Viennale 2014: German Love: Amour Fou von Jessica Hausner

Amour Fou von Jessica Hausner

Heute Abend eröffnet Amour Fou von Jessica Hausner die Viennale. Premiere feierte der Film in der Un certain regard Sektion der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes. In einer ganz bitteren Ironie erzählt die Regisseurin darin wie Heinrich von Kleist, einer jener großen deutschen Dichter und Denker, ein Romantiker, fataler Romantiker, bestechender Pragmatiker, dieser Mann, eine Partnerin nicht zum Leben sucht, sondern zum Sterben. Nach langer vergeblicher Mühe findet er in der Ehefrau eines Bekannten, Henriette Vogel, eine mögliche Partnerin.

Die deutsche Liebe, so voller Fatalität und Nüchternheit, so voller Vernunft und doch schlägt in ihr ein Herz, ein absurdes Herz. Man denkt an Wir sind Helden (auch wenn man sie nicht hören muss):

Aurélie die Männer mögen dich hier sehr
Schau auf der Straße schaut dir jeder hinterher
Doch du merkst nichts weil sie nicht pfeifen
Und pfeifst du selbst die Flucht ergreifen
Du musst wissen hier ist weniger oft mehr

Ach Aurelie in Deutschland braucht die Liebe Zeit
Hier ist man nach Tagen erst zum ersten Schritt bereit
Die nächsten Wochen wird gesprochen
Sich aufs Gründlichste berochen
Und erst dann trifft man sich irgendwo zu zweit

Amour Fou von jessica Hausner

Selten hat man diese zärtliche Gefühlskälte derart gekonnt, weil komisch, sowohl im Sinn von lustig als auch merkwürdig, gesehen. Dabei füht Hausner mit subtilen und tonalen Spitzen einen absurd-präzisen Kampf gegen die eigene Form und lässt gerade daraus so etwas wie ein filmisches Pendant für die Fatalität der Handlung entstehen. Das Erschreckende scheint, dass diese Art des Ausdrucks nicht nur ein historischer ist (auch wenn daher natürlich die meisten Manierismen der Figuren rühren) sondern ein deutscher. Amour Fou ist-wie man das so macht im österreichischen Kino-ein Tableaufilm. Nur, dass es hier die Bilder einer Zeit sind, die in den gemäldeartigen, entleerten Décors und in den steifen Personenkonstellationen zu Tage tritt. Wie Éric Rohmer in seinem Die Marquise von O… evoziert die Bildsprache eine Zeit und ein Gefühl für die Kunst und Weltsicht jener Zeit. Aber das Echo davon hallt heute besonders stark. Auch ist der Film äußerst vertraut mit dem Werk von von Kleist. Fast zu verspielt zitiert der Film nicht nur Inhalte sondern auch sprachliche Eigenheiten des Autors.

Hausner erzählt von den fehlenden Verbindungen zwischen den Menschen, den Merkwürdigkeiten, die in einem selbst verharren statt herauszuplatzen. Moralische Fragen werden in dieser Welt in ihr Gegenteil verkehrt. Ein Selbstmord als gemeinsame Tat ist dabei einer der großen paradoxen Aspekte des Films. Von Kleist erhöht den Moment größter Einsamkeit zur absoluten Zweisamkeit. Aus diesem Widerspruch zittert sich langsam eine allgemeine Widersprüchlichkeit zwischen Zuneigung und Respekt (diese wird besonders eindrucksvoll in der Dreiecksform des Schlafzimmers von Henriette und ihrem Gatten eingefangen).

Amour Fou von Jessica Hausner

Dabei deformiert die Regisseurin ihre Bilder hin zu einer bizarren Wahrnehmungsverschiebung im Zuseher. Am poetischsten gelingt ihr dies gegen Ende, wenn der großartig aufspielende Stephan Grossmann (schon lange habe ich keinen deutschen Schauspieler mehr derart nuanciert gesehen) als Vogel kurz nachdem er das Drama besichtigt einen Blick auf den See wagt. Die Banalität dieser Einstellung und die Spannungen zwischen inneren und äußeren Welten, die dabei entstehen, erinnern an jene Einstellungen von Bruno Dumont wie etwa am Ende seines La Vie de Jésus, in denen gerade durch die Normalität eine Beunruhigung ins Spiel kommt.

Der romantischte Film über die Lächerlichkeit von Romantik, den ich gesehen habe.

Never gonna fall for (modern love): Gone Girl von David Fincher

Gone Girl Fincher

Es gibt Filme, auf die findet man relativ schnell eine passende Antwort, eine Einschätzung, eine Meinung. David Finchers Gone Girl gehört für mich sicherlich nicht in diese Kategorie. Das liegt zum einen daran, dass man eigentlich nicht nur einen Film sieht und zum anderen daran, dass bei Fincher wie immer die Form und der Inhalt nicht unbedingt zusammengehen auf den ersten Blick. So läuft hinter den inhaltlichen Stories (Ehedrama, Mördersuche, Paranoia-Auf der Flucht-Film, Mediensatire, Psychothriller, Rachedrama) auch noch eine formelle Bewegung ab. Diese perfektioniert eine Idee, der auch schon Alfred Hitchcock erlegen ist: Schuld und Unschuld, Liebe und Gewissen, Leben und Wahrnehmung sind ein Opfer der Zeit. Immer wenn man glaubt, dass man über diese Dinge nachdenken kann, dann sind sie schon vorbei. Und darunter leidet man. Was sich entfaltet ist ein existentialistisches Speedboot, das immer auf die nächste Wand zusteuert, um in dem Moment, indem man sich vorstellt, dass man gleich in die Wand rasen wird, schon auf die nächste Wand zusteuert. Man wird das Boot nicht verlassen können. Das perfide und sarkastische an Gone Girl ist, dass die Figuren dieses Boot selbst steuern.

Es geht um den gescheiterten Schriftsteller Nick, der in einem Casting-Coup von Ben Affleck gespielt wird. Das ist deshalb eine derart gelungene Besetzung, weil der häufig für seine hölzerne Art und Steifheit kritisierte Affleck einen Mann spielt, bei dem man nicht weiß, ob er gut spielt oder ob er zu hölzern ist. Dadurch entsteht fast wie von selbst die beste Rolle, die Affleck je geben durfte. Jedenfalls kommt dieser in seinem Haus in Missouri eines Tages (es ist sein Hochzeitstag) nach Hause und stellt fest, dass in sein Haus eingebrochen wurde und seine Frau Amy (Rosamunde Pike-immer noch im Eishotel, Frau Frost) verschwunden ist. Mit dieser Ausgangsposition konstruiert Fincher eine Perspektivwechsel-Orgie, die einen immer dort hinbringt, wo man nicht erwartet hatte zu landen. Schelmisch setzt Fincher seine geliebten Twists, voyeuristischen Blicke und Montagesequenzen ein, um die Wahrheit einer Fassade selbst zu durchlöchern.

Gone Girl Affleck

Es geht dabei um die Fassade einer Ehe, die Fassade einer Liebe und die Fassaden von Männlichkeit und Weiblichkeit. Was Fincher-wie oft-verpasst, ist dass diese Fassade schon Drama und Thriller genug wäre. Seine heftigen Überraschungen sind Crowd-Pleaser, die selbst wieder eine Fassade aufbauen und damit nur vom Eheterror, von den Figuren, der Mediensatire und allem anderen ablenken. Zudem ist die Geschichte, die auf dem Bestseller von Gillian Flynn basiert und von ihr selbst adaptiert wurde, sehr, sehr groß angelegt und macht sich damit sehr angreifbar bezüglich Logik und Kohärenz. Nicht, dass das unbedingt ein Problem wäre, aber der gesellschaftskritische Touch leidet durchaus unter Unstimmigkeiten. So funktionieren zu viele Medienkanäle, die den Fall ausschlachten als Surrogate für eine größere Idee statt einer unkontrollierbaren Masse. Durch die unterschiedlichen Interessen des Drehbuchs werden zudem viele Aspekte nur äußerst oberflächlich angerissen und man fragt sich, warum sich Fincher nicht von Anfang an auf einen der Aspekte konzentriert hat, um diesen intensiver zu beleuchten. Er erreicht auch keine detailbesessene Faktentreue wie in Zodiac oder The Social Network, weil er deutlich mehr damit beschäftigt ist, mit Erwartungen und Wahrnehmungen zu spielen. Ähnliches gilt für die Figur von Amy, die derart überzeichnet daherkommt, dass man die Allgemeingültigkeit dieser dying Modern Love absolut hinterfragen muss. Denn wo man eigentlich einige grausame Wahrheiten über Beziehungen, Gefühle und Ehe spürt, da liegt hier auch ein trashiges Ein-Psychopath-schläft-in-meinem-Bett an der Oberfläche.

Die Fassaden von Ehe und Medien gehen hier Hand in Hand. Die Wahrheit/Liebe selbst spielt keine Rolle mehr. Vielmehr geht es um das Bild, dass man vor der Welt, dem Partner und sich selbst hat. Ein Lügenmärchen, in dem die Generation Facebook ins Leben torkelt. Dabei setzt Fincher auf einen sarkastischen Humor, der in seinen besten Momenten eine Rotzigkeit aufweist, aus der man gleichzeitig Freude und Verbitterung spürt. Ein großartiger Moment ergibt sich zum Beispiel aus einer Szene, in der Nick von seinem One-Liner Anwalt (ein Überrest aus The Social Network) mit Gummibärchen beworfen wird, wenn er etwas Unglaubwürdiges sagt. Die Verbitterung kommt dann vor allem im letzten Abschnitt des Films zum Ausdruck. Dann steckt hinter jeder Tat eine Falschheit, die wehtut.

Der Look von Gone Girl ist auf der einen Seite jener, den man von Fincher kennt, einer von grün-kalter, digitaler Sauberkeit strahlender Blick in technischer Perfektion, der aber hier mit den überglatten Fassaden und dem makellosen Szenenbild und Erscheinungsformen in Form und Inhalt perfekt korrespondiert. Die schnellen Abblenden, die den ganzen Film durchziehen, machen klar, dass etwas nicht stimmt und dass es eben zu schnell geht und dass es der Zeit an den Kragen geht. Immer wieder blicken wir auf die undurchschaubaren Figuren so lange aus so vielen verschiedenen Perspektiven bis wir ihrem Spiel klein bei geben müssen oder wir einen Funken ihrer wahren Personen zu erkennen glauben. Die ständigen leichten Fahrten geben eine ähnliche Wahrheitssuche wieder. Sie entblößen keine wahren Gesichter, sie deuten nur den Weg an, den man gehen müsste. Dazu parallel werden Plotinformationen in einer Geschwindigkeit wiedergegeben, die für die Figuren zu viel sind und für den Zuseher tatsächlich angenehm. Sie sind deshalb angenehm, weil Fincher-insbesondere, wenn er auf Twists verzichtet- seinen Figuren folgt und nicht seinem Plot. So entdecken wir neue Informationen durch die Augen (POV) und Ohren (Dialog) der Figuren. Statt auf Suspense setzt Fincher auf Anteilnahme. Der Zuseher weiß nicht mehr als die Figuren sondern er weiß genauso viel oder weniger.

Gone Girl David Fincher

Diese Anteilnahme liegt nun aber nicht in einer Identifikation sondern in einem Zweifel. Und dieser Zweifel an den Figuren ist der springende Punkt. Er wird durch die Abblenden und vielen Perspektivwechsel der Kamera in jeder Szene verstärkt, er wird vom treibenden Rhythmus von Montage und der wieder herausragenden Musik von Trent Reznor und Atticus Ross unaufhaltsam weitergetrieben bis uns klar wird, dass wir immer nur eine Wahrheit in der Zeit sehen, ein Puzzle Stück, das im reißenden Fluss an uns vorbeischwimmt. Man bekommt genug Zeit, um es zu sehen, aber nicht genug um damit zu leben. Und diese Wahrheit ist die einzige, die diese Liebe zulässt. Damit lenkt Fincher die Aufmerksamkeit auf jene Dinge, die es sicher nicht gibt in Gone Girl: Liebe, Vertrauen, Familie und Ruhe. Hier liegen in Blicken keine Wahrheiten sondern Abgründe, in Gesten finden sich Lebenslügen und in Tagebüchern ein Image, also ein Zeitprodukt, aber keine Persönlichkeit. Dasselbe gilt für den Film und das ist gleichzeitig gut und schlecht.

His script is you and me boys
Time – He flexes like a whore
Falls wanking to the floor
His trick is you and me, boy
Time – In Quaaludes and red wine
Demanding Billy Dolls
And other friends of mine
Take your time

Filmfest Hamburg 2014: The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy

The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy ist einer jener Filme nach denen man nur schwer zu Wort kommen kann. Das ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil der Film selbst komplett ohne Worte auskommt und ohne Untertitel, Voice-Over oder sonstige Hilfsmittel in Zeichensprache erzählt wird. Es geht darin um den Taubstummen Sergey der neu auf ein heruntergekommenes Internat für Taubstumme gelangt. Schnell kann er sich in der brutalen Welt dort durchsetzen und steigt in einem illegalen Ring von Geldeintreibung, Raubüberfallen und vor allem Prostitution ein, der vom Internat ausgeht. Gleichzeitig verliebt er sich in rauer Weise in eine der taubstummen Prostituierten. Was folgt ist ein Portrait einer gerade durch ihre Stille erdrückenden Gewaltspirale, die einem schonungslos in den Magen schlägt. Der Sieger der Semaine de la Critique in Cannes ist im Gegensatz zum Sieger der Un Certain regard Sektion ein Film über den man reden muss und reden wird.

Dabei vertraut der Ukrainer Slaboshpytskiy auf lange Plansequenzen, die sich oft gleich einer Musical-Choreografie in fließenden und körperlichen Bewegungen entfaltet. So begleitet die Kamera eine Gruppe der Jugendlichen in einem seitlichen Travelling. Sie sammeln sich, sie begrüßen sich und laufen formiert los. Ein durchkomponierter und fesselnder Rhythmus entsteht, der ob der fehlenden Worte den Blick herausfordert und damit die Kapazitäten und in gewisser Weise auch das Wesen des Kinos entblößt. Die Schlägereien, Raubüberfälle und Sexszenen sind eigentlich Tanzszenen. Der schonungslose Sozialrealismus bricht jegliche Ästhetik auf, aber im Kern bewegt dieser musikalische Motor den Film. Natürlich ist The Tribe kein Stummfilm. Immer wieder kommen flüsternde Geräusche aus den Mündern der Protagonisten und ständig hört man die Umgebung. Es ist dennoch gut, dass Slaboshpytskiy außer in wenigen Beispielen auf ein überstrapaziertes Sound-Design verzichtet. Denn die Möglichkeiten einer plötzlichen Lautstärke sind verlockend. Einmal muss sich eine Figur lautstark übergeben und dieses von ihrem Körper ausgehende Geräusch ist ein kleiner Schock. Vielmehr gibt sich der Regisseur das ein oder andere Mal unnötigerweise der Schwäche hin sehr deutlich zu zeigen, dass diese Figuren nichts hören und damit auch nicht wahrnehmen, was für uns äußerst grausam ist. Manchmal gibt sich der Film diesem Effekt zu sehr hin.

The Tribe 2014

Oft steht die Kamera auch lange an einem Ort und erstickt damit den Zuseher, dem die Kehle zugeschnürt wird, ob der unfassbaren Brutalität, die sich auf dieser Insel unter dem Radar dessen, was wir öffentliche Wahrnehmung nennen, hinrichtet. Nur einmal gibt es ein Verhör bei der Polizei. Dieses scheint aber keine Konsequenzen zu haben. Zumindest keine einschneidenden. Die Zeichensprache selbst ist für jene, die sie nicht beherrschen ein faszinierendes Rätsel. Immer wieder glaubt man, dass man verschiedene Zeichen erkennt, es ist eine Freude sie zu lesen wie ein Bild, wie das Kino. Statt Mitleid für seine wirklich taubstummen Darsteller zu evozieren, nimmt der Film eine Perspektive ein, die keine Perspektive kennt. Hier geht es nicht um den Blick auf ein Taubstummeninternat, hier geht es um die schrecklichen Dynamiken aus dem Inneren dieser Welt. Dabei erinnert der Film in der Mischung aus formaler Konsequenz und inhaltlicher Brutalität an Irréversible von Gaspar Noé und 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu. Mit letzterem eint ihn die Brutalität einer Abtreibung. Aber dort wo Mungiu die Grausamkeit dadurch entfaltet, dass er uns aus dem Zimmer ausschließt, liegt sie für Slaboshpytskiy im unerträglichen Draufhalten. Am Ende trifft er einen so hart, dass man kaum mehr hinsehen kann und endet dann im exakt hoffnungslosesten Moment.

Neben der Gewalt spielt auch die Sexualität eine maßgebliche Rolle. Sergey bezahlt seine Angebetete, damit sie mit ihm schläft und kommt ihr dann doch immer wieder nahe. Dies sind die einzigen Momente des Glücks im Film, die in ihrer Länge unheimlich zärtlich und intensiv dargestellt werden. Später jedoch wird sich die Gewalt mit der Sexualität verbinden bei Sergey. Gruppendynamiken in dieser Hölle erinnern an Picco von Philip Koch. Nur gibt es dort Erklärungen, Ausreden und verbalen Terror während wir in The Tribe gar keine Chancen bekommen, zu verstehen. Vielmehr müssen wir ertragen und versuchen, aus unseren Beobachtungen alleine zu schließen. Irgendwann fällt der Abstand der Kamera auf. Es gibt nur marginale Naheinstellungen, alles findet in der Entfernung statt. Eine Welt ist dazwischen. So entsteht ähnlich wie im nebeligen Letter von Corbitt Howard und Sergei Loznitsa eine Entfremdung aus einer anderen(???) Welt, die einen tief berührt und nicht mehr loslassen will.

Filmfest Hamburg: Favula von Raúl Perrone

Favula von Raúl Perrone

Parte 1: la familia

Eine Hypnose, ein knallender Schuss, Musik. Wache jetzt auf-du bist im Urwald des Lebens. Deine Familie wartet mit dir im Flimmern einer Rearprojection. Hast du Angst, dass dein Vater erschossen wird? Ich habe Angst, dass das Haus brennt. Ein Kino brennt, die Bilder brennen vor meinen Augen, es sticht. Die Gesichter sind nicht, was ich verlange. Sie sind eine Blende. Meine Mutter ist ein Raubtier. Raubtiere lauern hinter dem Bild meiner Mutter. Sie schreien auch. Meine Mutter ist besorgt. Wohin sind ihre Kinder verschwunden? Wohin ist ihr Mann? Ein knallender Schuss, die Ecken des Bildes vibrieren, immerzu, eine Framing-Penetration. An wen wurden die Kinder verkauft? Sie haben mich ans Kino verkauft. Ich komme nur mehr zum Essen nach Hause, habe Angst zu vergessen.

Favula von Raul Perrone

Parte 2: el cine

Vögel zwitschern durchs Bild. Sie sind nicht aus dieser Welt. Sie zerbrechen, ob der Bilder. Die Gesichter im Urwald sind nicht dort. Sie sind in einem anderen Bild. Ein Vogel, kleiner kämpfender Vogel, vielleicht ein Kolibri schläft mit einer Frau, sie schwitzt, jeder Tropfen ist im Kino. Ich bin im Kino, oder? Musik, eine Hypnose, wieder ein Schuss im Frieden. Der Schock kommt durch den Rhythmusbruch. The Most Dangerous Game. Wohin wandern wir, wenn wir im Kino träumen? Ich träume, muss träumen, darf träumen, als wären meine Gedanken im Film nichts anderes als eine Rearprojection. Hinter mir ist eine Hypnose. Im Kino sitzt sie neben mir. Ich fliege zum Mond.

Filmfest Hamburg: Hermosa juventud von Jaime Rosales

Jaime Rosales Beautiful Youth

In gewisser Weise fühle ich mich verpflichtet über den Film Hermosa juventud von Jaime Rosales zu schreiben, da er auch Jugend ohne Film heißen könnte. Darin entwickelt Rosales anhand neorealistischer Tendenzen eine politisch aufgeladene Ausweglosigkeit von Twenty-somethings in Madrid. Gleichzeitig macht er sich Gedanken über die Veränderungen einer medialen Welt bezüglich der Bilder des Kinos selbst.

Es geht um Natalia und Carlos, ein hoffnungsvolles und zugleich hoffnungsloses Paar, das in einer erstaunlichen Gewöhnlichkeit dargestellt wird. Dieser Alltag ist deshalb so außergewöhnlich, weil er sich zum einen in ein nicht immer glaubwürdiges Extrem verändern wird und zum anderen, weil Rosales das Leben dieser Figuren fast als Spielfläche des Gewöhnlichen verwendet. Damit soll gesagt werden, dass die Dinge im Film einfach passieren und nicht wirklich aufgebaut werden. Das Leben ist etwas anderes als die Figuren. Eine Nähe zu Roberto Rosselinis sozialrealistischen Angriffen auf die Bequemlichkeit des Alltags durch das Zeigen der Ungerechtigkeit jenes Alltags kann dabei kaum übersehen werden, denn Rosales markiert mit Hermosa juventud einen politischen Verzweiflungsschrei, der sich nicht nur gegen die aktuelle Finanzkrise in Spanien wendet sondern aus ihrem Inneren entsteht.

Oft zeigt er seine Figuren im 16mm Rauschen vor weißen Wänden, die grau wirken. Da ist nichts. Karge Wüstenlandschaften von verdreckten Wohnvierteln, immer wieder sehen wir Türen im Anschnitt, bewegungslose Mütter, die sich dem Schicksal ihrer Kinder anpassen, die nicht mehr helfen können so wie der Vater, der kein Geld mehr hat und seiner Tochter verspricht ihr immer zu helfen. Und mitten in dieser Ausweglosigkeit, die von einer Schwangerschaft und ausglühenden Liebe von Natalia verschlimmert wird, existiert eine mediale Welt. Diese integriert Rosales völlig skrupellos in seine filmischen Bilder. So entwickelt sich vor unseren Augen plötzlich ein pixeliger Internetchat, eine Fotoschau, ein Bildermeer, das sich in einer Geschwindigkeit vor uns abspielt als wäre es eine projizierte Filmrolle. Nur, dass wir die digitalen Bilder dann nicht mehr erkennen können, nur einen Rausch, zu schnell, zu unecht. Es gibt ein Skypetelefonat in Leinwandgröße und auch im Dialog werden diese Welten von japanischen Werbeclips bis zum ewigen Messi Vs Ronaldo Gipfel thematisiert (die Antwort ist Ronaldo). Eigentlich sollte das auch völlig normal sein, denn wenn jemand mit einem Naturalismusanspruch an junge Protagonisten herangeht, die in der Wirklichkeit leben und in dieser leben müssen, dann muss er diese Welten auch mitverarbeiten. Manchem mag da die nostalgische Kinnlade entsagen, aber Film kann nach wie vor die Realität abbilden und das ist die eigentliche Nostalgie.

Beautiful Youth Jaime Rosales

Das ist eine große Aufgabe für Film. Denn schließlich ist diese Onlinewelt auch gleichzeitig der Feind, der Konkurrent, der Freund, die Werbemaschine, der Auswerter, der Verbreiter. Nun ist Film eine Kunst und wird nicht einfach wie das Fernsehen versuchen, das Internet mit in seine Strukturen zu integrieren und über Dinge berichten, die im Internet auftauchen, um eine Art Oberherrschaft zu bewahren. Nein, Film muss sich nicht an diese Regeln halten. Auch aus diesem Grund habe ich mich auch schon mehrfach gegen die große Freude gestellt, die scheinbar davon ausgeht, wenn beliebte TV-Serien im Kino gezeigt werden oder/und wie es hier beim Filmfest Hamburg der Fall ist in Festivals integriert werden. Das ist ein industrieller Hilfeschrei, der weder etwas mit dem Kinoerlebnis noch mit dem TV-Erlebnis noch mit dem Interneterlebnis zu tun hat. Aber Film kann für sich eigene Schlüsse aus dieser Veränderung ziehen und damit spielen. Rosales wagt ein solches Spiel, dass ihm manchmal äußerst gut gelingt und manchmal gar nicht.

Da ist zum einen der Pornokniff. Ähnlich wie in Zack and Miri Make a Porno von Kevin Smith gehen Natalia und Carlos in eine Internet-Pornosendung, um ein wenig Geld zu verdienen und auch, weil es eine sexuelle Fantasie von Carlos ist. Das Bild verändert sich. Statt eines Filmbildes sehen wir nun das digitale Video eines Pornos. Die beiden Laiendarsteller werden auf dem Sofa befragt und schlafen im Anschluss miteinander. Dabei bedient Rosales inhaltliche Klischees, um sie in seiner Form zu brechen. Das Problem stellt sich erst ein als er am Ende endgültig in der digitalen Welt verschwindet und Natalia, die inzwischen in Hamburg arbeitet aus finanziellen Notständen erneut in einem Porno landet. Es scheint mir doch etwas an den Haaren herbeigezogen, dass sie bei aller Ausweglosigkeit ausgerechnet in einen Porno läuft. Formell dagegen funktioniert der Kniff äußerst gut, denn schließlich existiert am Ende kein Film mehr sondern nur die Pixel zwischen Spanien und Deutschland, das Stocken der platten Bilder, der Voyeurismus. Ähnlich gelungen ist ein schockierender Moment früher im Film als Carlos kurz nach dem Bekanntwerden der Schwangerschaft von Natalia am Bahnhof von einem Unbekannten angegriffen wird. Plötzlich steht das Bild schief. Es hat sich um 90 Grad gedreht und schwenkt im Kreis. Ist das eine Überwachungskamera? Was passiert da? Hermosa juventud ist auch ein Film über die menschliche Unsicherheit in einer digitalen Welt. Einmal fragt Carlos Natalia während eines Skypetelefonats, ob hinter ihr gleich ihr geheimer Freund auftauchen wird. Der Streit, der die Beziehung entzweit passiert fast ausschließlich über SMS und Chat. Damit ist er für uns nicht wirklich greifbar und genau das ist interessant.

Hermosa juventud zeigt, dass die Grenzen für Film nicht unbedingt Filme eingrenzen. Sie können sie gar bereichern. Auch wenn das ein schmaler Grat ist.

Filmfest Hamburg: Turist von Ruben Östlund

Turist Ruben Östlund

Manchmal spielen Menschen Liebe, Schmerz oder Familie, um diese zu bewahren, um sich nicht einzugestehen, dass es eigentlich ganz anders wäre. Dann lächeln sie, auch wenn es sie innerlich zerreißt und sie sind zärtlich, auch wenn sie schreien müssen. Und manchmal handeln sie dann doch so wie sie fühlen. Sie schreien, schlagen und laufen davon. Meist folgt die Scham oder die Verdrängung. Beides ist unglücklich und absurd. Es gibt dieses Versprechen am Anfang einer Liebe: Wir sind anders. Und es gibt dieses Versprechen in jedem von uns: Ich bin richtig. Erst, wenn man bemerkt, dass dies Lügen sind, kommt die Krise. Im Fall von Turist von Ruben Östlund, der bislang der bei weitem beste Film ist, den ich auf dem Filmfest in Hamburg und im Kinojahr 2014 gesehen habe, kommt sie durch ein traumatisches Erlebnis, wie eine Explosion aus den Gefühlen und Instinkten seiner Figuren. Ein Schlag in die Mägen all jener, die an die Wahrheit der Liebe glauben, ein Film, bei dem mir kalt wurde, den ich körperlich spürte.

Es geht um eine schwedische Familie, die in den französischen Alpen Skiurlaub macht. Gleich in der ersten Einstellung lassen sie sich von einem Profifotografen im verlorenen Weiß der Berge fotografieren und halten so einen Moment fest, weil ein Moment hier alles verändern kann, weil er zählt und Dinge definiert. Später wird diese Familie auf der wunderschönen Terrasse des Hotelrestaurants sitzen und einen dieser zahlreichen knallenden Schüsse hören, die kontrollierte Lawinen auslösen. Dann sehen sie eine Lawine auf sich zu kommen. Aber kein Grund zur Panik, denn es handelt sich ja um eine kontrollierte Schneemasse…oder? Oder nicht. Instinktiv greift Tomas nach seinem Handy statt nach seinen Kindern und seiner Frau Ebba und rennt davon. Ebba hält sich schützend über ihre Kinder und verschwindet in einem weißen Dunst. Die Lawine ist vorher zum stehen gekommen. Das war nur der aufgewirbelte Schnee. Aber eine andere Lawine wurde losgetreten. Jene, die eine ganze Familie, eine ganze Liebe, ein ganzes Leben mit einer Sekunde in Frage stellt.

Turist von Ruben Östlund

Damit bewegt sich Östlund auf ähnlichem Terrain wie zuletzt Julia Loktev in ihrem The Loneliest Planet. Verrät hier das Unterbewusstsein etwas über die Wahrheit einer Person? Hatte Loktev ihre Handlung in der georgischen Steppe beobachtet und damit eine Isolierung und Leere zum Teil ihrer Sprache gemacht, findet Östlund sein Pendant in der Künstlichkeit und fehlenden Anonymität eines bizarren Skihotels. Bizarr ist weniger das Hotel sondern die Art, in der Östlund es filmt. Es wirkt durch sein Framing und durch die Musikuntermalung mit Vivaldi so als wäre das ganze eine Kunstwelt, vielleicht ein Freizeitpark, jedenfalls nichts echtes. Selbiges gilt für die Skipisten, die immerzu im Nebel verschwinden oder in geometrischen Formen aufgelöst werden. Dort scheinen Maschinen ihr eigenes Leben zu führen ganz so wie ein merkwürdiger Mann vom Hotelpersonal, der als ständiger Beobachter (und vor allem als einziger Beobachter) die nächtlichen Konflikte im Hotel beobachtet und sich dabei eine Zigarette anzündet. Damit erinnert Turist unter anderem an Jia Zhang-kes The World, indem das Setting auch ein deformierter Star war.

Darin liegt – und das ist wirklich bemerkenswert – Komik. Mancher bezeichnet Turist gar als Komödie. Das geht, weil Östlund mit einem derartigen Zynismus und einer brutalen Schärfe auf die Lügen einer Liebe und familiären Beziehung blickt und das immer wieder mit schockierenden Momenten (ein Ufo-Angriff in einem kontemplativen Moment oder ein OneLiner am Ende eines existentialistischen Gesprächs) aufbricht. Aber der Humor hat hier immer eine Kehrseite der wahrhaftigen Offenbarung, genauso eben wie die Realität immer etwas Absurdes hat. So werden Tränen vorgetäuscht und Launen wechseln ständig, Versprechen werden nicht gehalten und immer wieder wird versucht, ein Bild zu bewahren. Ein Bild von einem Ideal, das scheitern muss. Für Tomas führt das in einen Selbsthass. Bei Ebba in paranoiden Eskapismus. Mir ist immer noch kalt, ob der tatsächlichen Show, die die Eltern dann vor ihren Kindern abspielen, um die Rolle des Vaters wiederherzustellen. Diese Familie macht den ganzen Film nichts anderes als ein Familienfoto. Nur, dass man deutlich sehen kann, dass es nicht echt ist.

Der einzige Moment wahrer Liebe findet sich kurz vorher als die Kinder das geben, was ihr Vater ihnen nicht gab: Schutz. Als er heulend zusammenbricht werfen sie sich auf ihn und versuchen ihm zu helfen. Der einzige Moment von Wahrheit, der einem von Östlund brutal entrissen wird. Brutalität ist allgemein ein gutes Stichwort. Östlund denkt sich – und hier würde ein Kritikpunkt ansetzen, wenn er es nicht so perfekt machen würde – viele kleine Gemeinheiten aus, die seine Figuren weiter entzweien, gegeneinander und untereinander. So werden zwei Freunde der Familie am Abend zum Essen eingeladen und vor ihnen wird das ganze psychologische Theater zwischen Verdrängung und Hass durchgespielt. Wie auf einer Buñuel-Bühne des sarkastischen Selbstmitleids. Aus einer fast voyeuristischen Lust wird die Kamera dem befreundeten Paar in ihr Bett folgen und beobachten welche Krisen durch dieses Erlebnis in ihrer Beziehung entstehen. Als würde es die Zuseher in der Nacht nach dem Film filmen. Später sitzt Tomas mit jenem Freund bei einem Bier auf der Terrasse. Eine junge Frau kommt zu ihnen, sie scheint sie anzubaggern. Sie sagt, dass ihre Freundin gesagt hat, dass Tomas der schönste Mann auf der Terrasse sei. Es läuft Club-Musik, sie tragen Sonnenbrillen und trinken Bier. Sie lächeln und sind lächerlich cool. Dann kommt die Frau zurück und entschuldigt sich. Es wäre gar nicht um Tomas gegangen, sie hätte sich getäuscht.

Turist2

Östlund lässt einen Geschlechterkampf entstehen. Dieser folgt aber weniger einer großen biblischen Idee sondern einer ungeheuren Beobachtungsgabe und den Figuren selbst. Damit steht er trotz oder gerade wegen der humoristischen Einflüsse in Verbindung mit Ingmar Bergman und Bruno Dumont (vor allem dessen Twentynine Palms). Es geht darum ein Gesicht zu haben und es zu verlieren, es zu wahren, es zu vergessen, es zu akzeptieren, es zu hassen, es zu lieben. In Filmen wie Climates von Nuri Bilge Ceylan oder den genannten Twentynine Palms und The Loneliest Planet suchen Regisseure nach der verbitterten Seele der Liebe, dem Abgrund von Beziehungen. Sie werden dafür oft kritisch beäugt, denn meist entstehen Filme, die einem Schmerzen zufügen oder mit denen man nicht einverstanden ist. Zyniker stehen prinzipiell über dieser Art von Film. Es wird ignoriert, dass das ihre Größe ist, weil sie eine Ehrlichkeit besitzen, die ihren Subjekten oft fehlt. Bei Turist ist das Außergewöhnliche, dass er es schafft zynisch von Gefühlen zu erzählen und gefühlvoll von Sarkasmus. Er hat einen Film aus und mit einer Angst gemacht. Das Ungewisse in einem selbst, die Schutzlosigkeit, das Schauspiel, der Egoismus. Einer der besten Filme über die Heuchelei in menschlichen Beziehungen. Und doch ein Liebesfilm.