Viennale 2017: Unsere hohen Lichter

Patrick Holzapfel

Vai e Vem

Das vom Moos überwucherte Haus von Percy Smith, in dem der britische Dokumentarist und Filmpionier sich mit Pflanzen und Tieren umgab, um Erziehungsfilme zu realisieren, um zu forschen, allein mit seiner Leidenschaft zu arbeiten, ist nicht nur die Grundlage für die musikalischen Abstraktionen des schönen Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith von Stuart A. Staples, sondern auch ein Bild für das Haus von Hans Hurch, die Viennale, die möglicherweise abrissbereit, möglicherweise renovierungsbedürftig, als Denkmal, als pure Gegenwärtigkeit oder als Erinnerung in Wien zur Begehung einer trauernden, ignoranten oder in die Zukunft blickenden Gemeinde aufgesucht wurde. Es war wie erwartet schwer, die Härte und gefährlich weit ins politisch Manipulative sowie unterdrückend Dominante reichende Präsenz des verstorbenen Festivaldirektors mit der Zärtlichkeit, Liebe fürs Kino und Traurigkeit zu verbinden, die sein Fehlen im Kino auslösen muss. Denn diese verschiedene Stränge eines Widerstands im Festivalbetrieb vereinte Herr Hurch wie kein Zweiter.

Die Viennale 2017, ein Haus aus Moos. Manche brachte Geschenke, die sanft von Trennungen erzählten (Vai-e-Vem, The Big Sky), andere zeigten, wo Herr Hurch ihnen die Augen öffnete und andere fragten sich, ob Festivals wirklich einen Geist besitzen, ob in ihnen das Leben eines Kurators fortbesteht oder ob das eine romantische Idee ist, die von den Realitäten der Kinomaschine und der fortschreitenden Zeit hinweggespült wird. Man muss nur auf die Cahiers du Cinéma heute blicken, um nicht an diese Geister zu glauben. Die diesjährige Viennale war wie eine langgezogene Kurve um einen Friedhof herum. Man hat viel Zeit, in andere Richtungen zu blicken, aber man spürt jederzeit eine Gravitation, die auch ein Versprechen sein könnte, aber vor allem eine Frage: Was jetzt? Eine der wichtigsten Prinzipien der filmkuratorischen Arbeit in Wien ist immer schon die persönliche Handschrift des Kurators. Das diesjährige Festival war wie ein Manifest dafür, weil sie sich unrealisiert realisieren musste, weil niemand mehr den Stift halten konnte, mit dem geschrieben wurde. Im Kino jedoch verschwindet alles hinter der Gegenwärtigkeit der Filme. Und diese gilt es zu würdigen, wenn sie es verdient haben. Dann gibt es Geister.

Texte:
Barbara von Mathieu Amalric
La nuit où j'ai nagé von Kohei Igarashi & Damien Manivel
Western von Valeska Grisebach
On the Beach at Night Alone von Hong Sang-soo
Farpões, Baldios von Marta Mateus
Țara moartă von Radu Jude
A fábrica de nada von Pedro Pinho
Abschied von den Eltern von Astrid Johanna Ofner
Nothingwood von Sonia Kronlund
Becoming Cary Grant von Mark Kidel
Ex Libris: New York Public Library von Frederick Wiseman

Rainer Kienböck

Antigone

Jeweils in alphabetischer Reihenfolge.

Favoriten

von Johann Lurf (Rainers Text)

12 Jours von Raymond Depardon

Antigone von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet

Barbara von Mathieu Amalric

Cosmic Ray von Bruce Conner

Dillinger è morto von Marco Ferreri

Ex Libris von Frederick Wiseman

Urgences von Raymond Depardon

Vai-e-vem von João César Monteiro

Filmliebe

A Movie von Bruce Conner

Beregis‘ avtomobilja von Ėl’dar Rjazanov

Farpões Baldios von Marta Mateus

Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont (Rainers Text)

Karnaval’naja noč‘ von Ėl’dar Rjazanov

L’Amant d’un jour von Philippe Garrel

La nuit où j’ai nagé von Damien Manivel und Kohei Igarashi

Licht von Barbara Albert (Rainers Text)

Mongoloid von Bruce Conner

Phantom Ride Phantom von Siegfried A. Fruhauf

Šestaja čast‘ mira von Dziga Vertov

Ta peau si lisse von Denis Côté (Rainers Text)

Țara moartă von Radu Jude

The Big Sky von Howard Hawks

Geu-hu von Hong Sang-soo

Vremja, vpered von Michail Švejcer und Sof’ja Mil’kina

Weitere Texte
L'Atelier von Laurent Cantet
Golden Exits von Alex Ross Perry

Andrey Arnold

1

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4

Einige Texte

Zur Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum
Interview mit Barbara Albert
Good Time von Ben und Josh Safdie
Zum Besuch von Christoph Waltz

Ivana Miloš

der

San ClementeUrgences12 Jours (Raymond Depardon)
Watching people light up in hidden places, remembering them though we’ve never met, moving through corridors step by lagging step, seeing the sky in the courtyard, only in the courtyard.

The Big Sky (Howard Hawks)
What a great big sky it in this dancer on the landscape, as the band of not-quite-brigands turned frontiersmen picks their way across branches and logs, over riverbends and fires, strung and tied together like a whiff of true companionship.

The Day After (Hong Sang-soo)
And then they fell apart, companions and lack thereof, with embarrassment worn on their sleeves, all the embarrassment of attempting, not knowing, lacking, sorely lacking the path to an embrace.

L’Amant d’un jour (Philippe Garrel)
Yes, there might have been a touch, but it was pushed against the wall and faded away, unfurled and faint, barely visible in the night walks on Parisian streets. But the lingering aftertaste of violets and freckles chases the screen away.

Ex Libris (Frederick Wiseman)
If we could look behind the scenes, we would surely land on the planet of dream libraries, its stages deployed like paintings of a utopian project, its petals open in the flattering light of the human ambition to know, together.

Quei loro incontri (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet)
Unrooting, uncovering, unveiling, letting speak, finding a voice, finding the voice buried under moss, lychen and the green streams littered on the shores, sitting on a rock with all of sunlight on your face, opening shadows.

La nuit où j’ai nagé (Damien Manivel, Kohei Igarashi)
A wanderer with a face full of the clarity of white, all white, a lost mitten and shoulders deep in snow, a quest to deliver dream messages to those we meet among sea creatures of the deep, a mountain to cross in silence.

Barbara (Mathieu Amalric)
Sea of music carrying away, bringing into existence, awash with life and the currents of grief, all stirred into fireworks, a myriad of colors and a blister of a smile. Oh, how beautiful it is to dive in!

 

Valerie Dirk

Grace Jones

2 Fragen:

Kann man Bruno Dumonts Jeannette auch politisch lesen?

Herausgefordert wurde diese Lesart durch die penetranten Wiederholungen in den Gesängen der französischen Nationalheldin: Frankreich, Glaube, Christentum, Judentum, Kampf. Die Bewegungen dazu bestanden (unter anderen) aus exzessivem Headbangen. Das Peitschen von Frauenhaaren auf Sand. Welch Metapher, gerade jetzt.
Auf meine Frage, ob der Film, abseits der innovativen ästhetischen und formalen Spielereien, auch ein politischer Kommentar sei, reagierte Dumont ausweichend. Alles sei ambivalent: Péguy, la France, Jeanne, la foi.
Und doch, trotz ihrer ungelenken Direktheit, trotz der Gefahr, alles andere unterzuordnen, scheint mir die Frage relevant, auch wenn ich sie immer mit einer gewissen Beschämung stelle.

Is Grace Jones human, and if so, why?

Bloodlight and Bami von Sophie Fiennes arbeitet dualistisch. Zum einen sieht man perfekt inszenierte Bühnenauftritte der Musikerin, während welchen sie aliengleich und dominant das Scheinwerferlicht beherrscht; zum anderen sucht eine verwaschene Digitalkamera-Ästhetik danach, Graces Menschlichkeit zu dokumentieren: auf Jamaika im Kreise der Familie, kehlig lachend, fluchend, sich sorgend, essend (Meeresfrüchte), trinkend (Wein), badend. An einem neuem Album arbeitend. Sich schminkend, sich selbst analysierend: I’m human.

Viktor Sommerfeld

La Telenovela Errante

La Telenovela Errante von Raul Ruiz – Die Soap als Bildgefängnis

Ein Film bleibt noch lange nach meiner kurzen Viennale. Neben vielem erwartbar Guten war La Telenovela Errante von Raúl Ruiz der unerwartete Fund meiner vier vollen Tage. Zurück in Berlin, als ich Freunden Bericht erstatte, erwische ich mich immer wieder bei dem Versuch diese fremdartigen Fragmente eines unfertig gebliebenen Filmes zu beschreiben. Erst hier lese ich Wikipedia über Ruiz und werde direkt belohnt mit Ruiz über Ruiz: „Der Barock … ist eine Art zu sparen und keine Ausgabe. Man darf Barock und Rokoko nicht vermengen, sondern muss Ersteren mit einem Restaurant zur Mittagszeit vergleichen: es gibt sehr wenig Platz, man versucht so viele Leute wie möglich unterzubringen, um die größtmögliche Anzahl an Kunden zu haben.“ Diese eigenwillige und gewiss enigmatische Definition seines Barocks erhellt sich in La Telenovela Errante, welcher den Kitsch der südamerikanischen Soapbilder in mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden schonungslos auswalzt und zeigt, wie die Bilder des zwischenmenschlichen Pathos, der schmalzigen Romanze und der raunenden Dramatik selbst aktiv werden, um die Menschen noch in den alltäglichsten Situationen zu überwältigen. Die Telenovela, das ist das Bildgefängnis, aus dem es für die sozialen Formen kein Entrinnen gibt. Bei der Suche nach einer Straße namens ‚La Concepción‘ in der gleichnamigen Episode treffen drei Männer an einer Kreuzung aufeinander. Während eines endlos kreisenden Dialog verlieren sie sich immer tiefer in den symbolischen Abgründen des Wortes ‚Concepción‘. Ausgehend von der Freundin des einen Mannes, die zufälligerweise wie die Straße heißt, tun sich immer neue Bedeutungen auf. Es gibt keinen Ausweg aus dem Netz der Verweise, in schleichender Hysterie steigert man sich immer weiter hinein in dieses wichtigste aller Gespräche, schon bald scheint Alles in diesem einen Wort bedeutet. Ruiz‘ muss keinen Widerspruch von außen einführen um die Absurdität dieser Szene zu zeigen. Er lädt einfach immer weiter generös Bedeutungen ein, gibt allen Möglichkeiten einen Tisch, bis der Laden implodiert und als leere Hülle vor uns steht. Der Barock wird hier zu klarsten Form, die sehr präzise auf die Strukturen zeigt, in denen Bilder unsere Lebenswelt gestalten. Und dafür muss man nie eine chilenische Telenovela gesehen haben.

Weiterer Text
I am not Madame Bovary von Feng Xiaogang

Viennale 2017: Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette von Bruno Dumont

Über einen Film zu schreiben, ist immer auch ein Versuch den Film besser zu verstehen. Manchmal überwiegt der Drang bestimmte Aspekte eines Films herauszuheben oder ganz einfach nur die eigene Begeisterung zu vermitteln, Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc von Bruno Dumont ist für mich aber eindeutig einer jener Filme, über den ich schreiben will, um ihn selbst besser zu verstehen. Ein wenig hat das auch damit zu tun, dass ich am Beginn dieses Texts ziemlich ratlos vor dem Film stehe (Blake Williams bezeichnete den Film nicht zu Unrecht als UFO). Da sind die offensichtlichen Referenzpunkte, die Dumont auch selbst anbietet – der Verweis auf Straub-Huillet oder die abgründige Verrücktheit, der bereits Dumonts letzte beide Projekte Ma Loute und P’tit Quinquin geprägt hat. Auf der anderen Seite gehen die Gemeinsamkeiten mit Straub-Huillets Moses und Aaron kaum über eine ähnliche Form der Tonaufnahme hinaus und auch die Verrücktheit in Jeannette äußert sich weniger in makabren humoristischen Einlagen, als in einer Grundstimmung der Absonderlichkeit, die vor allem mit Musikauswahl und Figurenzeichnung zu tun hat.

Während sich die großen Jeanne d’Arc-Filme der Kinogeschichte meist mit den Erfolgen der Jungfrau auf dem Schlachtfeld und ihrem Niedergang auf dem Scheiterhaufen befasst haben, ist Jeannette ein vergleichsweise leichtfüßiges Musical über die Jugendjahre Jeannes. Der Film hört mit dem Aufbruch Jeannes in Richtung Orléans auf – das Drama ihres späteren Lebens ist da noch gar nicht abzusehen. Dementsprechend unbeschwert setzt der Film ein: sanfte Sanddünen, ein Bach, eine Schafherde und eine junge Hirtin in blauem Kleid, die singend von ihrem Leben erzählt.

Der Clou über den viel berichtet wurde, ist die Entscheidung Dumonts die Musik nicht im Studio aufzunehmen, sondern den Gesang seiner Laiendarsteller bei den Dreharbeiten als Direktton aufzunehmen. In der Postproduktion wurde lediglich das instrumentale Playback hinzugefügt. Laut, falsch und mit Begeisterung tanzt und singt sich die ungeübte Protagonistin und ihre Mitstreiter also durch den Film, und Dumont hat tatsächlich kaum Anstrengungen unternommen die Unsauberkeiten der Aufnahmetechnik auszumerzen. Es gibt in der Filmgeschichte wohl wenige professionelle Arbeiten, in denen so viele falsche Töne zu hören sind und so unsaubere Choreographien getanzt werden. Das unterscheidet Dumont schon mal radikal vom perfektionistischen Verfahren von Straub-Huillet. Die Frage ist nun aber, ob man diesen Amateurismus positiv oder negativ werten sollte. Dumont spielt absichtlich mit der Ästhetik des Unfertigen und Imperfekten, er verzichtet bewusst auf eine Optimierung der Musik- und Tanzeinlagen, um eine andere Form der Unmittelbarkeit zu erreichen. Das mag auch an der Lust an der technischen Herausforderung in der Produktion liegen, aber nicht zuletzt wird die Figur Jeannettes dadurch menschlicher, gewöhnlicher. Sie ist ein Mädchen, das ungefähr genauso gut tanzen und singen kann, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Auf der anderen Seite wirkt diese bewusste Setzung mit all ihrer handwerklichen Schludrigkeit und der eklektischen Musikauswahl aus Heavy Metal und Electronic etwas aufgesetzt provokant. Womöglich ist es also am besten die Unreinheiten gar nicht zu bewerten, sondern als gegeben hinzunehmen. Das würde dann bedeuten, die Musik in ihrer Imperfektion als überaus lebendig wahrzunehmen; welche Typen Dumont im Casting seiner Laien gefunden hat, ist – wie immer in seinen Filmen – ohnehin fantastisch; die Aufnahmen der Landschaft Nordfrankreichs, wohin Dumont seine Jeanne d’Arc hinverpflanzt hat, sehen atemberaubend gut aus – in Sachen Kadrierung und Beleuchtung ist der Film alles andere als amateurhaft.

Jeannette von Bruno Dumont

Jeannette ist also in jedem Fall ein großes Fest für die Sinne, aber auf eine andere Weise als es bisherige Bearbeitungen des Stoffes waren. Dumonts Jeanne fehlt es weder an Frömmigkeit noch an Determiniertheit, aber sie äußert sich anders, denn diese Jeanne ist nicht leidend oder heroisch, sondern verspielt und lebensfreudig. Das ganze Gesinge und Getanze mag davon ablenken, aber im Kern gelingt es Dumont sehr gut diesem jungen Mädchen, das gleichzeitig ein französisches Nationalheiligtum ist, mit seinem filmischen Porträt näherzukommen. Sie ist überaus entschlossen Gottes Plan zu erfüllen und ihr glorreiches Heimatland Frankreich vor fremden Mächten zu schützen, wie ihre Vorgängerinnen in der Filmgeschichte. Der Grundton des Films, der halbironische Gestus, der Hang zum Absurden scheint den Ernst ihrer Mission aber beständig zu unterminieren. Diese Unentschiedenheit macht den Film erst so richtig interessant. Dumont scheint sich nicht groß darum zu scheren, ob die filmische Form, die er für den Film gewählt hat, dem epischen Charakter seines Sujets gerecht wird. Historische Ungenauigkeiten, Anachronismen, amateurhaftes Schauspiel und Genreelemente, stehen sehr präzisen und gar nicht trashigen Kadrierungen (die Bildsprache unterscheidet sich in ihrer Brillanz nicht von Dumonts früheren Arbeiten), und einem Interesse für Physiognomien und der mittelalterlichen Lebenswelt gegenüber. Das führt dazu, dass diese Jeanne weniger als verklärtes Relikt, denn als lebendige Person auftritt, nicht als mythologische Gestalt, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, die mit einer bestimmten Zeit, einem bestimmten Ort und einer dazugehörigen Geisteswelt in Verbindung zu bringen ist. Jeannette ist kein historisierender Blick zurück auf eine Legende aus längst vergangenen Tagen, sondern eine Aktualisierung, die versucht ihrer Protagonistin über einen Umweg in die Gegenwart näherzukommen.

Die Annäherung an Jeanne d’Arc wird durch die Anachronismen und historischen Fehler vervollständigt, indem man durch sie einerseits die Jeanne in ihrer ganzen Menschlichkeit kennenlernt, und andererseits immer wieder die Rahmung des Gezeigten hinterfragt. Die Absurdität und der Eklektizismus sorgen somit für einen Verfremdungseffekt, der aber paradoxerweise zu einem tieferen Verständnis der filmischen Welt führt: Die Inszenierung der Vision, in der Jeanne den Auftrag bekommt Frankreich zu retten, unterscheidet sich kaum von ihrem restlichen Leben – religiöse Visionen sind im 15. Jahrhundert sehr viel wahrhaftiger und gleichzeitig banaler. Es geht weniger darum, was ein 13- oder 16-jähriges Mädchen im Spätmittelalter über Gott und das Land, in dem sie lebt, wissen kann, als darum, wie stark eine Überzeugung unter den damaligen Voraussetzungen wirken kann. Vielleicht ist dann die kinetische Energie eines Heavy-Metal-Songs gar nicht so weit von der Wucht einer göttlichen Eingebung entfernt als man glaubt. Natürlich ist der Film auch ein Witz, eine Abrechnung mit überhöhtem Nationalstolz (der Nationalismus Jeannes ist eine ebenso anachronistische Setzung, wie die musikalische Gestaltung) und eine ironische Variation eines Filmmusicals, aber es ist zugleich ein Porträt von Jeanne d’Arc, das erstaunlich tief in den Mythos eindringt. Wie konnte es geschehen, das vor über 500 Jahren ein Mädchen eine Armee anführen konnte? Wie konnte sie den Status einer Nationallegende erlangen? Wie konnte eine göttliche Eingebung den Lauf der Geschichte entscheidend verändern? Dumont macht in Jeannette die Verzahnung der mittelalterlichen Lebens- und Glaubenswelt greifbar. Was auf uns verrückt wirkt, ist, dass er zwischen den beiden keinen Unterschied macht. Und damit ist er wahrscheinlich ziemlich nah am Lebensgefühl der Menschen aus vergangenen Jahrhunderten.

Viennale 2017: Ta peau si lisse von Denis Côté

Ta peau si lisse von Denis Côté

Langsam wandert die Kamera über den halbnackten Körper und die weiche, makellose Haut. Vom Nacken zur Schulter und dann weiter über die wohlgeformte Brust nach unten zum Bauch – der Sixpack als Blickfang bevor die Reise weiter geht. Am Rücken folgt die Kamera den Muskelsträngen nach oben zur tätowierten Schulter und dann wieder nach unten zum Hintern, der nur unzureichend von einem Tanga verdeckt ist. Ta peau si lisse ist eine filmische Fleischbeschau der etwas anderen Art. Die exploitativen, voyeuristischen Blicke schweifen hier nämlich nicht über weibliche, nackte Haut, sondern über Männerkörper.

Sechs Männer hat der frankokanadische Filmemacher Denis Côté für Ta peau si lisse gefilmt. Gemeinsam haben sie alle eine besondere Beziehung zu ihrem Körper. Fünf von ihnen betreiben Bodybuilding, einer ist Wrestler und Strongman. Alle ordnen sie dem Training ihrer Körper, der Maximierung ihrer Leistungsfähigkeit, ihr restliches Leben unter. Zwei sind etablierte Größen der Bodybuilding-Szene von Québec, die ihre Muskelberge augenscheinlich pharmazeutischer Hilfe zu verdanken haben, einer ist ein Ex-Bodybuilding-Champion, der mittlerweile als Trainer und Kinesiologe arbeitet. Hinzu kommen ein asiatisch-stämmiger Familienvater, dessen wettkampfmäßige Bodybuilder-Karriere noch am Anfang steht, ein 19-jähriger Student, der Bodybuilding als Hobby im Keller seines Elternhauses betreibt und ein Wrestler und Strongman.

Männer, die auf Männer starren

Die Männer sind fleischgewordene Marmorstatuen, Muskelprotze, deren ganzer Alltag sich darum dreht genug Kalorien zu sich zu nehmen und genug Trainingseinheiten in den Tagesplan einzufügen. Zwischen Essen und Trainieren bleibt nur wenig Zeit für Familie, Freunde und ein Leben abseits der Kraftkammer. Der Film hat seine stärksten Momente, wenn genau dieses Dazwischen in den Blick kommt. Wenn die Männer gemeinsam mit ihren Frauen trainieren, um wenigstens ein paar kostbare Stunden am Tag miteinander zu verbringen oder wenn beim Familienessen als Zwischengang noch ein Steak hinuntergeschlungen wird, um den Proteinhaushalt aufzustocken. Dann wird die Besessenheit dieser Menschen besonders deutlich und diese Besessenheit ist das eigentliche Thema des Films – noch mehr als die Betrachtung dieser Körper oder der Versuch, die körperlichen Anstrengungen des strengen Trainingsplans nahbar zu machen.

Ta peau si lisse von Denis Côté

Der Alltag, von der Passion für die Optimierung des Körpers durchsetzt, steht im Zentrum von Ta peau si lisse: Essen, Training, Arbeit, Essen, Training, Massage, Essen, ein unendlicher Kreislauf, der nicht unterbrochen werden darf, um ja keine wertvollen „gains“ zu verlieren. Gegen Ende des Films sieht man die Protagonisten dann zwar auch auf der Bühne und im Wrestling-Ring beim Wettkampf, doch der spielt nur eine Nebenrolle. Die „Competition“ ist nur ein kleiner Teil ihres Lebens, der Weg dahin ist das eigentliche Ziel, der eigentliche Lebensinhalt. Sehr viel mehr Zeit als beim Wettkampf verbringt der Film folglich bei der Vorbereitung, bei der Suche nach den letzten paar Prozent, um die eigene Leistung auszureizen: das Eintrainieren neuer Posen, die die Muskeln noch definierter erscheinen lassen, die Pflege des Barts, das Eincremen der Haut, alternativmedizinische Behandlungen zur Steigerung der Trainingseffizienz.

Zwischen Erotik und Komik

All dieser Einsatz, um am Ende angestarrt zu werden, egal ob beim Wettkampf auf der Bühne oder beim Spaziergang mit dem Hund. Côté betont, dass diese Menschen ihre Posen, ihre Auftritte, ihre prüfenden Blicke nicht als sexuell wahrnehmen und obwohl er versucht mit der Kamera ebenfalls eine solche professionelle Bewunderung auszudrücken, bleibt ein letzter Rest an fleischlicher Lust im Bild. Die nackte Haut sorgt automatisch für eine erotische Grundspannung, die aber ständig durch die Komik des streng kodifizierten Gebarens der Männer unterminiert wird. Der Überschuss an Männlichkeit, der zur Schau gestellt wird – das wird in Ta peau si lisse sehr deutlich – hat eine doppelte Wirkung. Der nackte, menschliche Körper in seiner ganzen Verletzlichkeit und Schönheit changiert beständig zwischen Lustobjekt und Witzfigur. Während nackte Frauen in unserer Gesellschaft in erster Linie mit der Lust in Verbindung gebracht werden und nackte Männer meist als komisch präsentiert werden, zeigt Côtés präzise Beobachtung der Männerkörper, dass diese Rollenverteilung schlicht eine Konvention patriarchaler Medienpraxis darstellt. Ta peau si lisse ist sowohl Körperstudie, als auch mediale Reflektion, sowohl präzise Alltagsdokumentation, als auch Ergründung einer hermetisch-abgeriegelten Subkultur.