Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Ist die Vergangenheit des Kinos seine Zukunft?

Egal ob man apo­ka­lyp­ti­schen „Ende-des-Kinos“-Gedanken oder hoff­nungs­vol­len Fort­schritts­den­kern folgt, scheint in vie­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem kine­ma­to­gra­phi­schen Wesen immer des­sen his­to­ri­sche, ästhe­ti­sche und emo­tio­na­le Ver­gan­gen­heit eine Art Ide­al oder Recht­fer­ti­gung zu sein. Der Blick zurück ist fes­ter Bestand­teil des Kinos. So begrün­de­te Adri­an Mar­tin unlängst sei­ne Rück­kehr in die Arbeit als frei­er Autor mit der Beob­ach­tung, dass Cine­phi­lie rück­wärts­ge­wandt sei. Dazu zitier­te er wie so oft Ser­ge Daney: “Ser­ge Daney once defi­ned cine­phi­lia as «the eter­nal return to a fun­da­men­tal plea­su­re». A plea­su­re who­se con­sti­tu­ti­on is some­what dif­fe­rent for each cul­tu­re, each gene­ra­ti­on and, final­ly, each indi­vi­du­al. But wha­te­ver it is that forms the core of the cine­phi­le pas­si­on for any of us, it is to that, appar­ent­ly, we shall return.” Fil­me­ma­cher beru­fen sich natür­lich fast zwangs­läu­fig auf die Ver­gan­gen­heit, wenn es um Ein­flüs­se und Vor­bil­der geht. Sie kön­nen sich schlecht an der Zukunft ori­en­tie­ren und den Ein­fluss zeit­ge­nös­si­scher Fil­me­ma­cher gibt man nicht ger­ne zu. So ist es kein Wun­der, dass auch hier die Ver­gan­gen­heit eine gro­ße Rol­le spielt und sich bei man­chem Fil­me­ma­cher auch deut­lich in Form und Inhalt wie­der­spie­gelt. Nuri Bil­ge Cey­lan ist dafür ein sehr gutes Bei­spiel, wird ihm doch von man­chen Betrach­ter vor­ge­wor­fen, dass er sich sehr frei an Fil­me­ma­cher wie And­rei Tar­kow­ski oder Michel­an­ge­lo Anto­nio­ni bedient. Man könn­te eine gan­ze Lis­te auf­stel­len mit den gro­ßen Fil­me­ma­chern von damals und ihrem Über­le­ben im Werk ande­rer Fil­me­ma­cher. Aber zum einen ver­kom­men sol­che Ansät­ze zu unfer­ti­gen Spie­le­rei­en und zum ande­ren ist klar, dass ein Ein­fluss nicht ein­fach nur ein Ein­fluss ist, er ist weder mehr noch weni­ger als das, ohne es jemals nur zu sein. Oft wird so getan als gäbe es die Ver­gan­gen­heit des Kinos wie einen schwe­ben­den Punkt in der Zeit völ­lig ohne Rela­ti­on. Ein gutes Bei­spiel dafür hör­te ich in einem Semi­nar zum Doku­men­tar­film, in dem hin­ter­ein­an­der Ger­hard Friedls Hat Wolff von Ame­ron­gen Kon­kurs­de­lik­te began­gen? und der berühm­te bri­ti­sche Pro­pa­gan­da­film The Batt­le of the Som­me gezeigt wur­den und man sich begeis­tert auf Par­al­le­len in der Art und Wei­se der Schwenks in bei­den Fil­men stürz­te. Dabei ver­ste­he ich, dass es die­se Ver­bin­dun­gen gibt, aber mir feh­len die Brü­cken, die es ja zwei­fel­los zwi­schen 1916 und 2004 gege­ben hat mit tau­sen­den ähn­li­chen Schwenks. Dann gibt es da Fil­me­ma­cher wie Béla Tarr, von denen man immer wie­der hört, dass sie sich an einer Ästhe­tik des Stumm­films bedie­nen. Das hal­te nicht nur ich für ziem­li­chen Schwach­sinn, da Kame­ra­be­we­gun­gen, Ton­de­sign und das Schwei­gen in den Fil­men von Tarr grund­ver­schie­den von der eigent­li­chen lau­ten, hand­lungs­freu­di­gen Ästhe­tik vie­ler Stumm­fil­me sind. Den­noch erging es mir selbst so, dass ich vor kur­zem Par­al­le­len zu ent­de­cken glaub­te, zwi­schen Tarr und Wer­ner Hoch­baums Mor­gen beginnt das Leben. Ist die­ser Drang also eine Fol­ge eines ganz ande­ren Drangs, der dar­in besteht, dass man stän­dig ein­ord­nen will, Brü­cken und Ver­glei­che schla­gen möch­te und sich sowie­so stän­dig an sei­nen eige­nen Seh­erfah­run­gen abar­bei­tet? Wür­de das umge­münzt auf das Kino bedeu­ten, dass es seit eini­ger Zeit ein Gedächt­nis hat, das von einer solch immensen Grö­ße ist, dass es bestän­dig die Gegen­wart durch­dringt? Oder anders gefragt: Kann man über­haupt noch bezie­hungs­wei­se konn­te man jemals einen Film machen, der iso­liert von jed­we­der Ver­bin­dung zur Ver­gan­gen­heit des Kinos ist? Wenn man frü­he und enthu­si­as­ti­sche Theo­re­ti­ker wie Jean Epstein liest, fällt einem auf, dass sie das Kino immer­zu als Poten­zi­al ver­stan­den haben. Begeis­tert wird da von Mög­lich­kei­ten und Inno­va­tio­nen der Wahr­neh­mung gespro­chen, die dar­auf war­ten in die Pra­xis umge­setzt zu wer­den. Heu­te wer­den nur mehr Ver­su­che unter­nom­men, das Kino neu-zu-den­ken, nicht es neu-zu-machen. Immer­zu beschleicht einen das Gefühl, dass alle Wege schon gegan­gen wor­den sind, alle Ideen nur eine Wie­der­ho­lung der immer glei­chen und letzt­lich glei­cher­ma­ßen schei­tern­den und in Kraft tre­ten­den Uto­pien des Kinos sind. Dabei gleicht die Kino­land­schaft dann tat­säch­lich einer apo­ka­lyp­ti­schen Welt, nicht weil sie völ­lig zer­stört oder leer wäre, son­dern weil man auf lau­ter Ein­zel­kämp­fer und Über­le­bens­künst­ler trifft, die kla­gen und jam­mern und sich von allem abgren­zen zur Gegen­wart und zu allen anderen.

Serge Daney
Ser­ge Daney

Ist das alles nicht Resi­gna­ti­on? Als jun­ger Mensch muss man sich schon und bestän­dig fra­gen, war­um man heu­te aus­ge­rech­net im Film­be­reich arbei­ten will. Es ist eine Bran­che der Ver­zweif­lung (egal ob Pra­xis oder Theo­rie), obwohl das Kino immer noch so vital scheint und auch als sol­ches bewor­ben wird. Nur wenn man sich umsieht, dann kann man eigent­lich kaum igno­rie­ren, dass dies eine der auf­re­gends­ten Pha­sen in der Geschich­te des Bewegt­bil­des ist. Wir haben einen über­mä­ßi­gen Out­put an Fil­men, Fes­ti­vals en mas­se und jedes Jahr gro­ße und klei­ne Fil­me, die abso­lut groß­ar­ti­ges voll­brin­gen und vie­le der Inno­va­tio­nen und Uto­pien des Kinos erfül­len. Ein jun­ger Kri­ti­ker bekommt bei die­ser schie­ren Mas­se und Ver­füg­bar­keit ganz neue Mög­lich­kei­ten und eine ganz neue Wich­tig­keit, da er theo­re­tisch weit­aus frei­er und viel­schich­ti­ger Ver­mitt­lungs­ar­beit betrei­ben muss. Für Fil­me­ma­cher dage­gen ist es eine unfass­bar auf­re­gen­de Zeit, da wir uns in lau­ter Über­gangs­pha­sen befin­den, in media­len Über­gän­gen, in Über­gän­gen bezüg­lich des Dis­po­si­tivs Kino und schließ­lich auch neue Ver­triebs­mög­lich­kei­ten und Dis­kus­sio­nen ent­ste­hen. Es soll­te eigent­lich eine Zeit der puren Kino­ma­nie sein, aber da gibt es eini­ge Pro­ble­me. Die gesell­schaft­li­che Wich­tig­keit von Film wird mar­gi­na­ler und mar­gi­na­ler. Ande­re Medi­en haben die Welt über­rollt. Ich spre­che bezüg­lich der Mar­gi­na­li­sie­rung von Film als Kunst. Und damit ist selbst­ver­ständ­lich nicht allein der Kunst­markt gemeint, son­dern auch eine Betrach­tungs­wei­se indus­tri­el­len Kinos als Kunst. Fast lächer­lich schei­nen mir die Ver­su­che vie­ler Kri­ti­ker, Fil­me auf ihre gesell­schaft­li­che oder poli­ti­sche Rele­vanz hin zu ana­ly­sie­ren. Es ist des­halb lächer­lich, weil es an der völ­lig fal­schen Stel­le ansetzt und die zuneh­men­de Mar­gi­na­li­sie­rung von Film eher beför­dert als ver­hin­dert (selbst wenn es gegen­tei­lig gemeint ist). Der Ansatz die­ser Kri­ti­ker und Ver­mitt­ler ist, dass sie Fil­me dekon­stru­ie­ren und damit auf­zei­gen wie die­se arbei­ten und was sie über uns und die Gesell­schaft aus­sa­gen. Das klingt an sich nicht falsch. Nur kann ein Film heu­te noch was über eine Gesell­schaft sagen, wenn er jen­seits ihrer Wahr­neh­mung statt­fin­det bezie­hungs­wei­se hilft es den Fil­men, wenn man sie so betrach­tet? Es scheint mir immer noch frucht­ba­rer sich für einen film­be­zo­ge­nen, for­ma­lis­ti­schen und kon­struk­ti­vis­ti­schen Ansatz stark zu machen und zwar sowohl in der Pra­xis als auch in der Theo­rie. Denn nur über ein Inter­es­se und eine Begeis­te­rung für Film jen­seits sei­ner The­ma­ti­ken und Bot­schaf­ten, kann man die­sen wie­der ein öffent­li­ches Gehör schen­ken. Und genau an die­sem Punkt stellt sich die Fra­ge, ob das Kino doch über sein Ende hin­aus ist und was dies bedeu­ten wür­de. Denn was hat die Form von Film noch mit sich und uns tun?

Haben wir viel­leicht bereits ein­ge­se­hen, dass es kei­ne Zukunft mehr gibt und ver­su­chen uns jetzt alle zu ret­ten, wir beru­fen uns auf die Geis­ter des Kinos wie Apichat­pong Weer­a­set­ha­kul oder Gil­ber­to Perez, jene Phan­to­me, die so fest in die Wir­kung und Tech­nik von Film ein­wir­ken, dass man sich fra­gen kann, ob die Ver­gan­gen­heit nicht sowie­so in jedem Bild wie­der­kehrt. Wir beru­fen uns auf die ver­bit­ter­ten Hand­wer­ker des Kinos wie Pedro Cos­ta, auf den Sur­rea­lis­mus wie Bru­no Dumont oder das Ende des Kinos wie Godard. Die­ses trau­ri­ge Gefühl einer Nost­al­gie ist domi­nant. Nost­al­gie­aben­de wer­den ver­an­stal­tet, „alte“ Fil­me wer­den gezeigt und man betont, was für eine Beson­der­heit es doch ist, dass man sie noch ein­mal auf Film pro­ji­ziert zei­gen wird. Das zieht sich von Retro­spek­ti­ven auf Fes­ti­vals, die zuneh­men­de Bedeu­tung von Il Cine­ma Ritro­va­to in Bolo­gna bis hin zu der unglaub­li­chen Begeis­te­rung für die Ein­falls­lo­sig­keit eines neu­en Star Wars Films. Man darf sich schon fra­gen, ob die­se gan­ze Glo­ri­fi­zie­rung der Ver­gan­gen­heit, das Schwär­men und die Nost­al­gie nicht der ulti­ma­ti­ve Sieg der Hol­ly­wood­ma­schi­ne­rie mit ihren Remakes und Sequels ist, die Film­ge­schich­te als eine Spi­ra­le, 120 Jah­re Hof­fen auf die Ver­gan­gen­heit. Damals war alles schö­ner? So ein­fach kann es gar nicht sein, schließ­lich war es doch irgend­wie von Beginn an klar, dass Film sich nicht ver­ges­sen kann, schließ­lich hat er sich selbst (neben all den ande­ren Din­gen, die dar­auf zu sehen und hören sind) gespei­chert. Film ist nun mal eine ein­zi­ge Erin­ne­rung an sich selbst. Nur darf man heu­te noch an die Uto­pie des Kine­ma­to­gra­phi­schen glau­ben, an jenes Poten­zi­al unse­re Wahr­neh­mung zu ver­än­dern und alles umzu­wäl­zen, uns zu erfin­den im Licht der Lein­wand oder des Lap­tops? Oder ist der Weg nach vor­ne kür­zer als der nach hin­ten und des­halb ist es das Zeit­al­ter der Zyni­ker, der nost­al­gi­schen Brü­der, die sich nicht durch ihre Welt­sicht ver­bin­den son­dern dadurch, dass sie Zynis­mus zu einer Mar­ke gemacht haben. Gibt es noch Mög­lich­kei­ten im Kino? Natür­lich! Tech­ni­sche Inno­va­tio­nen, Reak­tio­nen auf eine Welt, die sich zwar nie total ver­än­dert, aber immer­zu so tut als ob und die bereits ange­spro­che­nen Über­gangs­pha­sen, die neu­es Poten­zi­al frei­le­gen und in extrem ver­sier­ten Inter­pre­ta­tio­nen wie bei Albert Ser­ra oder in Ser­gei Loz­nit­s­as Mai­dan wir­ken bereits heu­te und deu­ten auf eine Zukunft des Kinos hin. Das Kino sta­gniert sowohl bei einem fil­mi­schen Puris­mus, der Film nur im Kino und an sei­ne ursprüng­li­che media­le Form gebun­den sieht (vor kur­zem erwisch­te ich mich in einem Gespräch dabei zu sagen, dass die ein­zi­ge mög­li­che Rebel­li­on im Kino heu­te sei, auf Film zu dre­hen) als auch bei einer for­ma­len Non­cha­lance, die sich nicht bewusst ist, was sie benutzt, um zu dre­hen oder zu pro­ji­zie­ren und die die­se Media­li­tät und Form nicht auto­ma­tisch zu einem Gegen­stand des Films oder sei­ner Aufführung/​Besprechung macht. Letz­te­res wäre eine Sache der Bil­dung und da gibt es hier­zu­lan­de und über­all extre­me Defi­zi­te in die­se Rich­tung. Selbst an Uni­ver­si­tä­ten wer­den Fil­me nach wie vor kom­men­tar­los gezeigt, um geschicht­li­che Ereig­nis­se zu ver­an­schau­li­chen. Das ist der völ­lig ver­fehl­te Turn einer Ver­gan­gen­heits­be­zo­gen­heit, weil er so tut als wür­de Film eine Welt ver­mit­teln, obwohl Film immer in ers­ter Linie sich selbst und einen eige­nen Zugang zu einer Welt ver­mit­telt. Man kann dar­aus natür­lich Infor­ma­tio­nen oder Beob­ach­tun­gen fil­tern, aber man muss sich die Arbeits­wei­se des Films bewusst machen. Wie die Sache auf Film­schu­len oder im Bereich der Film­wis­sen­schaf­ten aus­sieht wur­de an die­ser Stel­le schon häu­fi­ger skiz­ziert. Man darf davon aus­ge­hen, dass es kein grö­ße­res Inter­es­se an einem for­ma­len Zugang gibt, wenn, ja wenn die­ser nicht geschicht­lich veri­fi­zier­bar ist und man ihn in Schub­la­den ste­cken kann.

Maidan von Sergei Loznitsa
Mai­dan von Ser­gei Loznitsa

Pra­xis darf nicht mehr ein­fach nur eine Selbst­ver­wirk­li­chung sein, es muss wie­der den Idea­lis­mus einer Kino­ver­wirk­li­chung geben, die sich indi­vi­du­ell, rebel­lisch und abgren­zend ver­ste­hen darf, aber nicht nur mit dem ego­is­ti­schen Touch einer Will­kür­lich­keit argu­men­tie­ren soll­te, son­dern Fra­gen stel­len muss an das, was da getan wird und wie es getan wird. Was man braucht sind Kämp­fer für das Kino, kei­ne Poli­ti­ker, kei­ne ein­ge­bil­de­ten Ein­zel­kämp­fer oder Opfer eines kapi­ta­lis­ti­schen Über­le­bens­drangs. Das Kino braucht idea­lis­ti­sche Rea­lis­ten, die nicht zynisch sind, weil zynisch cool ist, son­dern wenn dann, weil sie es wirk­lich füh­len. Die öko­no­mi­schen Maschi­nen, die uns sagen wie ein Film aus­zu­se­hen hat, wel­cher Film bespro­chen wer­den muss und wel­cher gar nicht erst ins Kino kommt, müss­ten abge­ris­sen wer­den. Sie wer­den es nicht. Sie sind wie eine Selbst­ver­nich­tungs­ma­schi­ne. Aber ein paar Angriffs­flä­chen bie­tet jedes System.

Wo könn­te ein Umden­ken statt­fin­den? Es gibt nicht vie­le Anhalts­punk­te, aber zwei sind mir schon seit eini­ger Zeit zumin­dest als abs­trak­tes Kon­strukt bewusst. Das ers­te Umden­ken wür­de die Film­pra­xis selbst betref­fen, es geht um ein Umden­ken bezüg­lich der nar­ra­ti­ven Form. In den zahl­rei­chen Inhalt VS. Form Debat­ten, die man in Film­krei­sen führt, kom­men immer wie­der unter­schied­li­che Zugän­ge zu Begrif­fen wie „Hand­lung“ oder „Geschich­te“ an die Ober­flä­che. Ein Grund für die­se porö­sen Gren­zen ist sicher­lich die Unter­schei­dung des „Wie“ und des „Was“ bezo­gen auf den Plot eines Films. Wor­in es eine erstaun­li­che Armut gibt sowohl im Kunst­film- als auch im Main­stream­be­reich sind Ver­än­de­run­gen in der nar­ra­ti­ven Form. Wie anders ist zu erklä­ren, dass Non-Fic­tion der­zeit einen so hohen Stel­len­wert genießt als damit, dass dort neue nar­ra­ti­ve Mög­lich­kei­ten offen­bar wer­den? Wie anders ist zu erklä­ren, dass ein mit­tel­mä­ßi­ger Film wie Boy­hood von Richard Link­la­ter der­art gefei­ert wird, als damit, dass ein inno­va­ti­ver Zugang zur Pro­duk­ti­on eines Films mit einer inno­va­ti­ven Erzähl­form ver­wech­selt wird? Der Film gibt vor etwas Neu­es und Auf­re­gen­des mit der nar­ra­ti­ven Form zu machen, tut es aber nicht. Nun mag man mir sicher­lich mit eini­ger Berech­ti­gung wider­spre­chen, denn schließ­lich arbei­ten vie­le Fil­me­ma­cher immer wie­der an inter­es­san­ten nar­ra­ti­ven For­men. Genannt sei­en nur Fil­me­ma­cher wie James Ben­ning, Ser­gei Loz­nit­sa oder Clai­re Denis. Der Hun­ger, den man den­noch hat auf Ver­än­de­run­gen hängt viel­leicht mit den frü­hen Uto­pien eines Jean Epstein zusam­men. Denn dort wur­de Kino als eine Mög­lich­keit begrif­fen, die Erfah­rung der Rea­li­tät sicht­bar zu machen. Heu­te dage­gen ist der bes­se­re Film oft eine Ant­wort, ja ein Gegen­kon­zept zu die­ser Wahr­neh­mung. Die Ent­schleu­ni­gung eines Tsai Ming-liang, eines Ben Rivers oder eines Lav Diaz, die man­cher­orts unter dem Begriff Slow-Cine­ma zusam­men­ge­fasst wird (wie­der so ein Schub­la­den­den­ken), wird als Ant­wort auf unse­re Wahr­neh­mung ver­stan­den nicht als ihre Reprä­sen­ta­ti­on oder gar Rea­li­tät (dar­über ist unser Zynis­mus nun wirk­lich schon lan­ge hin­aus). Die Misch­for­men spie­len wohl eher unse­rem Zwei­fel und dem Ver­sa­gen gegen­über einer emo­tio­na­len Abbil­dung der Rea­li­tät in die Kar­ten (Stich­wort: spe­ku­la­ti­ver Rea­lis­mus), als dass sie das Kino als Mög­lich­keit ver­ste­hen. Film scheint am Limit zu sein, wenn es dar­um geht, unse­re Welt­wahr­neh­mung wie­der­zu­ge­ben. Aber ist das wirk­lich so. Vor kur­zem for­der­te unser Kol­le­ge hier auf Jugend ohne Film, Andrey Arnold in einem Gespräch einen Film, der ihm die­se Wahr­neh­mung und Welt im Face­book-Zeit­al­ter nahe­bringt. Nach eini­ger Zeit dach­te ich, dass man sich viel­leicht mit Chan­tal Aker­mans Tou­te une nuit (1982) an die­se Art der Erfah­rung her­an­ma­chen könn­te und spä­ter vie­len mir noch Micha­el Snows Pres­ents (1981) oder gar So Is This (1982) ein, alles Film die über ihre Form von einer Wahr­neh­mung erzäh­len. Also wie­der in der Ver­gan­gen­heit suchen? Genau hier wür­de ein zwei­tes Umden­ken ein­set­zen, das damit auf­hö­ren muss zu fra­gen, ob ein Film alt oder neu ist. Natür­lich spie­len his­to­ri­sche Gege­ben­hei­ten eine gro­ße Rol­le im Umgang mit Film, man kann dar­aus ästhe­ti­sche, pro­duk­ti­ons­tech­ni­sche und poli­ti­sche Rich­tun­gen erken­nen, ana­ly­sie­ren und ja, ein­ord­nen, aber für die Erfah­rung und Wahr­neh­mung des Kinos wäre es viel inter­es­san­ter, wenn man einen Film in der Gegen­wär­tig­keit sei­ner Pro­jek­ti­on oder Wie­der­ga­be betrach­tet und sich end­lich ein­ge­steht, dass das Kino, das wir heu­te sehen kön­nen nicht die Ver­gan­gen­heit sein kann. Statt­des­sen schau­en sich vie­le Zuschau­er älte­re Fil­me an, um sie mit neue­ren Wer­ken ver­glei­chen zu kön­nen bezie­hungs­wei­se um die Ent­wick­lung eines Autors nach­zu­voll­zie­hen. War­um soll­te es eine Ent­wick­lung geben? Wer sagt mir in wel­che Rich­tung sie läuft? Es gibt ein immer­zu gegen­wär­ti­ges Gesamt­werk. Epo­chen wer­den ana­ly­siert und als abge­schlos­sen betrach­tet und mehr als genug jun­ge Film­schaf­fen­de haben mir schon gesagt, dass sie sich schwer tun mit Fil­men von „frü­her“. Wie könn­te ein Medi­um über­le­ben, das sich so stark mit der Ver­gan­gen­heit iden­ti­fi­ziert, wenn von ihm eine Aktua­li­tät ver­langt wird, die es zwar immer hat, aber nie bezo­gen auf den Inhalt haben kann. His­to­ri­ker töten das Kino. Viel­mehr ist die Film­ge­schich­te doch ein Netz an Visio­nen, Inspi­ra­tio­nen und Ver­bin­dun­gen, das immer wie­der eine neue Stra­ße offen­bart und eine neue Mög­lich­keit über etwas zu erzäh­len, etwas zu beob­ach­ten oder es ein­fach nur zu lie­ben, bereit­hält. Wenn man die Ver­gan­gen­heit des Kinos als sei­ne Gegen­wart begreift, dann kann man es wirk­lich kennenlernen.

Toute une nuit von Chantal Akerman
Tou­te une nuit von Chan­tal Akerman

In die­sem Kino ist Nost­al­gie ein Gefühl, das sich im Jetzt ver­an­kert. Hou Hsiao-Hsi­en hat in sei­nem Mil­le­ni­um Mam­bo auf unfass­bar genia­le Wei­se genau die­se zeit­li­che Ver­dre­hung der Gefüh­le im Kino kom­men­tiert. Ein Sze­na­rio in der ganz nahen Zukunft wird mit dem bedau­ern­den Ton eines Flash­backs erzählt. Das Kino erzählt von der Zukunft, Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart zugleich. Das muss sich weder in exis­ten­zi­el­len Sci-Fi-Spie­le­rei­en äußern noch in gro­ßen Gefüh­len. Es darf auch eine ganz nüch­ter­ne Fest­stel­lung sein. In die­sem Kino kann es nicht die Auf­ga­be eines Film­kri­ti­kers sein, sich exklu­siv mit zeit­ge­nös­si­schen Film­pro­duk­tio­nen zu befas­sen, da es viel­leicht Fil­me gibt, die über das Hier und Jetzt des Kinos und der Welt mehr sagen als Fil­me des Jah­res 2015, die das aber gar nicht sagen müs­sen, weil sie für sich selbst viel­leicht genug sind und damit auch genug für jede Art der Ver­mitt­lung, Pro­gram­mie­rung und Bespre­chung. Ich beto­ne, dass eine öffent­li­che Bespre­chung aktu­el­ler Fil­me so oder so unab­ding­bar ist. Es ist eher eine Fra­ge des Umfangs und der Alter­na­ti­ven, aus die­ser Skla­ven­hal­tung aus­zu­tre­ten. Nun gibt es in die­ser Hin­sicht ja bereits vie­le Aus­wüch­se und ver­su­che im Inter­net. Nischen für Unbe­zahl­te, Hob­bies für Lei­den­schaft­li­che. Aber wenn die Kri­tik den Fil­men folgt, dann wer­den wei­te­re Schrit­te in die­se Rich­tung womög­lich unum­gäng­lich. Sieht man sich an in wel­cher Regel­mä­ßig­keit gro­ße Fil­me­ma­cher sich in der Zwi­schen­zeit auf ver­gan­ge­nes Kino beru­fen und dabei des­sen Unver­gäng­lich­keit beto­nen, sich sowohl for­mal als auch inhalt­lich in einem Aus­tausch mit die­sem Kino befin­den, dann wird es Zeit, dass man das weder als ver­klär­te Nost­al­gie betrach­tet noch als Roman­tik son­dern schlicht akzep­tiert, dass das Kino nur in der Gegen­wart sein kann.

Millenium Mambo von Hou Hsiao-Hsien
Mil­le­ni­um Mam­bo von Hou Hsiao-Hsien

Die­se Ver­gan­gen­heit ist kein Punkt ohne Ver­bin­dung. Ein Fil­me­ma­cher, der sich an der Ästhe­tik von Schwenks ver­sucht, kann daher nie nur in Rela­ti­on zu einem Film aus den 10er Jah­ren gesetzt wer­den. Der Schwenk hat eine Geschich­te, die kein Fil­me­ma­cher igno­rie­ren darf. Natür­lich kann nicht jeder Fil­me­ma­cher sehr vie­le Fil­me gese­hen haben und obwohl das eigent­lich ver­langt wer­den müss­te, wird er sich die­ses Wis­sen sozu­sa­gen über einen Schnee­ball­ef­fekt aneig­nen kön­nen, denn sieht er zum Bei­spiel einen Schwenk bei Vis­con­ti, bekommt er eine Ahnung eines Schwenks bei Renoir und so wei­ter. Das hat natür­lich nichts mit dem wirk­li­chen Dreh zu tun, wenn man im Wind steht, Hun­ger hat und es unheim­lich schwer ist, die Schär­fe zu hal­ten. Aber was hat einen eigent­lich dazu ver­an­lasst, einen Schwenk zu machen? Wel­chem Gefühl folgt man, wenn man sich für eine Geschwin­dig­keit und eine Per­spek­ti­ve ent­schei­det? Da wir in einer Welt leben, in der das Bild schon lan­ge die Rea­li­tät über­holt hat, beruht unse­re Seh­erfah­rung auf Bil­dern. Die Bil­der eines Schwenks, bekom­men wir am ehes­ten im Kino oder Fern­se­hen zu sehen. Selbst ein Fil­me­ma­cher wie Lisan­dro Alon­so, der sich ganz bewusst von den Orten, also der Rea­li­tät inspi­rie­ren lässt, der sei­ne Ein­stel­lun­gen mehr oder weni­ger orga­nisch aus der Welt fil­tert, the­ma­ti­siert mit einer Bestän­dig­keit die Fik­tio­na­li­tät sei­nes eige­nen Werks (ins­be­son­de­re in Fan­tas­ma und Jau­ja), dass klar sein muss, dass der Rea­lis­mus immer ein Bild ist und ein Bild kann nicht ein­fach ster­ben. Mit Leos Car­ax, der sich immer wie­der von den Ursprün­gen des Films inspi­rie­ren lässt, kann man die Welt durch die Augen des Kinos betrach­ten. Dazu muss man aber hin­se­hen, nicht zurückblicken.

Jauja von Lisandro Alonso
Jau­ja von Lisan­dro Alonso