Viennale 2015: Unsere hohen Lichter

Nach fast einer Woche fühlen wir uns in der Lage, auf die Viennale 2015 zurückzublicken. Was bleibt vom Festival?

Patrick

Ich betone vor allem – aber nicht nur – die Filme, die ich bei der Viennale zum ersten Mal beziehungsweise zum ersten Mal im Kino gesehen habe.

Arabian Nights

Vier Filme

Visita ou memórias e confissões von Manoel De Oliveira

Weil er mich daran erinnert hat, wie es ist zu sterben

No Home Movie von Chantal Akerman

Weil die Kamera eine Seele ist (meine Besprechung)

The Immigrant von Charlie Chaplin

Weil es keine Fehler gibt

Vremena goda/Tarva yeghanakner von Artavazd Pelechian

Weil ich keine Worte dafür habe

Mein Film des Jahres 2015:

Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo (meine Besprechung)

Die Enttäuschung:

Mountains May Depart von Jia Zhang-ke: Es ist sicherlich kein schlimmer Film und Jia Zhang-ke ist und bleibt ein großartiger Metteur en Scène, aber das Verschwinden jeglicher Subtilität und des Bildhintergrundes aus vielen seiner Szenen ist der große Schmerz des Jahres.

13 Szenen des Festivals

Es gab diese Rolltreppen in Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul, die mich in einen Traum gestürzt haben, der meine letzte Chance auf eine Flucht war. Die Schlafkrankheit ergriff mich bis Renoir in Straubs L‘aquarium et la nation platzte und ich mich fragen musste, ob und wie ich in einer Nation lebe. Ich weiß es nicht. Ich fühle mich wie der Baum im Wind in No Home Movie von Chantal Akerman und Philippe Garrel hatte völlig Recht, als er gesagt hat, dass Akerman in der Lage war, so zu erzählen, dass man merkt: es betrifft uns alle. Ich habe den ersten Kuss bei Desplechin und seinem Trois souvenirs de ma jeunesse (meine Besprechung) nicht mehr gesehen, aber nicht vergessen. Auch er betrifft uns alle. Er ist wie das plötzliche Erwachen des scheinbar Toten in Psaume von Nicolas Boone. Ein Augenblick, in dem die Zeit steht. Ein Schlag in die Kontinuität meiner selbstzufriedenen Wahrnehmung. Die Zeit läuft rückwärts im letzten Bild von Kaili Blues von Bi Gan (meine Besprechung), ein Ende, das mich sehen und erkennen ließ. Allgemein dachte ich oft, dass Filme nicht – wie Cristi Puiu sagt – lediglich ein Zeugnis sein sollten, sondern eine Offenbarung. Also das Gegenteil des verschleiernden Nebels aus dem Tal in The Assassin von Hou hsiao-hsien (meine Besprechung), dem Film, der meine Augen vor Schönheit in Glas verwandelt. Es sind die Rolltreppen aus Glas, die vom Wind geküsst werden. Ich ziehe mich aus wie der Filmemacher in Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo und springe ins Wasser wie die Kinder in der Katastrophe in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Im Wasser ist es wie in L‘invisible von Fabrice Aragno, bei dem kein Bild in meinem Gedächtnis bleibt, sondern nur dritte Bilder, die sich zwischen dem Sichtbaren bewegen. Alles fließt. Im Wasser fliegen mir die Fetzen verbrannter Filme entgegen wie in Bill Morrisons Beyond Zero: 1914-1918. Sie sehen aus wie die schreienden Gesichter eines Grauens, das real wird, weil es materiell wird. Im wasser träume ich von einem Blick zwischen die Texturen, einem Blick, der mir gilt wie in Carol von Todd Haynes. Dann mache ich die Augen auf und stehe auf einer Rolltreppe im Kaufhaus in der Mariahilferstraße. Ich höre Weihnachtsmusik und stelle fest, dass es keine Szene ist, an die ich denke, wenn ich an The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky denke, sondern eine Textur.

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Weitere Besprechungen:

Arabian Nights von Miguel Gomes

The Golden Era von Ann Hui

Claude Lanzmann-Spectres of the Shoa von Adam Benzine

Tangerine von Sean Baker

Travelling at Night with Jim Jarmusch von Léa Rinaldi

Maru von Suzuki Yohei

In Transit von Albert Maysles u.a.

Ioana

The Event

Visita ou memórias e confissões – made then, seen now

Right Now, Wrong Then – wrong then, right now

The Assassin – pulsating death, still life – pulsating life, still death

The Cow – man then, cow now – cow then, man now – no cow, no man

Cemetery of Splendour – then is now, now is then – don’t live, don’t die

Trois souvenirs de ma jeunesse – wrong then, wrong now – paul then, esther now – now prequel to then. Amalric!

The Exquisite Corpus – sex then (60s-70s), orgasm now?

Happy Mother’s Day – sex then, mother of quintuplets now?!

Sobytie – shot then, made now

Samuray-s – film nowhere, memory of it now

As Mil e uma Noites – stories here, stories there, stories everywhere – politics now

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Chaplin – laugh then, laugh now – love then, love now

Comoara – hidden then, found now

Vremena goda/Tarva yeghanakner – breathtakingly insane then, insanely breathtaking now

Tagebucheinträge:

ROT

SCHWARZ 

DETLEF SIERCK

GOLD

GO WEST

GRÜN

HYPNOSE

BLIND

NEONRÖHREN

ECHO

SEIDE

BLAU

WIND

NEBEL

FEDERN

Andrey

The Hitch-Hiker von Ida Lupino

No Home Movie von Chantal Akerman

‚Non‘, ou a Vã Gloria de Mandar von Manoel De Oliveira

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„No is a terrible word“

Texte von Andrey:

As mil e uma noites von Miguel Gomes

The Look of Silence von Joshua Oppenheimer

Einer von uns von Stephan Richter

Die artenreiche Kino-Menagerie

Carol von Todd Haynes

Nordische Filmtage Lübeck 2015: Land der Geysire

Hringurinn von Friðrik Þór Friðriksson

Bei Eröffnungen fühle ich mich immer furchtbar underdressed (wenn ich so herumlaufe wie immer), oder aber furchtbar affektiert (wenn ich mich schick mache). Normalerweise gehe ich gar nicht auf solche Eröffnungen, und sehe mir lieber einen Film ohne das nervige Geplapper an. Zu diesen Anlässen wird ohnehin ungemein viel über Film gesprochen, aber dabei wird zumeist auf Film ganz vergessen (also auf das worum es eigentlich gehen sollte). Eröffnungsfilme halten zudem selten was sie versprechen und sind meist so gewählt, dass danach möglichst schwungvoll zum ersten Piccolöchen gegriffen werden kann; eventuell noch mit etwas politischem Diskussionspotenzial um das Gespräch bei der Feier danach zu beleben. So weit, so gut. Nachdem mir die Nordischen Filmtage meine Eintrittskarte sogar per Post zugeschickt haben, bin ich hingegangen, habe mich underdressed gefühlt und danach ein wenig vom Sekt genascht.

Der isländische Un Certain Regard-Gewinner Hrútar, der als Eröffnungsfilm herhalten muss stellt sich allerdings als veritables Prunkstück nordischen Kinos heraus. Was anfangs wie eine typisch skandinavische Komödie erscheint – also Männer mit Bärten, die Schafe züchten und bei eisigen Temperaturen wenig sprechen – entwickelt sich zu einer Milieustudie eines aussterbenden Stücks isländischer Kultur. Die obligatorischen Landschaftsaufnahmen der malerischen Felder des isländischen Hochlands wechseln sich dabei mit den ähnlichen rauen Gesichtern der Protagonisten ab, die oftmals den gesamten Bildraum ausfüllen. Zuweilen wird dieser Kontrast etwas überstrapaziert, doch die Verbindung von Land und Leuten durch die Kamera gelingt vorbildhaft. Die herausragenden Schauspieler haben daran erheblich Anteil. Sie wirken, als hätte man sie eigens für den Film aus den Schafställen Islands vor die Kamera gezerrt und balancieren sehr eindrucksvoll zwischen der Intensität der kammerspielartigen Szenen im Inneren der Höfe, die durch den Schnee quasi von der Außenwelt abgeschnitten sind und den alltäglichen landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf der Weide und im Stall. Alles in allem entschädigte der Eröffnungsfilm für die Tortur der Danksagungen und Applausorgien.

Hrútar von Grímur Hakonarson

Island bereitete mir auch das bislang schönste Erlebnis hier am Festival. Friðrik Þór Friðrikssons Parforceritt Hringurinn ist eine echte Entdeckung. In der Mitte der Achtziger umrundete Friðriksson einmal sein Heimatland auf der ringförmigen „Ring Road“, die dem Film seinen Namen gibt. Dabei hatte er auf seinem Wagen eine Kamera montiert, die alle zwölf Meter ein Einzelbild aufnahm. In knapp über achtzig Minuten erkundet man also Island im Schnelldurchlauf. Der Film ist hypnotisch in seiner Monotonie aber gleichzeitig abstoßend durch die Hektik und Unregelmäßigkeit des Bildinhalts. In kurvenreichen Abschnitten kommt ein Gefühl auf, das entfernt an Seekrankheit erinnert, wenn der Wagen über die unbefestigten und teils vom Regen aufgeweichten Straßen rumpelt, verschwimmt das Bildfeld zu einem Farbenmeer aus blau, grün und braun. Friðriksson gelingt eine Synthese zweier großer avantgardistischer Traditionen. Einerseits finden sich in seinem Film Sedimente des strukturellen Films, insbesondere dessen Bestreben Raum, Zeit und Dauer auszumessen, andererseits spielt Hringurinn mit der Intensivierung von Bewegung, wie man es zum Beispiel aus Go! Go! Go! von Marie Menken kennt. In seiner Einführung verglich Kurator Jörg Schöning den Film mit den Phantom Rides des frühen Kinos. In dieser Hinsicht ist Hringurinn der Antipode zu Ernie Gehrs Eureka, der die Fahrt einer Straßenbahngarnitur in seiner zeitlichen Dimension ausdehnt. Beileibe ist das kein einfacher Film und provozierte eine Menge an walk-outs (die ersten bereits nach knapp zwei Minuten), wer durchhält wird allerdings mit einem einzigartigen Kinoerlebnis belohnt – der zweite Film von Friðriksson, der hier läuft wandert auf jeden Fall auch auf meine Liste.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: FEDERN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel warten nach dem letzten Tag des Festivals darauf, dass sich die Eindrücke niederlegen, aufklaren oder tiefere Wahrheiten offenbaren. Bis dahin (und wir werden kommende Woche unsere Highlights präsentieren) bleiben die Fetzen der Viennale, die wie Federn nach einer Kissenschlacht in der Luft stehen.

Mehr von uns zur Viennale

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Ioana

  • Ohhh! What a beauty! Oh I’ve never seen one as big as that before
  • Tierische Liebe ist sicher der gefährlichste Seidl Film, den ich bislang gesehen habe. Ein Eingriff [eine Invasion] in und eine Parade von Einsamkeit und Bedürfnissen, bei der die Vorstellung von seiner Arbeitsweise genau so insidiös wie seine zu vermutende Auffassung von Menschen ist. Oder andersherum. Du hast natürlich Recht jedes mal, wenn du mir mit Puius “Es ist nicht so einfach” antwortest.
  • Um mich von Perfidia zu befreien, versuche ich Jeanne Balibars Pearl so oft wie möglich zu hören.
  • Die sehr gute Fussballszene in Kes schließt sich zusammen an einer Reihe von wunderbaren  Fussballszenen in Film (eigentlich Rugby, ich unterscheide nur zwischen Sport auf dem Boden und Sport im Wasser, so wie mein Mitchum zwischen zwei Arten von Schauspiel unterscheidet: with and without a horse)  und plötzlich steht Ken Loach in meinem Kopf aus diesem einzigen Grund und für kurze Zeit neben Lindsay Anderson und Carlos Reygadas.

Ken Loach Kes

Patrick

  • Deutsche Schlager klingen eigentlich wie chinesische Kinderlieder. Nur leider versteht man den Text.
  • Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke ist ein Film über das verschwundene Lächeln. Es ist natürlich mehr, aber bei mir bleibt das verschwundene Lächeln. (Wolken vor der Sonne)
  • Ein Man stand gestern vor dem The Birds-Plakat vor dem Filmmuseum. Er nahm seine Frau an der Hand und zeigte ihr zielsicher: Das ist Tippi Hedren in Marnie.
  • Das Fußballspiel in Kes von Ken Loach ist unvergesslich. Alleine der Establishing-Shot des “Bobby Charlton”-Trainers, der, wie ein Raubtier gefilmt, alleine über das Fußballfeld rennt, war den Film wert. Loach berührt da auch die wahre Absurdität von Sportstunden in der Schule, in denen der Ehrgeiz einiger auf die Lustlosigkeit anderer trifft.
  • John Ford liebt Katharine Hepburn in einem roten Sonnenball. In seiner Whiskeyflasche sieht er für einen Moment seine Reflektion und dann dreht er einen Film, um zu vergessen. Letztes Jahr war die John Ford-Retrospektive, aber dieses Jahr habe ich die Reflektion von Ford gesehen. Es ist schon wieder ein Jahr vergangen, seitdem wir über eine seiner Einstellungen nachgedacht haben. Wir müssen Apichatpong fragen wie wir mehrere Leben haben können, um mehr Ford zu sehen.