erkunden, werden abgelöst von einem Meermenschen-Schwanz, der mehrfach die Besitzer:in wechselt. Schwarz-weiße Videoaufnahmen von schlafenden Gesichtern, in denen die Kamera, die Protagonist:innen zärtlich zu wecken scheint, finden ihre Fortsetzung im Spiel mit dem Super-8-Format, dessen 8 in den Untertiteln zum Tanzen gebracht wird. Super 8, Super Natural, der Übergang ist fließend. Die Welt des Films und seiner Bewohner:innen ist in konstanter Metamorphose begriffen und seine technischen Formate schmiegen sich wie seine Montage-Rhythmen an die jeweiligen Protagonist:innen an.

In dieser unaufgelösten Heterogenität spiegelt sich auch die Produktion des Films als Kollaboration zwischen Jácome und den Performance Kollektiven Dançando com a Diferença und Teatro Praga. All seine Anordnungen arbeiten an der Auflösung vorgeschriebener Grenzen und stellen so die Frage, wie ein Verhältnis zueinander und miteinander jenseits der individuellen Abgeschlossenheit aussehen könnte. Dafür wendet sich der Film immer wieder dem Meer zu, das abwechselnd auf 35mm, Super 8 und mit einer Smartphone Kamera aufgenommen wird. Die Protagonist:innen schwimmen oder klettern die Felswände an der Küste auf und ab. Ohne einen Zustand ozeanischer Verschmelzung auszurufen, loten die Bilder in dieser Landschaft vorsichtige Entwürfe von Sorge aus, in deren Zentrum sensorische und technische Formen der Berührung stehen. Vielleicht das, was Brigitta Kuster ein Sorge tragendes Kino nennt – Sorge um seine Bewohner:innen, gleichermaßen die Zuschauenden im Kinosaal und Performer:innen vor der Kamera.

Eine stechend blaue Nacht-Sequenz in einem fantastischen Wald zeigt verschiedene Akteur:innen, die genüsslich mit Früchten hantieren. Ihre Hände quetschen das nasse Fruchtfleisch oder fahren an der glatten Oberfläche der Schalen entlang. Schließlich sehen wir eine aufgeschnittene Drachenfrucht, die von einer Hand umschlossen die Leinwand ausfüllt. Ein Löffel sticht in sie hinein und höhlt sie aus, die Frucht wird zum unheimlichen Smiley. Während dieser Bilderfolge betont die mechanische Stimme wie viele unserer Erzählungen Trauma reproduzieren. Vielleicht sollten wir einfach damit aufhören, schlägt sie vor. Während die Hand die nun als aufgerissenen Mund erfahrbar gewordene Frucht durch leichten Druck in Bewegung versetzt, hören wir auf der Tonspur lautes Weinen und Schluchzen. Eine humorvolle Frucht-Performance umfängt die für einen einzigen Moment in den Film eingedrungene Gewalt und verwandelt sie in ein prachtvolles Farbenspiel von triefenden Rot- und Violetttönen.

An manchen Stellen wäre es der Entspannung zuträglicher gewesen, wenn man weniger zur Entspannung aufgerufen würde. Wo liegt schließlich die Grenze zwischen Selbst-Fürsorge und Selbst-Optimierung? Doch der zeitweise aufdringliche Anleitungscharakter des Films trifft auf brüchige und erstaunlich scharfe Experimente mit der filmischen Form und findet in den Kontrasten eine Welt der zärtlichen Entbindungen und Verbindungen. Mitten durch diese Widersprüche hindurch zeichnet Super Natural eine Idee von Sorge, die keine App leisten kann und die die technisierten Formen unserer Begegnungen nicht ab- sondern umwertet.