Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Friaulische Kassiber: Sedimentgestöber

Bei San Pietro ist der Tagliamento von eisigem Celeste. Sein Flussbett erstreckt sich wie ein steingewordener Ozean zwischen zwei Klippen, auf denen alte Befestigungsanlagen den nächsten Krieg erwarten. Wir stolpern zwischen den sich auftürmenden Schlamm- und Kalksteinen, in die sich das südlich stürzende Wasser eingeschrieben hat: Rillen, Kerben und Lebenslinien in dieser grobkörnigen Ablagerungsgesellschaft. Du findest einen Kiesel mit den Jahresringen einer Rinde. Du steckst ihn in deine Jackentasche, als könne er dir die Zukunft voraussagen.

Ich zähle die Jahre: Zweihunderttausendjährige Schotterablagerungen, vierhundert Jahre ins Gefälle eintauchende Sandsteine, einhundertzehntausend Jahre seit der Vergletscherung, sich seit Jahrtausenden zersetzendes Geröll, einhundertundzehn Jahre seit ein verblutender Soldat der österreichisch-ungarischen Armee den Stein zwischen seinen Fingern hielt, damit das Sterben leichter fiel, achtundfünfzig Jahre seit hier alles überschwemmt wurde, nur noch ein paar Jahre bis zum Bau eines Staudamms an dieser Stelle, zwanzig Jahre bis zum nächsten Erdbeben, das nur die Steine überleben werden. Kannst du dir das vorstellen, du mit deinem Ringelstein in den Taschen und dem Lächeln, das immer nur dem flüchtigen Moment gilt?

Mitten im Flussbett liegt eine niedergerissene und hier vor langer Zeit versandete Weide. Schwemmgut, aber sie blüht. Silbrige Blütenkätzchen zittern in der Flussluft. Die vor Jahren aus der Erde gerissenen Wurzeln der Weide haben zwischen den Steinen neuen Halt gefunden. Die Kohlmeisen und Amseln halten Abstand. Sie zwitschern entfernt von den Zweigen der Ufereschen, ganz so, als ahnten sie, dass das Wasser hier jederzeit ansteigen und alles mit sich reißen könnte: Die Menschen, die Tiere, die Geschichte und all diese Steine, die sich dann anderswo ablagern würden.

Ich weiß nichts von alldem, bin nur ein Taumelnder auf diesen glitschigen, aus der Erde hervorragenden Körpern, den Knochen der Erde, den Opfern der Gorgonen. Ob sie sich einst wieder zusammensetzen, zu neuem Leben erwachen? Du stehst neben der Weide und ich zähle die Steine, die wir zusammen gesehen haben.

Dein,
Patrick