Welche Verantwortung tragen Filmschaffende gegenüber ihren filmischen Sujets?

Einige Überlegungen zur Moral bei der Herangehensweise dokumentarischer Filmarbeiten und die dadurch entstehenden Machtverhältnisse

Duisburger Filmwoche, 11.11.2022: Das Screening zum Film Zusammenleben von Thomas Fürhapter beginnt und schon nach den ersten Minuten bemerke ich: irgendetwas stimmt nicht. Der Film nimmt uns mit in die thematischen Integrationskurse der Stadt Wien, in denen österreich-typische Verhaltensweisen behandelt, Vergleiche zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen und Themen wie Ehe, Sexualität und Tod gestreift werden. Die Kurse sollen dabei einen Raum für Austausch bieten. In den Gesichtern der Teilnehmenden, die in langanhaltenden Kameraeinstellungen eingefangen werden, erkennen wir: Konzentration, Verwirrung, Langeweile. Oder vielleicht auch etwas ganz anderes. Was der Film nämlich nicht deutlich macht: den Kontext, in welchem die Bilder, die wir sehen, zueinanderstehen. Die Dokumentation selbst ist in ihrer filmischen Form eine strenge Konstruktion, der es bereits innerhalb des Films gutgetan hätte, hinterfragt zu werden. Darauf wartet man allerdings vergebens.

Über die verschiedenen Herangehensweisen im Dokumentarfilm wurde bereits häufig diskutiert. Und doch schaffen es bestimmte Filme, diese Debatte immer wieder auf ein Neues herauszufordern. Zusammenleben ist einer davon. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Frage danach stellen, ob sich Filmschaffende auf ein behutsam zurückhaltendes, einfühlendes Beobachten beschränken sollten oder eingreifen dürfen beziehungsweise sogar müssen. Erst recht möchte ich die verschiedenen Methoden nicht gegeneinander ausspielen, eine als unzureichend abtun und der anderen einen höheren Stellenwert zuteilen. Vielmehr möchte ich mich den dahinterliegenden moralischen Fragen widmen:

  • Inwieweit kann Wirklichkeit eingefangen und wiedergegeben werden?
  • Wird die sogenannte Realität nicht vielmehr durch den subjektiven Abbildungsprozess der Filmschaffenden miterzeugt?
  • Inwieweit entsteht ein Machtgefälle, begründet im Handlungsspielraum der Filmschaffenden und der Handlungsohnmacht der gezeigten Personen?

Bevor ich auf den eingangs genannten Film zurückkomme, möchte ich ausgehend von diesen Fragen etwas aus meiner Sicht Grundlegendes festhalten: Ein Film stellt immer eine subjektive Sichtweise auf etwas dar und vermag daher kein objektives Gesamtbild greifen, erst recht keine Wirklichkeit wiedergeben. Die Auswahl des Filmmaterials, der Kameraeinstellungen, der gefilmten Motive und Personen, des Schnitts etc. beruhen auf einer Vielzahl von Entscheidungen, die in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft, den alltäglichen Erfahrungen sowie emotionalen Entscheidungen der Filmschaffenden zu betrachten sind. Folglich ist alles, was von einem vermeintlich neutralen, abbildenden Blick der Kamera eingefangen wird, letztlich auf einer subjektiven Ebene von den Filmschaffenden mitkonstruiert. Nicht zu vergessen, dass die bloße Anwesenheit einer Kamera bereits eine veränderte Situation schafft, wodurch das Gefilmte zumeist schon maßgeblich mitbestimmt wird.

Zusammenleben sei ein Film, in welchem man den Menschen beim Denken zusehen könne, so die einleitenden Worte des Moderators Sven Ilgner in der Podiumsdiskussion. Der Film nimmt sich einer Reihe von Porträtaufnahmen an und versucht, in beobachtenden Einstellungen und langatmigen Kamerafahrten durch die Flure der Institution, die Vielfalt und Individualität der Kursteilnehmenden einzufangen und ein Bild über die Institution zu kreieren. Doch was ich sehe, ist kein vielseitiger Kamerablick auf die individuellen Teilnehmenden. Es ist vielmehr eine filmische Form, der man zusieht, eine Konstruktion, die weder etwas über die zu sehenden Menschen noch über die Struktur selbst erzählt. Jeder Blick scheint eine im Schnitt entstandene Konstruktion zu sein. Der Film lässt auch sonst keine Möglichkeiten eines anderen Blickes zu und verharrt stets in der einseitigen Blickrichtung. Auch die Kursteilnehmenden selbst kommen nicht zu Wort, wodurch sich die strukturelle, formale Kameraführung nicht nur gegen den Versuch eines umfassenden Einblicks in die Institution, sondern auch gegen die Teilnehmenden selbst wendet. 

Wohin also mit den Bildern, die uns hier gezeigt werden?

Ich frage mich, inwieweit im Vorfeld eine Auseinandersetzung mit der Thematik und den Kursen stattgefunden hat. Das Format der Integrationskurse bedingt bereits die Reproduktion stereotyper Darstellungen, in dem die migrierten Personen sich wie Schüler:innen belehren lassen, nichts entgegnen und selbst kaum zu Wort kommen. Die gewählte filmische Form setzt dem nichts entgegen – die ohnehin mit Klischees besetzten Bilder werden weder kommentiert noch eingeordnet. Besonders in dem Aspekt des Blicks auf das Fremde, auf die anderen, besteht das Stereotype in diesem Film. Das deutsche oder österreichische Publikum schaut zusammen mit Fürhapter auf die „Migranten“, schmunzelt vermutlich an der ein oder anderen Stelle über die kulturellen Unterschiede und Integrationsschwierigkeiten, während sich die porträtierten Menschen nicht äußern können, wir sie nicht kennenlernen. Der Film schlägt damit keine Brücke zu den gezeigten Menschen, sondern lässt eine Wand zwischen „uns“, der Kamera und „den anderen“ stehen. Die distanzierte Kamera schafft es nicht, die Oberfläche zu durchbrechen und bietet damit lediglich einen Nährboden für Missverständnisse.

Worum es mir an dieser Stelle geht, ist die Verantwortung, welche Filmschaffende gegenüber den Menschen, die sie zeigen, tragen. Bei diesem Film fehlt es an jeglicher Verantwortung seitens des Filmemachers. So stellt sich auch die Frage, an wen der Film gerichtet ist. Es ist ein rein formaler Blick auf die Kurse, ohne diese in einen Kontext zu setzen. Das spiegelt sich auch in der Tatsache, dass der Film weder Aussagen über den Grund für die Kurse oder die Hintergründe der Teilnehmenden trifft noch sich zu der Situiertheit der Filmschaffenden positioniert oder die Form selbst reflektiert. So scheint es auch nicht allzu verwunderlich zu sein, dass dem gesamten Dreh ein grundsätzliches Machtgefälle unterlag. Denn der Regisseur habe nach eigener Aussage die Kurse aufgrund der unterschiedlichen Sprachen selbst nicht verstanden. Fürhapter habe sich, wie er selbst sagt, für den Diskursraum zwischen Institution und Kursteilnehmenden interessiert. Dieser Diskursraum kommt in dem Film allerdings nicht zustande. Die filmische Form konstruiert ihren eigenen Diskurs und bleibt dabei nur bei sich, ohne das dahinterstehende Gerüst zu beleuchten. Die Annäherung an porträtierte Sujets in Form des Direct Cinema kann funktionieren. Es bedeutet aber nun mal nicht nur mit der Kamera auf etwas draufzuhalten. Die Frage sollte also nicht sein, ob die Filmtechnik es ermöglichen kann, die Oberfläche einer Thematik zu durchstoßen und tieferliegende Zusammenhänge sichtbar und erfahrbar für die Zuschauenden zu machen, sondern wie sie das umsetzt. Tatsache ist doch, dass sich in dem Endprodukt immer die Vorgehensweise, wie sich Filmschaffende den Menschen annähern, widerspiegelt. Damit meine ich die Recherche zu dem filmischen Thema, aber auch Gespräche und die Auseinandersetzung mit den Menschen, die gezeigt werden. Dabei sollte auch die eigene Subjektivität in den Kontext der Arbeit gestellt sowie die Entstehung des Films in seiner Prozesshaftigkeit begriffen und innerhalb der filmästhetischen Form thematisiert werden.

Von Laura Baumgardt

Dinge mit Sinnen in den Filmen von Jacques Tati

Ein Fahrrad allein in Jour de fête

von Ivana Miloš

Die Menschen auf ihren Fahrrädern, weshalb erscheinen sie so rätselhaft? Die Fahrräder, was macht sie so faszinierend im Vergleich zu anderen Transportmitteln, die nicht derart geliebt werden? Vielleicht hat es mit ihrer fortlaufenden Bewegung zu tun, dem unbeirrbaren Drehen dieser beiden Räder – schnell genug, um uns weiter und vorwärts zu bringen und doch gerade langsam genug, um gesehen zu werden bei ihrem Drehen, Drehen, Drehen. Oder hängt es mit dem am Rad klebenden Freiheitsgefühl zusammen, einem Gefühl für Bewegung jenseits der Verbote, des Verkehrs, der Straße, jenseits von allem eigentlich. Oder es geht um diese Frage, die manche Objekte ganz besonders aufwerfen: Lebt es ein eigenes Leben, wenn wir nicht hinschauen? Was auch immer stimmen mag, das Fahrrad ist erfüllt von Magie. Deshalb sollte es kaum überraschen, dass es in der Lage ist, ganz von sich alleine zu fliehen wie in Jacques Tatis wundervollem Jour de fête. Zunächst scheint sich das Fahrrad des Briefträgers, also Tatis, mit einem fahrenden Lastwagen zu verkeilen und so in Bewegung versetzt zu werden – aber dann, nach einer scharfen Kurve, haut es ab mit drehenden Pedalen, eine Landstraße hinab, ganz allein. Einige Ziegen werfen diesem rasenden Rahmen auf zwei Rädern einen fragenden Blick zu. Tati versucht es einzuholen, aber es würde ihm nie gelingen, würde das Fahrrad nicht entscheiden anzuhalten, erneut ganz von sich allein. Selbstredend markiert diese Szene nur einen Beginn von Tatis lebenslanger Faszination für Dinge, die den Menschen entwischen. Dinge, die ihre Fesseln lösen, die ihr eigenes, oftmals haarsträubendes und lächerliches Leben führen. Nur ist das Leben der Dinge auf ewig mit dem ihrer Hersteller verbunden und so kann man nicht anders, als sich beim Beobachten dieses elegant fliehenden Fahrrades an Elizabeth Wests berühmten Spruch zu erinnern: „Der Fortschritt hätte haltmachen sollen, als der Mensch das Fahrrad erfunden hatte.

Aus dem Englischen von Patrick Holzapfel

Knautschmaterialien in Playtime

von Patrick Holzapfel

Kein Material ist geeigneter für einen, der sich über die Welt wundert, als das Knautschmaterial. Was soll das sein, werden manche fragen und ich kann hier nicht mit wissenschaftlichen Antworten dienen, werde aber dennoch versuchen, etwas über diese Stoffe zu verstehen , die man zerdrücken, quetschen, eindullen, kneten oder knautschen kann und die sich dann, sobald man von ihnen ablässt, einem für mich schwer nachvollziehbaren inneren Drängen nachgebend, langsam, mit der unbeirrbaren Bestimmtheit physikalischer Bewegungen zurück in ihre ursprüngliche Form begeben.

Ich erinnere beispielsweise die unendliche Faszination, die mich als Kleinkind überfiel, wenn ich diese perfekt runden, so offensichtlich eindrückbaren Membranen in den Lautsprecherboxen meines, seine Boxen über alles liebenden, Vaters erblickte. Nichts sehnlicher wollte ich, als mit meinen kleinen Fingern in diese weichen, glatten Membranen zu drücken, die sich bewegende Luft unter der samtenen Oberfläche zu spüren, geradezu einzudringen, in die mir unbekannte Welt hinter dem matten Schwarz, aus dem die aufregenden Töne kamen, um dann zu beobachten, wie diese Stoffe zurück in ihre perfekt runden Formen ploppen. Leider stellte sich das Ploppen nicht immer ein und so wurde mir, der ich die ein oder andere Membran zu tief eindrückte, verboten, auch nur noch in die Nähe dieses Knautschmaterials zu krabbeln. Gut, dass es für derlei bisweilen vergessene Freuden einen Filmemacher gibt, der sich weiter gewundert hat, dem es gelang, der Welt noch so zu begegnen, als würde er nicht alles begreifen oder begreifen wollen, sondern so, als wäre er ein Fremder oder tatsächlich ein Kind geblieben. Einer, der etwas Knautschendes aufspürt und dessen Bewegungen dann folgt wie die Katze einer Fliege.

In Playtime verbindet dieser Jacques Tati, von dem hier die Rede ist, die Verwunderung, die manchmal einer Verzauberung, manchmal einem Albtraum gleicht, mit der sogenannten technischen Moderne. Er treibt die Entfremdung des Menschen von den Dingen, die ihn umgeben, auf die Spitze. Da gibt es zum Beispiel einige High-Tech-Sessel in einem Glaszimmer. Tati oder sein Alter Ego traut diesen kleinen Designerobjekten nicht wirklich. Er tastet das, unter Druck nachgebende, Material ab, bevor er sich äußerst zögerlich auf einen der Stühle setzt und sofort bemerkt, dass er tiefer im Sitz einsinkt, als er erwartet hatte. Er steht wieder auf und betrachtet die Spur seines Sitzens, einen runden Abdruck im verformten Sessel, der sich mit einem plötzlichen Ploppen zurück in seine geglättete Form begibt. Tati versucht sich noch an einem anderen Stuhl. Er zerdrückt die Lehne, setzt sich, steht auf und schaut wie das Material zurück in die ursprüngliche Form springt, nur ganz ploppfrei diesmal, ganz still, was der Albernheit dieser Bewegung erst die komische und kosmische Leere überträgt. Die Stille dieses Raumes im Vergleich zur lärmenden Straße, von der aus Tati in Zwischenschnitten in Ton und Bild immer wieder auf diese Interaktion mit den Sesseln blickt, verstärkt diese herrlich sinnlose Bewegung des Knautschmaterials, die letztlich, wenn man für solche Gedanken empfänglich ist, hinterfragt, was wir da eigentlich tun, wenn wir Stühle oder andere Objekte entwerfen, die sich verformen und in Glaszimmern stehen. Man wundert sich und stolpert weiter, immer hoffend, dass irgendwann alles wie von selbst zurück in die ursprüngliche Form springt.

Alles blitze blank in Trafic

von Ronny Günl

Die Autos in Jacques Tatis Trafic müssen glänzen, sonst werden sie übersehen. Ein eifriger Mitarbeiter wedelt beim Aufbau der Karosserienschau jede hartnäckig verbliebene Staubfluse von der Motorhaube. Keine Spur soll verraten, dass dieses Fahrzeug mehr als reines Anschauungsmaterial sein könnte. Den dafür verwendete Wischmopp – man sollte eher Wisch-Mops sagen – will die Kamera für einen Augenblick mit dem zotteligen Havaneser der nervösen PR-Managerin verwechselt haben. Später im Film wiederholt sich die Verwechslung, nur weitaus morbider, als der Pelzmantel der Hippies, die sich einen Streich erlaubten, ebenfalls für das vermeintlich überfahrene Hündchen gehalten wird. Tati streift sich die Hundeattrappe über, eigentlich um den bitteren Scherz aufzulösen, doch die Nerven der Frau liegen nun gänzlich blank. Arme Hunde, man will euch wie Menschen behandeln.

Für einen Moment abgelenkt, nicht nur vom hastigen Vorbeifahren der PR-Dame, sondern vielleicht auch von der polierten Oberfläche ihres Sportwagens, kommt der Wachtmeister auf der Kreuzung ins Taumeln. Unausweichlich folgt der große Crash. Seinen absurden Hergang kann man wohl kaum rekonstruieren. Aber hätte ein bisschen Dreck auf dem Lack schlimmeres verhindert? Schöne Autos schinden Eindruck, lassen sich die Show nicht stehlen. Aber gut geputzt, werden die Boliden letztlich zu Blendern im Sonnenlicht. Der Lack zeigt sich als Reflexionsfläche und die Sicht auf die Fahrbahn wird zum strahlenden Hindernis.

Im Kino sind Autos oft ein wenig zu übermütig unterwegs, knattern gern etwas zu laut. Der Fußgänger und Hundefreund Tati kann seine Abneigung gegenüber dem flotten Verkehr kaum verstecken. Erst als zerdellte und verbeulte Blechteile mit hüpfende Reifen wollen sie ihm gefallen. Eine verspielte Abrechnung, glücklicherweise ohne ernsthaften Schaden.

Unbemerkt fällt beim Ausstellen des Schecks für die Reparatur schließlich ein Tropfen Tinte aufs Brillenglas, der die gestresste Frau nur noch Flecken in der Gegend wahrnehmen lässt. Kein seltenes, aber bedenkliches Symptom unter hoher Belastung. Der Putzwahn ist vorprogrammiert. Zwar wird die Irritation mit einem Schmunzeln weggewischt, aber trotzdem munter weitergewienert was das Zeug, beziehungsweise der Lack aushält. Auch Tati hilft fleißig mit. Anstatt Billigung der Umwelt, gilt so vielleicht die Reinlichkeit der Autos – eher als Drecksschleudern verrufen – viel mehr als Hybris der Menschen, die überall nur noch Verschmutzungen sehen können. Wer eine saubere Haube vorzuweisen hat, provoziert wenigstens keine unangenehmen Fragen. Doch am Ende besitzt wahrscheinlich jeder seine eigene Oberfläche, die tunlichst vor Verunreinigungen beschützt werden soll, sei es ein Auto, eine Brille, oder ein Bildschirm. Was würden die Hunde dazu sagen?

Nahe Ferne: Mythos und Mystik im Kino bei Music von Angela Schanelec

Auftreten: Manchmal geht man ins Kino und denkt sich nicht viel dabei. Ein andermal vielleicht, weil man gerade sehr viel nachdenkt und vergessen will. Oder aber auch, weil man nicht weiterkommt und dringend eine Antwort benötigt. Wahrscheinlich kann ein Film all das hergeben, aber am Ende auch nur unter der Bedingung, das Gezeigte wieder zurückzunehmen und vergessen zu lassen. Demgegenüber haben womöglich Angela Schanelecs Filme deshalb eine so unwirkliche Bedeutung, weil sie die Sehnsucht, die das Kino verspricht einzulösen, auf Distanz halten. Nicht weil Bilder oder Worte im Kino automatisch darauf hindrängen würden, leicht verträgliche Antworten nach den Bedürfnissen des Publikums zu vergeben, sondern eher, weil die Menschen, für die sich Schanelec interessiert, zwischen Hoffnungsschimmer und Schicksalsergebenheit zerrissen sind. So bewegen sich ihre Figuren durch urbane und rurale Landschaften, als zöge sie etwas Unbestimmtes an. Kaum setzen sie einen Fuß auf den Boden, erfahren sie durch ihr Eigengewicht von der Schwerkraft ihres Tuns. Willkür oder Wahlfreiheit scheinen kaum zu existieren, stattdessen überwiegen Stetigkeit und Komplexität. Bei Schanelecs Filmen handelt es sich um konsequente Filme im doppelten Sinne. Tugendhaft bescheiden sie sich auf wenige filmische Mittel, doch anstatt zu verstummen, dringt eine Stimme hervor, die tonangebend nach dem »Weil« in der Welt mit dem Blick des Kinos fragt.

Setzen: Schanelecs Film Music führt diesen eingeschlagenen Weg weiter und verengt ihn durch außergewöhnliche Präzision. Der Film beginnt mit einer Gewitterwolke, die grollend über einen Bergrücken zieht. Wenig später wird ein Kind gefunden. Als wäre nur ein Augenblick vergangen, folgt der Film dem erwachsen gewordenen Waisenkind Jon. Ein Unfall, ein Selbstmord und ein erneuter Unfall reihen sich aneinander, dazwischen zärtliche Blicke im Gefängnis. Während Jon seine Strafe für das Unglück absitzt, lernt er die Aufseherin Iro kennen. Sie kommen sich näher. Doch Iro wird herausfinden, dass sie sich schon vor ihrer Liebe zueinander nah standen. Nachdem sich Iro dessen klar wird und sich ihr Leben nimmt, findet sich der Film in Berlin wieder. Zwar müssen Jahre vergangen sein, aber die Vergangenheit scheint immer noch an Jon zu haften. Das Geschehen des Films löst sich in einzelnen, kraftvollen, monolithischen Bildern auf. Meistens sind es Hände oder Füße, die vom Blick der Kamera umschlossen, nicht nur dem Eigensinn des Films folgen, sondern auf etwas darüber hinaus liegendes verweisen. Fugenhaft zersprengt fügen sie sich aber trotzdem frei von effekthaschendem Erzählen zu einem Ganzen zusammen. Nimmt man beim Sehen die Perspektive ein, gleichzeitig nach vorn und zurückblicken zu können, ließe sich erkennen, wie jedes Bild aus dem anderen hervorgeht. Wie vom fließenden Wasser getragen, führt ein Bild des wunden Kinderfußes, zum wunden Fuß des erwachsenen Jon am Meer, hin zum wunden Fuß in der Gefängnisdusche. Schanelec entwirft so eine großangelegte Bewegung, die detailversessen in jedem Blick die Richtung aufsucht, ausweist und jener unhintergehbar folgt.

Binden: Mit dem Gewitter, den Unfällen und dem Aufeinandertreffen zweier Menschen, die sich nicht kennen, obwohl sie einander nicht fremd sind, geht Music vom Zufall aus. Doch anstatt sich über das Eintreten der unerwarteten Möglichkeit zu wundern, erkennt der Film die Ereignisse nur nüchtern an. Vielleicht macht sich der Film gerade dadurch die Unabwendbarkeit des Geschehens stoisch bewusst. Dass sich Schanelec am Ödipus-Mythos bedient, indem sie unverkennbare Motive und Figuren in ätiologischer Weise, aufgreift, wie etwa Jons wunden Fuß, macht den Film aufschlussreich, aber nicht unbedingt einleuchtend. Insofern muss der Film vielleicht eher als eine Meditation verstanden werden, deren Inhalt sich nicht nur auf antike, sondern ebenso christlich-abendländische Mystik bezieht. Beides verbindet sich in der Suche nach dem Auskommen mit einer zugeführten Wunde. Sie lässt sich verbinden, doch ihre Ursache kann dadurch nicht verschwinden. Was Schein und was wirklich ist, gerät allerdings zunehmend durcheinander. So sitzt Jon auf einer Berliner Polizeiwache, als er plötzlich blitzartig von einer Erkenntnis getroffen wird. Worauf seine Eingebung zielt, lässt sich nicht versprachlichen. Ob es sich um einer Vision oder eine Einsicht handelt, wird der Film nicht beantworten, weil es das Kino nicht beantworten kann. Schanelecs Kino eröffnet hierbei konzentriert den unverstellten Blick auf die eigenen Wunden, die sich einerseits unmittelbar auf der Haut, und andererseits weit in der Vergangenheit befinden. Dass sich die Ursache der Wunden nicht restlos verstehen lässt, muss erst zur Bedingung werden, um mit ihnen leben zu können.

Sehen: Eine Sache lange zu betrachten, hat seine Tücken, denn irgendwann bildet man sich ein, die Dinge könnten zu einem sprechen. Oftmals verharren Schanelecs Einstellungen so, als würde ein Gedanke stehen bleiben, so wie man selbst manchmal mit starrem Blick innehält. Folgt man Ödipus ins Kino, müsste man jedoch mit dem zwanghaften Versuch, klarer sehen zu wollen, paradoxerweise erblinden. Das Kino kann aber nicht blind machen. Vielmehr verspricht es, sogar dann etwas sehen zu können, wenn es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt. Wie in Schanelecs Bildern stellt sich so eine Aporie ein: Nach einem Bild zu suchen, das nichts zeigt, klingt absurd, und trotzdem ist diese Suche nicht zwecklos – Wenn wir die Augen verschließen, verdrehen oder uns abwenden. In diesem Fall sind es Momente, in denen die persönliche Verbindung zum Kino klarer wird. – Wenn wir etwas gesehen haben, was uns gefiel oder verärgerte, das aber niemand sonst bemerkte. Beim Kino handelt es sich zwar um einen Raum, der Platz für eigene Gedanken bietet, sie lassen sich aber dort nicht aufbewahren. So wie man seinen eigenen Kopf mitbringt, muss man auch denselben wieder mit nach Hause nehmen. In dieser Hinsicht mag die Vorstellung, vom Kino erleuchtet zu werden, indem man nur noch ganz Auge ist und seinen Kopf verliert, erleichternd und befreiend sein. Aber die Geschichte der Mystik lehrt, dass sich dieses Ziel allein mit größter Entsagung verwirklicht. Diese Absicht ließe sich Music vielleicht unterstellen. Der Mythos spricht dafür ebenso wie die Armut an Ornament. Doch dem Film schwebt dabei nichts unmittelbar Kosmisches oder Schicksalhaftes vor, denn genauso wenig, wie sich etwas aus dem Nichts für Jon ergab, führte er eine Änderung herbei. Der Film versucht vielmehr den Blick auf das »Weil« – die Verkettung des Geschehens – einzuüben, ohne gegen seinen Widerstand – die Willkür – anzuarbeiten. So verhält sich gerade die Musik im Film weder als klanglicher Teppich noch als Kontrapunkt. Vielmehr verleiht sie dem wortkargen Film seine Stimme, sie stößt ihn an. Vielleicht gibt sie ihm sogar sein Licht. Und wahrscheinlich wird erst mit dem Verklingen des letzten Bildes wirklich begreifbar, was die ganze Zeit zwar sichtbar war, aber sich nicht sehen ließ. Es gibt eine spürbare Parallele zwischen Film und Musik, in der Weise wie am Ende die Kamera in einer langen Parallelbewegung den singenden und tanzenden Menschen auf der anderen Seite des Flusses folgt.

Man könnte denken und hoffen, der Film würde eine greifbare Antwort bereithalten, worin diese Parallelität besteht. Dabei müsste man sie sich aber vielleicht gerade in der Uneindeutigkeit und Unschärfe einer nahen Ferne vorstellen: Was Parallelität bedeutet, lässt sich zwar einfach erklären, aber dass sich zwei Sachen wirklich nie treffen werden, weil sie immer gleich nah und fern sind, traut man sich nicht vorstellen. Gleichsam ermüdend ist es, immer nur zu benennen, was unsichtbar oder unerklärlich – kurz: abwesend – blieb. Film und Musik können helfen, sich daran anzunähern, aber auch nichts ungeschehen machen. Das wäre Hybris.

Regenvermesser: Ein Gespräch mit Meteorologe Alexander Orlik

von Patrick Holzapfel

Träumt man von Regen und Nebel legt sich ein Schleier über die Wahrnehmung, der verdeckt, dass es diese Nässe wirklich gibt. Zu betörend ist das Plätschern, zu verführend die Undurchdringbarkeit der Luft. Man wird zwar ziemlich sicher an die Wirklichkeit dieser unwirklichen Phänomene erinnert, wenn man beim nächsten Mal auf dem Fahrrad sitzend von einem Gewitter überrascht oder in der Stadt von vorbeifahrenden Autos nassgespritzt wird, aber selbst dann erfährt man eigentlich erst vom Regen, wenn er auf den Boden fällt. Wie der Regen aber Regen wird und wie man mit dem Regen arbeitet, erzählt der Meteorologe Alexander Orlik vom staatlichen meteorologischen und geophysikalischen Dienst Österreichs bei einer Tasse Tee am Telefon. Während wir sprechen hängen dichte Wolken am Himmel, in ihnen arbeitet eine kleine Welt, die wir nicht sehen können.

Patrick Holzapfel: Vielleicht können Sie am Anfang kurz schildern, wie ihre konkrete Arbeit aussieht?

Alexander Orlik: Ich bin Meteorologe an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik. Meine Aufgabe ist das Monitoring des Klimas, also das aktuelle vergangene Wetter zu dokumentieren und in einen Kontext zu bringen mit dem Klima, das in Österreich vorherrscht. Ich schreibe Monatsberichte für die Öffentlichkeit und gebe zum Beispiel Auskünfte über ungewöhnliche Wettersituationen wie den warmen Februar oder wenn es einen Sturm gibt. Außerdem erstelle ich Wetterdaten für Behörden, zum Beispiel, wenn es darum geht, ob es Glatteis gegeben hat und ein Sturz deshalb passierte und so weiter.

Seit wann machen Sie das?

In dieser Abteilung arbeite ich seit 2009. Davor war ich in der Klimaforschung und habe mich unter anderem mit der Digitalisierung und Ordnung von Daten aus dem 18. oder 19. Jahrhundert beschäftigt, sodass man die noch vergleichbar machen kann.

Ich würde mich gern ein wenig über Regen mit Ihnen unterhalten. Ich weiß, dass ich darüber in der Schule gelernt habe, aber das Meiste habe ich wieder vergessen. Daher will ich zunächst einmal wissen: Wie entsteht Regen?

Die einfache Antwort, die man in den allgemeinen Lehrbüchern findet, sieht so aus: Die Atmosphäre enthält prinzipiell gasförmigen, nicht sichtbaren Wasserdampf. Der kommt von der Feuchtigkeit der Landoberfläche oder aus dem Meer. Der Wasserdampf vermischt sich mit der normalen Atmosphäre und wenn eine bestimmte Temperatur unterschritten wird, kondensiert dieser Wasserdampf wieder zu kleinen Tröpfchen. Dann wird es meistens eine Wolke oder Nebel geben. Wenn die Wassertröpfchen groß genug werden in einer Wolke, dann fallen sie zu Boden und dann hat man den Regen.

Und was ist entscheidend, wenn es darum geht, ob es Regen oder Nebel gibt?

Wir sprechen da von der relativen Luftfeuchtigkeit, die von 0 bis 100 Prozent gehen kann. Es kann kein Wasserdampf in der Atmosphäre sein, was so eigentlich nicht vorkommt auf der Troposphäre (der untersten Atmosphärenschicht) und mehr als 100 Prozent kann es eigentlich nicht werden. Das hängt aber nun an der Temperatur. Bei 0 Grad wären 100 Prozent viel weniger Wasserdampf in der Atmosphäre als bei 30 Grad zum Beispiel. Es gibt da aber keinen linearen Zusammenhang. Sagen wir mal es sind circa 10 Gramm Wasser in der Atmosphäre pro Kilogramm Luft. Bei 20 Grad wären das dann nicht 20 Gramm, sondern etwas mehr. Das steigt exponentiell. Je höher die Temperatur ist, desto mehr Wasserdampf kann aufgenommen werden.

Jetzt nehmen wir mal einen Herbsttag, wenn die Luftfeuchtigkeit in den Bodenschichten zu steigen beginnt. Dann wird bei einer Temperatur von circa 5 Grad eine Sättigung eintreten, in der kein Wasserdampf mehr aufgenommen werden kann und durch den überschüssigen Wasserdampf entstehen kleinste Wassertröpfchen, die haben einen sehr kleinen Durchmesser, da reden wir von einem Hundertstel oder Tausendstel Millimeter Durchmesser. Diese vielen kleinen Tröpfchen machen dann eben den Nebel aus. Und wenn die Tröpfchen eine gewisse Größe bekommen, indem sie zusammenwachsen durch Stöße in den Nebelwolken, dann hat man diesen klassischen Sprühregen oder zumindest nässenden Nebel.

Und wie entsteht ein heftiger Schauer zum Beispiel?

Der richtige Niederschlag entsteht über Umwege. Diese Art von Niederschlagsbildung ist sehr ineffizient. Man kann das bei vielen entstehenden Wolken beobachten. Durch die Abkühlung in der Atmosphäre kondensiert der Wasserdampf und es entstehen die Wolken, die aber eine sehr kleine Tröpfchengröße haben und deshalb nicht zu Boden fallen können. Die schweben in der Atmosphäre herum und wenn dann trockene Luftmassen kommen, dann lösen sie sich wieder auf.

Für einen richtigen Niederschlag gibt es mehrere Möglichkeiten. Gehen wir mal vom schauerartigen, gewitterartigen Regen aus. Es ist so, dass es in der Atmosphäre auch eine Vertikalbewegung gibt. Durch die starke Sonneneinstrahlung werden die Bodenschichten sehr stark aufgeheizt, was nicht überall gleichmäßig passiert. Manche Regionen werden stärker erwärmt, zum Beispiel über einem recht dunklem Boden. Da löst sich eine relativ große Luftblase vom Boden ab und steigt mit der Thermik, weil sie wärmer ist als ihre Umgebung, nach oben. Diese Luftblase enthält wiederum Feuchtigkeit als Wasserdampf. Im Aufsteigen kühlt sich die Luftblase ab, ist aber immer noch wärmer als die Umgebungsluft. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Sättigung eintritt. Dadurch entstehen dann Wassertröpfchen in der Atmosphäre. Das alles kann nur passieren, weil die Luft nicht absolut rein ist. Staubpartikel, Pollen, Salz, Aerosole auch in flüssiger Form etwa beim Meer und daran können sich diese Nebel- und Wassertröpfchen erst anhaften. Dort beginnt erst die Kondensation, also wenn wir eine ganz reine Luft hätten, die nur aus Sauerstoff, Stickstoff, Kohlendioxid und anderen Spurengasen bestehen würde, bräuchte es eine viel höher Luftfeuchtigkeit, circa 400 Prozent, damit überhaupt eine Kondensation entsteht.

Beim Kondensieren wird noch eine potenzielle Energie frei. Die Energie, die gebraucht wurde zum Verdunsten des Wassers aus der Oberfläche, ist sehr hoch. Wenn es nun zur Kondensation kommt, kriege ich diese Wärme wieder zurück. Man nennt diese Wärme „latente Wärme“. Das wärmt dieses Luftpaket noch mehr auf und es bleibt wärmer als die Umgebung. Da entstehen dann die klassischen großen Quellwolken, die man vor einem Gewitter sehen kann. In solchen Wolken passiert sehr viel. Sie steigen in große Höhen auf, es wird immer kälter, auch unter 0 Grad, je nachdem wie rein die Luft ist, aber das heißt nicht, dass die Wassertröpfchen gefrieren. Es entstehen einzelne Eispartikelchen in der Wolke und relativ schnell gefrieren dann alle Wassertröpfchen und werden zu Eiskristallen. Je mehr Eiskristalle da sind desto eher finden die unterschiedlichen Wassertröpfchen einen Eiskeim, an den sie sich anhaften können. Da gibt es ein sehr schnelles Wachstum der Niederschlagspartikelchen. Daraus entsteht dann ein richtiger Motor, der das ganze am Leben hält. Von unten gibt es Nachschub von kalter Luft und die Eiskristalle werden immer größer bis sie zu schwer sind und nach unten fallen.

Dieser Prozess kann mehrmals durchlaufen werden. Das ganze fällt relativ lange als Schnee nach unten und unter einer gewissen Seehöhe ist es wieder so warm, dass es dann als Regen herunterkommt.

Gibt es da in den letzten Jahren Veränderungen was Niederschlagsmengen und so weiter betrifft?

Ich kann das nur für Österreich sagen. Bei den Gesamtjahresniederschlägen gibt es in allen Regionen Österreichs kaum einen Unterschied in den letzten Jahrzehnten. Was sich aber im selben Zeitraum verändert hat, ist die Lufttemperatur. In Österreich ist das Jahresmitteln in den letzten 40-50 Jahren um circa 2 Grad wärmer geworden. Das beobachten wir vor allem im Sommer und im Frühling. Das erwähne ich besonders, weil es im Sommer die höchste Verdunstung gibt. Wenn es also bei hohen Temperaturen relativ lange Zeit nicht regnet, verdunstet viel Feuchtigkeit aus den Böden heraus und macht es auf diese Art sehr trocken. Es gibt nicht weniger Niederschlag, aber eine höhere Verdunstung.

Wenn man die Einzelniederschlagsereignisse betrachtet, also zum Beispiel Starkniederschlagsereignisse, wie man das in Kärnten und Osttirol im November beobachten konnte, als es Rekordniederschlagsmengen gegeben hat, ist es recht schwer zu sagen, wie sich das verändert hat. Das gilt allgemein für Gewitter, weil das Messnetz nicht so dicht ist, dass man alle dieser relativ kleinräumigen Ereignisse erfassen kann. Die Stationen stehen nicht so dicht, dass jedes Gewitter in seinem vollen Umfang erfasst wird. Hinzu kommt, dass diese Niederschlagsereignisse oft nicht sehr lange dauern. Es ist erst seit der Automatisierung möglich die Niederschlagsmenge minütlich zu messen. Vorher war das nur zweimal am Tag. Daher kann man das nicht vergleichen.

Können Sie ein bisschen mehr darüber erzählen wie der Niederschlag gemessen wird, vielleicht auch im Hinblick darauf wie sich das mit digitalen Methoden verändert hat?

Das Prinzip ist immer gleichgeblieben. Man hat einen Regenkübel, der einen bestimmten Durchmesser hat. Dieser Kübel ist aus Metall, die Wände gehen senkrecht nach unten und wenn es regnet, fällt durch die Öffnung Niederschlag. Eigentlich ist es egal wie groß dieser Kübel ist, weil nur auf dieser Fläche wird die Niederschlagsmenge herausgenommen. Wenn die Wände senkrecht sind, ist die Höhe, die vom Boden aus gemessen wird, exakt zur Bestimmung geeignet. Wenn dort das Wasser 1mm hoch steht, hat es eben 1mm geregnet und 1mm bedeutet, dass genau 1 Liter am Quadratmeter gefallen ist. Man könnte das auch mit einem Bierglas messen.

Früher wurde dieses Wasser aufgesammelt und zweimal am Tag abgelesen. Heutzutage folgt man dem gleichen Prinzip. Es gibt immer noch diesen Regenkübel, aber es gibt zwei digitale Möglichkeiten jetzt. Die eine ist etwas älter. Dabei ist unten am Kübel ein Trichter und an dessen Auslauf ist eine Wippe. Diese Wippe hat links und rechts einen kleinen Auffangbehälter und wenn da eine bestimmte Menge reinfällt, dann schlägt diese Wippe um. Und diese Ausschläge ermöglichen eine digitale Messung, die zählt wie oft die Wippe hin und her wippt und daraus kann man schließen wie groß die Regenmenge war in einer bestimmten Zeiteinheit. Dabei kann man auch in kurzen Intervallen messen. Diese Methode hat den Nachteil, dass sie bei ganz starken Niederschlägen oft nicht nachkommt und dass man sie beheizen muss, weil Schnee nicht durch den Trichter gelangen würde.

Bei der modernsten Methode steht der Kübel auf einer hochpräzisen Waage. Diese misst die Massendifferenz. Die Verdunstung ist auch kein Problem, weil einfach alles was hinzukommt, gemessen wird und das ist eben der Niederschlag. Dann gibt es auch noch ein zweites Messgerät für den Niederschlag. Und zwar geht es da um ganz schwachen Regen. Es kommt vor, dass man da weder bei der Wippe noch bei der Waage merkt, dass es überhaupt regnet. Man weiß dann auch nicht, wann es zum Beispiel angefangen hat zu regnen. Dafür gibt es ein anderes Gerät, das erkennt, wenn Niederschlagsteilchen herunterfallen. Dadurch können wir bestimmen, ob es Niederschlag gibt oder keinen Niederschlag, wann es angefangen hat, wann es aufgehört hat und so weiter.

Wenn ich Ihnen zuhöre, höre ich viele verschiedene Begriffe von Niederschlag. Gibt es eigentlich ein richtiges Fachvokabular, an das Sie sich zum Beispiel halten, wenn Sie Berichte schreiben? Wie beschreiben Sie Regen?

Der Meteorologe spricht erstmal von Niederschlag. Das ist alles, was von oben herunterfällt. Egal ob das in gefrorener oder flüssiger Form ist. Dann gibt es den Regen. Den kann man aufteilen in normalen Regen, starken Regen, leichten Regen, je nach Tröpfchengröße. Über die Definitionen und Übergänge kann man streiten. Wichtig ist, dass es in flüssiger Form ist. Dann gibt es den Nebel, die Nebelnässe. Da gibt es Nebel und der Boden wird auch nass dabei. Da fällt etwas aus dem Nebel heraus, aber man wird selbst nicht wirklich nass. Weiter kann man auch vom Tau sprechen, der nicht unbedingt aus dem Nebel kommen muss. Das kommt auch vor, wenn wir eine klare Nacht haben im Sommer und die Luft dann abkühlt. Tau ist abgesetzter Niederschlag, der sich direkt aus dem Wasserdampf der Luft auf den Oberflächen absetzt. Dasselbe ist im Winter, wenn es kalt genug ist, der Reif. Dann gibt es noch die Niederschläge in der festen oder gemischten Form. Da gibt es den Schneeregen oder den Schnee, der in ganz vielen verschiedenen Formen vorkommen kann, die alle leicht verschiedene Eigenschaften haben. Da gibt es ganze Wissenschaftszweige, die sich mit Schneephysik befassen. Außerdem gibt es noch den Graupel und den Hagel. Graupel entsteht meist im Winter oder Vorfrühling. Hagel entsteht hauptsächlich im Sommer bei den großen Gewittern. Es gibt bei den Wolken Auf- und Abwindzonen und wenn diese nicht genau nebeneinander liegen, sondern so vertikal schräg nach oben treiben, dann werden die Niederschlagspartikelchen wieder in die Höhe gerissen und da wächst wieder Eis oder flüssiges Wasser an. Das kann einige Male passieren, dass die Niederschlagspartikelchen vom Aufwind nach oben gerissen werden und dadurch können Hagelkörner entstehen und wenn das sehr oft passiert, können auch sehr große Hagelkörner entstehen. Irgendwann werden die dann zu schwer für den Aufwind und fallen zu Boden.

Es gibt wohl aus der Bibel kommend sehr viele literarische und auch filmische Erzählungen von Tieren und Objekten im Regen, zum Beispiel Froschregen. Ist so etwas denn überhaupt möglich, also zumindest, dass ein einzelner Frosch oder Fisch aus den Wolken fällt?

Also Staub kann auf jeden Fall drin sein, gerade bei starkem Wind über landwirtschaftlichen Flächen zum Beispiel. Was Tiere betrifft, ist das nicht ganz unwahrscheinlich. Es gibt ja auch den Tornado, der zum Beispiel über eine Wasseroberfläche ziehen kann und da können größere oder kleinere Tiere mitgerissen werden, die aufgrund der starken Aufwinde nicht sofort wieder zu Boden fallen, sondern in diesem Tornado weiterziehen und irgendwo anders zu Boden fallen. Aber ich bin da kein Experte und kann nicht sagen wie groß das Tier sein und wie weit entfernt es herunterkommen kann.

Regen wird in Filmen ja oft künstlich hergestellt, ganz allein schon deshalb, weil er sonst nicht sichtbar ist für die Kamera. Wenn Sie an einem Filmset wären, um zu beraten, auf was man achten sollte bei der realistischen Darstellung von Regen, was würde Sie dann empfehlen?

Man kennt den klassischen Regen, der jetzt nicht so ist, dass man gleich patschnass wird. Es dauert eine Weile, man muss eine Zeit lang draußen stehen. Aber in den Filmen gibt es eher Wolkenbrüche, alles wird sehr schnell nass. Das Schwierige ist eben, dass man ihn sonst nicht sieht. Und wenn man ihn nicht bemerkt, dann bräuchte man ihn ja gar nicht herstellen.

Len Lye: Poesie/Industrie

von Rainer Kienböck

Drei Minuten Farben- und Formenspiel. Punkte und Linien tanzen über die Leinwand, knallige Signalfarben wechseln sich wild ab, verdrängen sich, verbinden sich, gehen ineinander über. Kreolische Tanzmusik gibt den Takt an, legt den Rhythmus fest, in dem sich die Farbkleckse in nicht enden wollender Fantasie gegenseitig ablösen. Das geht rund drei Minuten so, ein früher Versuch eines kameralosen Films. Der Filmemacher Len Lye hat für A Colour Box den Filmstreifen direkt bearbeitet. Er hat das Zelluloid Kader für Kader mit der Hand bemalt und mit Schablonen bedruckt. A Colour Box ist einer der ersten Filme, der auf diese Weise entstanden ist, der gebürtige Neuseeländer Lye ist einer der Pioniere des „direct film“. Die ästhetischen Qualitäten seiner Filme, vor allem jener aus den dreißiger Jahren, in denen er die Möglichkeiten neuartiger Farbfilmprozesse, die direkte Bearbeitung des Filmmaterials und Einflüsse polynesischer Kunst zusammenführte, sind unbestritten. Ein Schock markiert aber den Höhepunkt von A Colour Box, wenn nach rund zwei Minuten abstrakten Formenspiels zu fröhlicher Tanzmusik große schwarze Lettern im Film auftauchen. Das filmische Formexperiment wird zur Werbeannonce. „Cheaper Parcel Post“ heißt es da. Der Paketdienst des General Post Office wird angepriesen. Die Werbebotschaften tanzen über die Leinwand, wie zuvor die geometrischen Formen, das Farbenspiel wird ebenfalls nicht unterbrochen. Die Banalität des Postverkehrs trifft auf die avantgardistische Qualität von Lyes Kurzfilm. Eine ungewöhnliche Kombination. Wie kam es, dass der künstlerische Freigeist Lye einen Werbefilm für die Post produzierte? Wie kam es dazu, dass die Post einen Avantgardisten wie Lye mit einer Kommission bedachte? Wie fanden Kunst und Kommerz hier zusammen?

Das General Post Office (GPO) ist freilich in der Filmgeschichte keine unbekannte Größe. Der Filmemacher John Grierson hatte Anfang der dreißiger Jahre die Führungsetage des GPO davon überzeugen können, eine eigene Filmsparte ins Leben zu rufen. Die GPO Film Unit produzierte fortan Werbefilme für die Post und sozialkritische Dokumentarfilme. Zudem zeigte sich Grierson immer offen für Experimente und unterstütze Filmemacher in der Umsetzung experimentellerer Filmprojekte. Zu seinem Team zählten unter anderem Alberto Cavalcanti, Humphrey Jennings, Basil Wright, Paul Rotha und Norman McLaren (seines Zeichens ebenfalls Pionier des direct film) , der Dichter W.H. Auden und der Komponist Benjamin Britten zählten zu ihren regelmäßigen Kollaborateuren. Auf Lye war Grierson Mitte des Jahrzehnts aufmerksam geworden. Lye hatte die kostengünstige Form der direkten Bearbeitung des Filmmaterials für sich entdeckt. Er bat den Schauspieler John Gielgud eine Passage aus William Shakespeares Stück The Tempest einzusprechen. Diesen Soundtrack ergänzte Lye um ein abstraktes Formenspiel aus geometrischen Elementen. Der Film, Full Fathom Five, wurde Grierson vorgeführt, der Lyes Potenzial erkannte und ihn an Bord holte. Grierson war ein begnadeter Verhandler. Er hatte immerhin die staatliche Postbehörde davon überzeugen können, eine Filmabteilung zu gründen, die in erster Linie anspruchsvolle Dokumentarfilme herstellte, die soziale Missstände anprangerte. Lyes Arbeit stellte ihn dann aber doch vor Herausforderungen. Wie rechtfertigen, Staatsgelder für abstrakte Filmexperimente aufzuwenden? Grierson entschied, dass dem Film am Ende eine kurze Werbebotschaft für die Post hinzugefügt werden sollte. Lye war zu diesem Kompromiss bereit, anstatt Full Fathom Five umzuarbeiten, stellt er einen ganzen neuen Film her. Die Werbebotschaft am Ende stand nicht gesondert vom restlichen Film, sondern er integrierte sie in den Film: A Colour Box wurde seine erste Arbeit für die GPO Film Unit. Fortan erhielt Lye von Grierson ein bis zwei Aufträge im Jahr für Werbefilme. Die Budgets blieben überschaubar, doch Lyes Produktionen waren vergleichsweise kostengünstig herzustellen. 1936 entstand als nächste Auftragsarbeit des GPO der Film Rainbow Dance. Rainbow Dance soll die GPO Savings Bank bewerben, Lye legt den Film daraufhin als große (Bild-)Metapher an. Vom rein abstrakten Formenspiel geht Lye über zu einem etwas narrativeren Ansatz. Am Anfang regnet es Farben. Farbige Punkte rasen über die Leinwand, treffen auf die Silhouette eines Manns mit Regenschirm. Der Mann beginnt zu tanzen, tritt in Interaktion mit dem Farbenspiel, hüpft durch rote, grüne, blaue monochrome Landschaften, führte einen irren Tanz mit allerlei geometrischen Formen auf, die Lye auf ihn loslässt. Am Ende des Regenbogens dann ein Sparbuch der GPO Savings Bank. Die kreolische Tanzmusik verstummt. Eine Stimme aus dem Voice-over meldet sich zu Wort: „The Post Office Savings Bank puts a pot of gold at the end of the rainbow“. Ein fulminanter Abschluss eines Meisterwerks des Avantgarde-Films, ein weiterer Schock des Aufeinandertreffens von Kunst und Kommerz.

Für Rainbow Dance nutzte Lye ein neues Farbverfahren. Hatte er zuvor mit Dufaycolor gearbeitet, wechselte er zu Gasparcolor, das der ungarische Chemiker Bela Gaspar entwickelt hatte. Anders als Dufaycolor, einem additiven Farbverfahren mit Linienraster, wurden bei Gasparcolor (wie auch etwa beim berühmten Three-strip-Technicolor) drei verschiedene Negative produziert und anschließend subtraktiv zusammengeführt. Lye interessierte sich weniger dafür, mit diesem Prozess natürliche Farben zu erzielen, sondern erkannte das künstlerische Potenzial der Arbeit mit drei Negativen. Die nutzte er für fulminante Matte-Effekte, so ist etwa der Tänzer im Film immer nur als Silhouette zu sehen, der jedoch wild die Farben wechselt, während die Landschaften im Hintergrund in einer anderen Farbe erstrahlen. Das gelang nur deshalb, weil Lye nie auf einen natürlichen Farbeindruck, sondern auf möglichst wilde Kombinationsmöglichkeiten der drei Negative hinarbeitete. Für seinen nächsten GPO-Film Trade Tattoo ging er ähnlich vor, setzte nun aber Three-strip-Technicolor ein – und brachte die Techniker des neugegründeten Technicolor Labors in Großbritannien an den Rand der Verzweiflung. Trade Tattoo ist handwerklich noch einmal ein Stück aufwändiger als Rainbow Dance. Der Film erzählt von einem Arbeitstag in Großbritannien – und wie die Post durch ihre unterschiedlichen Dienstleistungen den Motor der britischen Industrie am Brummen hält. Dafür hat Lye nicht verwendetes Material früherer GPO-Dokumentarfilme verwendet. Arbeitsszenen in Fabriken und Häfen, Feldarbeit wie Büroarbeit tüncht Lye in knallige Farben, übermalt sie, unterbricht sie durch ornamentale Muster. Geometrische Formen, Farbfelder, rasende Übergänge bestimmen das Bild, der kreischende Funkenflug eines Schweißgeräts sprengt in aggressivem Orange nahezu die Leinwand, ein Flugzeug am Himmel wird von Farbklecksen ausgefüllt. „The rhythm of trade is maintained by the mails“, heißt es am Schluss.

Auf Trade Tattoo folgt mit N. or N.W. noch ein letzter Film für die GPO Film Unit. Der ist jedoch kaum mehr mit den früheren Arbeiten Lyes vergleichbar. N. or N.W. ist ein Informationsfilm, der die Öffentlichkeit für die richtige Verwendung von Postleitzahlen sensibilisieren soll. Ein junges Paar hatte Streit und möchte sich aussprechen. Ihr Briefverkehr kommt aber zum Erliegen, weil der Mann die falsche Postleitzahl angibt. Im letzten Moment erreicht der Brief die Frau aber doch – die Post hat den Fehler des Manns korrigiert und verhindert die (Liebes-)Katastrophe. In Schwarz-Weiß statt in Farbe, mit ausgedehnten Voice-over-Passagen, in denen die Inhalte der Briefe vorgetragen werden und ein paar Dialogzeilen am Ende, ist N. or N.W. um ein vieles konventioneller als Lyes abstrakte Filme. Sein Avantgarde-Background kommt nur zur Geltung, wenn er Gesichter, Briefe und Himmel mittels Doppelbelichtungen übereinanderlegt. Der Film ist ein Vorbote dessen, was Lye in den Folgejahren produzieren wird, wenn er für die Propagandaabteilung des Ministry of Information (MOI) arbeitet und die Kriegsanstrengungen der Alliierten unterstützt. Sein Vorgesetzter im Ministerium ist Jack Beddington. Beddington war für Lye kein Unbekannter. Da Lye kaum von der einen jährlichen Kommission durch die GPO leben konnte, nutzte er die positive Resonanz, die er für seine GPO-Filme bekam, um auch von anderen Stellen Aufträge für Werbefilme zu bekommen. Ähnlich wie die Post, hatten auch private Unternehmen in den dreißiger Jahren eigene Filmabteilungen gegründet. Eine von entstand 1934 beim Mineralölkonzern Shell. Leiter der Abteilung war Jack Beddington. Beddington kannte Lyes experimentellen Puppenanimationsfilm Peanut Vendor, den dieser Anfang des Jahrzehnts produziert hat, als er mit unterschiedlichen Animationsfilmtechniken experimentierte. Beddington gab bei Lye also ebenfalls einen solchen Film in Auftrag. Der lieferte 1936 The Birth of the Robot ab, die Geschichte eines Forschungsreisenden in der afrikanischen Wüste, der mit seinem anthropomorphen Auto in einem Sandsturm gefangen wird. Die Fata Morgana, die sich das Auto herbeiimaginiert, ist eine Tankstelle mit Werkstatt, die es wieder in Schuss bringen könnte. Das Leid des Autos wird von einer Göttin im Himmel entdeckt, die mit ihrer Laute (in Muschelform) einen Metallroboter auf die Erde schickt, der das Auto wieder in Schuss bringt und die Wüste in eine moderne Autobahnlandschaft verwandelt: „Modern Worlds need Modern Lubrication. Lubrication by Shell Oil“. Der Film wurde ein voller Erfolg, von der Kritik gelobt und von über drei Millionen Menschen im Kino gesehen.

Beddington war jedoch nicht der erste Vertreter der Privatwirtschaft, der Lyes Dienste als Werbefilmer in Anspruch nahm. Schon im Jahr davor hatte er mit Kaleidoscope einen direct film produziert, der in Konzept und Form stark A Colour Box ähnelte. Kaleidoscope war eine Auftragsarbeit für das Tabakunternehmen Churchman’s, die Oskar Fischingers Arbeiten für Muratti Zigaretten kannten, die am Festland großen Erfolg hatten. Lye stellte also seine fantasievolle Interpretation einer Zigarettenwerbung her. Dafür entwickelte er eine Stahlmatrize, mit der er schnell und effizient aufeinanderfolgende Kader mit dem gleichen Muster versehen konnte. Kaleidoscope ist folglich geprägt von längeren Passagen, in denen Schablonenmuster zum Klang eines kreolischen Beguine über die Leinwand ziehen. Gegen Ende des Films übermitteln dann farbige Lettern wie in A Colour Box die Werbebotschaft. Als der Film im Herbst 1935 in die Kinos kam, schrieb der Kritiker des Sunday Referee, Lye sei ein „English Disney“ – in den folgenden Jahren sollten seine Filme noch mehrere Male diesen Vergleich provozieren. Den „echten Disney“ traf Lye jedoch nie. Als der Kinounternehmer Sidney Bernstein dem amerikanischen Zeichentrick-Mogul bei einer US-Reise Lyes Filme vorführte, zeigte sich dieser begeistert. Zeitgenössische Kritiker in Großbritannien verglichen wenige Jahre später einige Sequenzen von Fantasia mit den Arbeiten von Lye. Es ist jedoch nicht überliefert, ob Walt Disney seinen Animatoren als Vorbereitung tatsächlich Lyes Filme gezeigt hat.

Nach dem Ende seines Engagements bei der GPO Film Unit und bevor der Krieg losging, vollendete Lye noch einen weiteren Werbefilm für ein privates Unternehmen. Colour Flight war eine Auftragsarbeit für die Imperial Airways. Zunächst unterscheidet sich der Film kaum von früheren Arbeiten wie A Colour Box oder Kaleidoscope: Farbkleckse, geometrische Formen, Farbwechsel, gezeichnete und gekratzte Muster. Dem Auftraggeber entsprechend gehen die abstrakten Formen schließlich in stilisierte Flugzeuge über, die in allen Farben des Regenbogens über die Leinwand flitzen. Der Himmel, die Wolken, die Flugzeuge: So endet auch dieses abstrakte Farb- und Formenspiel mit einer Werbebotschaft, die einerseits abgesetzt vom restlichen Film, andererseits ästhetisch einheitlich vermittelt wird. Colour Flight ist ein weiteres beeindruckendes Beispiel für Lyes Fähigkeit, seine künstlerischen Ansprüche mit den Anforderungen einer Auftragsarbeit zu vereinbaren. Etwas, das nicht allen Avantgarde-Filmemachern immer leichtfiel. Legendär, Peter Kubelkas Anekdoten zur Abnahme seiner Filme Schwechater und Unsere Afrikareise, die auf wenig Gegenliebe stießen, weil Schwechater ein konventioneller Werbespot hätte werden sollen und Unsere Afrikareise ein filmisches Andenken einer Safari. Lye hatte es da ein wenig einfacher. Er wurde aufgrund des Stils seiner vorherigen Filme beauftragt und hatte weitestgehend freie Hand, soweit er nur die Werbebotschaft seines Auftraggebers unterbrachte. Diese Freiheit hatte er sich zuvor durch lange Jahre der kunstgewerblichen Arbeit erkauft. Während seiner Zeit in Neuseeland hatte er als Grafiker und Plakatmaler gearbeitet, in Sydney war er eine Zeit lang in einem Animationsstudio für Werbefilme tätig. Dort eignete er sich das Rüstzeug für seine späteren künstlerischen Arbeiten an, entwickelte sich vom Abbildrealismus, wie er an den Kunstkursen in Neuseeland gelehrt wurde, hin zur Abstraktion, zur visuellen Poesie. So entstanden Meilensteine des Avantgarde-Films, geformt durch Kunsthandwerk, finanziert durch Post, Fluggesellschaften, Tabak- und Mineralölindustrie. Die Dreißiger waren eine goldene Ära für diese Form der Künstlerförderung. Der bereits erwähnte Oskar Fischinger machte Werbefilme in Deutschland, Joris Ivens tat es ihm in den Niederlanden nach und in Franklin D. Roosevelts USA finanzierten staatliche Behörden Informationsfilme wie The Plow That Broke the Plains und The River. Nach dem Krieg veränderten sich die Produktionsbedingungen für unabhängige Dokumentar- und Experimentalfilmer – auch für Len Lye. Als er 1957 mit Rhythm eine grandiose Miniatur über die Autoindustrie in den USA abliefert, wird diese abgeschmettert.

The Film Poems Series 1-4 (1999-2003) – and a few thoughts.

by Peter Todd

‘To see a World in a Grain of Sand
And a Heaven in a Wild Flower
Hold Infinity in the palm of your hand
And Eternity in an hour.’
(William Blake. Auguries of Innocence.)

‘Then sing your song without me: I shall sing
Alone. But if by accident you hear,
Listen. – In every song of loss or Spring
Are overtones for the familiar ear.’
(Margaret Tait. One is One.)

Take Margaret Tait’s description of one of her films ‘A poem started in words is continued in images’ which itself was called Colour Poems and is twelve minutes in length, what should you consider when thinking of showing it? The same could be asked of Aerial which is four minutes and she described ‘Touches on elemental images: air, water (and snow), earth, fire (and smoke), all come in to it. The track consists of a drawn out musical sound, single piano notes and some neutral sounds.’

In 1990 I made what Margret Tait would call a self-made film, Out which is eight minutes long. With the support of sympathetic programmers it was screened on a number of occasions as a short before features in cinema programmes. Later I would do a programme with a number of short works and a feature. As I continued to develop more self-made work, the thought persisted, how to show these as a more specific experience of what I thought they offered? What emerged was a programme called Film Poems at the National Film Theatre London in 1998. I decided to try and tour it, so more people could see it. So the first Film Poems touring programme developed (with a slight change, Manhatta from 1921 by Charles Sheeler and Paul Strand replaced Jazz of Lights from 1954 by Ian Hugo). It would be followed by three more programmes which would develop one after the other, with thoughts and the experience of one, informing the next. It’s in the doing that things happen.

All the films that were included are individual works, which exist uniquely, and can be shown in other contexts. They are not necessarily film poems, but they can also be film poems. So the title of the programmes became a kind of prism, through which to see the films, to see the programmes. In the main the films came from the collections of the BFI and LUX, also from individual film makers, whose films or they themselves I had come across. There were other screenings I was involved with including City Poems in 2003 at the Arnolfini Bristol (in which I included In The Street from 1948 by Helen Levitt, Janice Loeb, and James Agee) and later follow ups included one presented by Sarah Neely in Edinburgh at the Scottish Poetry Library in 2012 in which I included Renate Sami’s Ein Jahr/ A Year from 2011 which she described as ‘constructed like a poem’. This year an all 16mm film print Film Poems screening at Close-up cinema London marked twenty years since the first touring programme gave the opportunity to screen Margaret Tait’s film The Leaden Echo and The Golden Echo in which she edits her images to her reading of the poem by Gerard Manley Hopkins which became available after the Film Poems series. As a part of the dialogue with Margaret, she sent me a 16mm print of her film Garden Pieces (1998) as a present, with the hope I could find a sympathetic place, or programme for it. It would be her last film, but also be the start of what became another programme called Garden Pieces (2001) which again like Film Poems evolved into another series called Garden Pieces 1-3 (2001-2009), and the first one in 2001 would therefore overlap with the Film Poems series. And then I was also working on the Margaret Tait retrospective for the Edinburgh Film Festival in 2004 and the LUX touring programme of her work. There were other programmes as well, and in the Place of Work screenings at the Whitechapel Gallery in 2013, I was happy to able to include one of Storm De Hirsch’s films.

Putting the programmes together was a bit like editing a film, and programmes would often have one of my films in it. So film making and film showing. Folding thoughts over, and then over again, like pages of a book. How do images or works work together or against each other and to what degree? What is happening with the sound or no sound, with the colour? How do the gaps between the films feel? Is the projector in the space with those experiencing them, or is there a separate projection box. If one of the works is on a different format, how does this affect the elements in play? This is in addition to the various film makers many of whom I had corresponded with or met and their histories, and the films histories. Another aspect was, as so little literature existed on the films I would show, I had often to ask film makers for a few words. So the programme notes for each programme developed.

‘The Film Poems programme came from a desire to see films which explore the nature of film and poetry. As a film maker seeing films is as important as them being shown. ‘Film Poems’ is a part of that interest. By this work being screened, hopefully an interest in the films themselves, in programming in this and new ways, will continue’ I wrote in 1999 for in a piece for the first Film Poems programme notes. (1)

By 2009 thinking on the Garden Pieces series of programmes I would write ‘I hope these films work as programmes, together, although all the works have other places, and contexts, not just these’.  And Robert Beavers whose Pitcher of Colored Light (2007) featured in that series wrote, ‘dear Peter, you can imagine that I find the question of how a film programme works beyond the individual film (and maker) extends in many directions.’ (2)

Recently I worked with Guy Sherwin on a joint programme of recent work for Close-up in London. Guy’s work was digital and mine was 16mm film. We decided to move the curtains manually at the side of the screen between the 16mm film and the digital, the academy film ratio and the wider digital ratio, so each ratio acknowledged but the image and framing the best possible to each. This happened several times as we changed formats and alternated between our work. So we rose from our seats and each looked after one side of the screen, and then seated, the films continued. These actions became an added and unique experience to the evening.

Combined, there were perhaps around fifty screenings of the Film Poems programmes. To have had the possibility of the dialogue with these films and film makers, of seeing these films often multiple times and these programmes in these various spaces and places and with these programmers and audiences has been a special experience which has become a part of me.

Where to start on a new programme? Choose a poem. What do the opening quotes suggest, or the last? Or just look at shadows moving on a wall. Or remember a film you want to see again, have written in a notebook, and maybe want to share. The title in the notebook is joined by another film, and then another, like a shopping list, and the order changes and then again, then one is taken away. And then maybe it is time to think of it being a programme ready to screen.
Consideration for each film and maker, and for each programme and context.

‘All things counter, original, spare, strange.’
Gerard Manley Hopkins. Pied Beauty.

Peter Todd. May. 2019.

1. Films Like Poems, Films Like Music, Films Like Films. In Film Poems programme notes. April 1999.
2. On Showing a Film: Some Thoughts and Voices in Vertigo, Vol 4, No 2, Winter – Spring 2009.

 

Film Poems 1-4: screenings curated by Peter Todd.

1999.

Film Poems.
Manhatta (1921) Charles Sheeler and Paul Strand, Bells of Alantis (1952) Ian Hugo, Meshes of the Afternoon (1943) Maya Deren and Alexander Hammid, Hugh MaDiarmid A Portrait (1964) Margaret Tait, Aerial (1974) Margaret Tait, Mile End Purgatorio (1991) Guy Sherwin and Martin Doyle, Darwish (1993) Shafeeq Vellani, Out (1990) Peter Todd, Blue Scars (1994) Ian Cottage.

2000

Moments/Histories/Feelings Film Poems 2.
Window Water Baby Moving (1959) Stan Brakhage, At Land (1944) Maya Deren, Words for Battle (1941) Humphrey Jennings, Lady Lazarus (1991) Sandra Lahire, Glass (1998) Leighton Pierce, First Hymn to the Night Novalis (1994) Stan Brakhage, Diary (1998) Peter Todd, I Am Romeo (1996) Anton Hecht.

2001

Film Poems 3.
Un Chien Andalou (1928) Luis Bunuel and Salvador Dali, L’ Etoile de Mer (1928) Man Ray, A Short Film About Time (1999) Paromita Vohra, For You (2000) Peter Todd, A Colour Box (1935) Len Lye, Colour Poems (1974) Margaret Tait, Yantra (1950-57) James Whitney, One Potato Two Potato (1957) Leslie Daiken, The Back Steps (2001) Leighton Pierce.

2003

Film Poems 4 Messages.
Eriskay A Poem of Remote Lives (1935) Werner Kissling, Messages (1981-83) Guy Sherwin, Anemic Cinema (1926) Marcel Duchamp, Colour Poems (1974) Margaret Tait, An Office Worker Thinks of Their Love, and Home (2003) Peter Todd, First Hymn to the Night Novalis (1994) Stan Brakhage, Film Letter from New Zealand (1988) Gordon Brouncker, Kokoro is For Heart (1999) Philip Hoffman.

Jugend ohne Film Reconstruction

Jugend ohne Film verändert sein Gesicht. Dafür brauchen wir etwas Zeit. Bis Anfang kommenden Jahres machen wir deshalb eine „Pause“. In den kommenden Wochen werden wir euch aber immer wieder unsere neuen Vorhaben und Projekte mitteilen. Vielen Dank für das treue Lesen und das viele Feedback. Wir kommen 2018 wieder und wir versprechen, dass wir einiges bieten werden.

Jugend ohne Film changes its face. Until the beginning of next year we are under reconstruction and won’t publish any new texts. Nevertheless we will inform you about our plans, new projects and ideas during the coming weeks. Thank you for reading our texts and for your feedback. We will be back in 2018 and we promise: It will be worth the wait.

shanghaiexpress

WdK Tag 6: „Taumel/Vertigo“ – Im Tanz der Nebensachen: Lass den Sommer nie wieder kommen von Alexandre Koberidze

Ein junger Mann kommt vom Land in die Stadt, hält sich mit illegalen Straßenkämpfen und Prostitution über Wasser während er eine Anstellung als Tänzer sucht, verliebt sich in einen Offizier mit dem er einige Zeit verbringt und verlässt die Stadt am Ende des Films wieder um zur Familie zurückzukehren. So in etwa ließe sich die Erzählung des über zweihundert Minuten langen Lass den Sommer nie wieder kommen zusammenfassen. Der Film wäre dennoch verfehlt.

Noch einmal anders. Stark verpixelte Bilder eines Marktes in Tiflis, harte Kontraste und knallige Farben, Menschen erstrahlen im Licht und verschwinden im Schatten, irgendwo im Hintergrund taucht der junge Mann auf, geht durchs Bild und ist wieder weg. Er kauft eine Wurst, dann folgen wieder einige Einstellungen in denen er gar nicht zu sehen ist, sondern dicke Verkäuferinnen, rauchende alte Männer, schlafende Hunde und endlos kreiselnde Limonademixer. Wie passt das mit dem ersten Beschreibungsversuch zusammen?

Der amerikanische Filmemacher und Filmverleger Pip Chodorov beschreibt dieses Problem in der anschließenden Debatte als die ständige Präsenz einer Absenz. Der junge Mann soll Kämpfer und Tänzer sein, so erfahren wir durch den gelegentlichen Off-Kommentar, aber nie sehen wir ihn kämpfen oder tanzen. Der junge Mann soll ein Liebhaber sein, aber nie sehen wir ihn lieben. Er soll einen Brief von zu Hause bekommen haben, der ihn schließlich überzeugt zurückzukehren, aber nie sehen wir diesen Brief, ein Zuhause oder gar eine Familie. Doch die Feststellung, dass der Film ständig auf ein Nicht-Sehen, Nicht-Hören und Nicht-Wissen verweist, geht über die instabile, elliptische Erzählhaltung hinaus und formuliert einen Zweifel der selbst schon integraler Bestandteil der Bilder und Töne ist. Auch die österreichische Künstlerin und ‚Taumel‘-Forscherin Ruth Anderwald beschreibt die grob verpixelten Bilder – der Film ist mit einer pre-HD Handykamera entstanden – als „layer of doubt“, als die konstante Verunsicherung einer Repräsentation im Geiste einer Abstraktion, die das Bild auf seine Textur zurückführt. Im Flyer zur Woche der Kritik ist die Rede von explodierenden Pixeln und einem Stummfilm-Kosmos.

Ich halte diese Beobachtungen für sehr zutreffend. Tatsächlich verzichtet Koberidzes Film in seinen ständigen Abschweifungen auf eine zuverlässige Narration, in den pixelsprühenden Bildern auf die Klarheit der Repräsentation und im Ton, der oft die Geräusche der Straße, Stimmgewirr oder vielfach Musik aufnimmt, auf die Verständlichkeit von Sprache. Und doch bleibt die Frage: ist das ein Verzicht? Lässt sich der Film als Dekonstruktion, gewissermaßen als Negativbestimmung des Filmischen fassen?

Let the Summer Never Come Again - Still II

Mit dem von der Moderation vorgeschlagenen Konzept des ‚Taumels‘ rückt eine positive Bestimmung des Filmes näher. ‚Taumel‘ beschreibt den Zustand einer absoluten Destabilisierung, eines vollkommenen Zweifels, der zum einen Kontrollverlust impliziert, aber in der Überantwortung an das Verlorensein eine absolute Harmonie mit der Welt und dem Rhythmus des Lebens verspricht, die etwas Neues hervorzubringen vermag. Exakt diese Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Produktion macht Koberidzes Film aus.

Als hätte Koberidze die Szene aus Sauve quit peut (la vie) in der Nathalie Baye/Godard sagt: „Ich möchte einen Film nur aus Nebensächlichkeiten machen“ auf drei Stunden gedehnt, erzählt Lass den Sommer nie wieder kommen ein Daneben und eine Gleichzeitigkeit. Erzählt von den spielenden Kindern im Hof, von den Katzen auf dem Dach, von den Schattenspielen, die das Riesenrad auf die Straße malt und befreit dabei die Bilder aus allen hierarchischen Abhängigkeiten. Die Kinder im Hof sind nicht das Ausweichziel eines Blicks, der sich verschämt vom Liebesspiel der Männer im Haus abwendet. Ist das überhaupt der Hof desselben Hauses? Ist das derselbe Tag, dieselbe Stunde? Oft lässt sich das nicht sicher sagen, das Daneben ist ebenso wenig nur räumlich, wie die Gleichzeitigkeit nur zeitlich ist. Die Beziehungen der Bilder sind eher rhythmischer als logischer Natur.

Der Pixelsturm ist nicht nur Auflösung, Abstraktion oder Dissoziation des Bildes sondern bringt einen Eigenrhythmus hervor, ein regelmäßiges Pixelflackern, einen Herzschlag, der sich überträgt auf die Welt aus gleißendem Licht und tiefschwarzen Schatten, der pulsiert in den Farben und Menschen und Lichtern von Tiflis. Die Bilder finden im Rhythmus der Bewegungen eine absolute Präsenz, statt nur auf Abwesendes zu verweisen. Wir sehen den junge Mann nie tanzen? Die ganze Welt tanzt zur Musik der Stimmen und Geräusche. Da warten Welche auf den Bus und statt einer logischen Montage, von leerer Straße, Busankunft und Einstieg sehen wir die Füße der Wartenden in Pirouetten kreisen und einen Stepptanz aufführen. In der einzigen Szene, in der es klar vernehmbaren Dialog gibt, fehlen die Untertitel. Der Sound der georgischen Sprache ist hier nicht mehr sekundär oder nebensächlich, sondern wird zum bestimmenden Rhythmus der Szene.

Während eines anderen, unvernehmbaren Gesprächs der beiden Liebenden auf einem Balkon über der Stadt führt ein Schwenk vom klassischen Two-Shot über die lichtverliebte Hand des jungen Mannes hinunter in die Autoschlangen auf der großen Ausfallstraße. Die folgende Montage von fahrenden Autos und Landstraßen zu den Rhythmen eines Popsongs endet mit Bildern von Wellen, die an das Ufer eines Schwarzmeerstrandes rollen. Obwohl der Film uns nie ein Bild von den Beiden im Auto oder am Strand gibt, ist hier nichts mehr Abwesend. Das war eine Reise ans Meer, allerdings außerhalb einer strengen Repräsentationslogik, vielmehr als Rhythmus einer Erfahrung. Bilder von ephemeren Nichtigkeiten verbinden sich zu einem bedeutenden Weltverhältnis. Die anfangs beschrieben Szene auf dem Markt in Tiflis bildet ein bestimmtes Erleben, vielleicht „Das Kennenlernen einer Stadt“, ohne dabei eines klar definierten Subjekts zu bedürfen. Hier wird nicht in Paaren getanzt, sondern im Fluss; alle Bilder miteinander. 

Selten habe ich mich der Strömung eines Filmes derart hingegeben und dabei so geborgen gefühlt, dass da gar kein Ärger und Kampf war als ich nach knapp zweieinhalb Stunden für einige wunderbar lange Minuten sanft weggedämmert bin. Doch wird der schöne ‚Taumel‘ in diesem Moment nicht wieder zur Gefahr? Zur Gefahr einer Selbstaufgabe und Kritiklosigkeit, die in letzter Konsequenz aus der vollkommenen Immanenz einer Welterfahrung folgt? Koberidze unterbricht den Bilderstrom immer wieder in Momenten der Distanzierung. Mitten im Film eine Schwarzblende und folgender Titel: „Sehen sie jetzt einen Mann der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt.“ Es folgt die zweisekündige Einstellung eines Mannes der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt. Das ist Youtube-Clip Logik und gleichzeitig deren Persiflage. Jetzt kann ich euch alles andrehen, scheint Koberidze hier schelmisch lächelnd zu sagen. Ja, bitte, möchte ich antworten.  

WdK Tag 1: „Futur/Future“ – Lost in the Light: El Auge del Humano von Eduardo Williams

Nichts zu sehen. Der Film beginnt in Dunkelheit. Dann, schemenhaft, der bewegte Körper eines jungen Mannes, er steht auf, geht umher, streift sich ein T-Shirt über den aus dem Schatten strahlenden Oberkörper. Ein verhangenes Fenster beleuchtet ihn von der Seite. Die Kamera folgt ihm auf seinem Weg durch kaum auszumachende Räume, er scheint etwas zu suchen, stößt laut hörbar gegen Unsichtbares. Er beugt sich hinab ins Dunkel, hebt etwas auf; plötzlich ist da ein schwaches Licht, das frontal seine Brust beleuchtet: Der bläuliche Schein eines Handys – und wieder Dunkel.

Eduardo Williams Film El Auge del Humano folgt in drei geographisch unterschiedenen Abschnitten Körpern von Raum zu Raum, vom Licht ins Dunkel und wieder ins Licht, von der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit, vom Wald auf die Straße, von der Straße in Wohnungen, vom Öffentlichen ins Private, vom Physischen ins Virtuelle und zurück. Dana Linssen spricht in der folgenden Diskussion von Portalen, durch welche die Körper immer wieder von einem Raum zum nächsten gelangen. Das Portal markiert die Schwelle zu einer anderen Welt, zu einem Raum anderer Funktion, anderer Gesetzmäßigkeiten für die Körper, die er aufnimmt. Beim Übertritt aus der lärmenden Hast der Großstadt, in die stille, gemessen zu begehende Welt einer Kirche wird im Wortsinne ein Portal durchquert. Das ist ein Weltenwechsel.

Mir scheint, als gäbe es diese Weltenwechsel in Williams Film nicht. Es ist ein Weltraum, der hier durchquert wird. Die Trennungen und Grenzen der Räume verschwimmen im Sog der ununterbrochenen Bewegung, die unmerklich einen Raum in den nächsten übergehen lässt. Es ist nicht mehr sinnvoll zu trennen zwischen privat und öffentlich, zwischen drinnen und draußen. Im ersten Teil des Films besucht – ja, wer? – ein junger Mann unter vielen in diesem Film, vielleicht einfach der Körper, dem wir folgen, einen Freund in seinem Haus. Vom harten Licht der Straße in ein dunkles Wohnzimmer, Menschen sitzen beim Essen, weiter auf die Terrasse, ins weiche Schimmern des paradiesischen Gartens. Der Einlass zum Keller im Hintergrund steht offen, nicht als Grenze, nicht als Portal, sondern als Teil eines grenzenlosen Bewegungsraumes, der für die Körper nicht mehr zu überwindender Widerstand sondern Möglichkeit ist. Die große Freiheit, welche die physischen Räume ineinander gleiten lässt, bis sie in einem stetigen Strom von Zäsur losen Intensitätsveränderungen aufgehen, erfasst auch die virtuellen Räume der Computer, Handys und Screens. Eine klare Trennung zwischen virtueller und ‚echter‘ Welt ist nicht mehr sinnvoll möglich.

Human Surge Still II

Das Virtuelle in Williams Film wird organisch und so unmöglich als körperlos in Abgrenzung von einer körperlichen Welt beschreibbar. Die Geräte, die den Zugang zu virtuellen Welten versprechen, zeigt der Film als physisches Material: da gibt es ein Handy, das achtsam auseinandergebaut zum Trocknen auf eine Fensterbank in die Sonne gelegt wird. Die Screens der technischen Geräte werden selbst zu Lichtquellen, die in zweifacher Hinsicht Körper sichtbar machen. Es ist das Licht der Handybildschirme, das immer wieder die Dunkelheit der physischen Welt durchdringt, etwa das einzige Licht, welches auf das Gesicht eines gerade erwachten jungen Mannes fällt. Aber auch anders herum ist es die physische Welt in all ihrer Körperlichkeit, die im Virtuellen Ausdruck findet. In einer der eindrücklichsten Szenen sehen wir fünf leicht bekleidete Jungs in einem dunklen, kleinen Raum auf einem Bett, beleuchtet vom Licht eines großen Monitors, eine Webcam-Sex-Show performen, mit der sie ihr Geld verdienen. Die Darbietung ihrer Körper ist untrennbar mit der Welt hinter der Webcam verbunden. Sie reagieren auf Angebote, die von Zuschauern unterbreitet werden und selbst als einer der Jungs dem Anderen einen Blow-Job gibt, ist das nicht nur schockierend in seiner Explizität, sondern auch eine Geste der Freiheit des Spiels und der Möglichkeiten, durchdrungen von einer großen Schönheit. In der Überwindung der Trennung von virtueller und physischer Welt liegt eben auch die Überwindung von Machtverhältnissen, die aus einer Hierarchisierung der beiden Welten entsteht. Das organische Licht der Screens ist so zärtlich und fast tröstlich wie die tiefstehende Sonne, welche die Außenaufnahmen der Argentinien-Episode beherrscht.

Der Übergang vom argentinischen zum mosambikanischen Teil des Films macht die Untrennbarkeit von virtuellen und physischen Räumen noch klarer. Langsam nähert sich die Kamera von hinten einem der argentinischen Jungs, der vor einem Monitor sitzt, der Bildschirm rückt immer größer ins Bild, bis er es schließlich vollständig einnimmt und in seiner eigenen Textur von Pixeln, Spiegelungen und Flackern sichtbar wird. Im Bild sehen wir als Livestream eine Gruppe junger Männer, die eine ganz ähnliche Sex-Show vorführen. Die folgenden gut dreißig Minuten des Mosambik Drittels, die auf den Straßen einer ganz real und physisch anmutenden Welt spielen, werden wir so verfolgen: als abgefilmten Livestream von einem Computer-Monitor (in der Kombination von digitalem und analogem 16mm-Filmmaterial projiziert auf eine Leinwand … aber vielleicht ist das Verhältnis des Films zu Selbstreflexivität ein anderer Text). Doch auch die Räume der physischen Welt erfahren in Williams Film eine Annäherung an das Virtuelle: da gibt es Teiche, die wie ein Screen das Licht reflektieren, Fenster, die Licht spenden ohne ihr Dahinter zu offenbaren, die ständige Suche der Figuren nach Computern und Handys, die Einfluss auf ihre Bewegung im Raum nimmt oder die Verfolgung der Protagonisten in Rückenansicht, die an die Perspektive vieler Computerspiele erinnern mag. Es wird zunehmend unentscheidbar: was ist noch reale, physische und was ist schon virtuelle Welt (oder andersherum)?

Das Erstaunliche an Williams Film ist, dass er nicht einfach die Beantwortung dieser Frage unmöglich macht – z.B. in der Beschreibung einer absolut vernetzten Welt, in der virtuell und real unauflösbar verknotet sind – sondern, den Sinn der Frage selbst bezweifelt. Die Freiheit und Mühelosigkeit, mit der sich die jungen Männer durch dieses Raumkontinuum bewegen, in dem unter anderem virtuell und physisch in eins fallen, sorgt für eine Trance, eine hypnotische Qualität, die alle Fragen nach Trennungen unter sich auflöst. „To get lost in a film“, wie Frédéric Jaeger in der anschließenden Diskussion als positiv bemerkte. Dieses freiwillige Verlorengehen in der Immanenz der Räume als Überantwortung an den Fluss der Bewegungsbilder, weist zunächst auf ein utopisches Ideal des Kinos selbst, wie es bei Deleuze beschrieben ist. In der Immanenz lösen sich die Bilder von einem richtungsgebenden Zentrum und reagieren frei miteinander. Williams Film, der in allen drei Episoden junge Männer zeigt, die außerhalb der Glaskuppel des westlichen Wohlstandskapitalismus leben, gibt uns in dieser Utopie des Kinos die gesellschaftliche Utopie einer dezentralen Welt der absoluten Grenzenlosigkeit, einer gefahrlosen Freiheit der Bewegung, die als selbstverständliche verwirklicht ist im gleichermaßen mühelosen Wechsel vom Wohnzimmer in den Garten wie von der argentinischen Großstadt in den philippinischen Urwald. Vielleicht holt das Thema des Abends „Futur/Future“ den Film in dieser Utopie ein. Vielleicht haben wir es aber auch mit der Fantasie einer Welt der jungen Männer zu tun, der Ausweitung eines Lebensgefühls auf eine ganze Welt. Und vielleicht reißt die letzte Einstellung oder eine andere ästhetische Entwicklungslinie in Eduardo Williams großem Film vieles des hier Gesagten wieder ein. Sicher ist, wenn gilt Nino Klingler These #9: Cinema is political when it irritates separations, dann ist El Auge del Humano politisches Kino.