Rather Be A Dick Than A Swallower: Welcome to New York von Abel Ferrara

Wie so oft war es im Fall von Welcome to New York von Abel Ferrara die richtige Entscheidung, mit der Betrachtung des Films so lange zu warten, bis die Polemiken und Diskussionen um Marketing, Inhalt und Authentizität des auf der Dominique Strauss-Kahn-Affäre beruhenden Films, nicht mehr wirklich präsent waren. So konnte ich mich auf den Film alleine einlassen. Und wie begeistert ich bin! Abel Ferrara genießt in bestimmten Kreisen ein sehr hohes Ansehen, dessen Herkunft mir immer etwas unklar schien. Zwar konnte ich Filmen wie King of New York, Bad Lieutenant oder The Addiction durchaus etwas abgewinnen, in Jubelstürme bin ich aber deshalb nie verfallen. Nach dem für mich eher enttäuschenden Pasolini im vergangenen Jahr bin ich also eher mit gedämpften Erwartungen in den Film, der letztes Jahr unter bizarren Umständen inoffiziell am Rande des Festivals in Cannes gezeigt wurde, gegangen.

Depardieu Strauss-Kahn

Ferrara wagt eine gewohnt vulgäre, direkte und freche Vermischung fiktionaler Erfindungen und möglichst detailgetreuer Darstellungen. Nach einigen Einordnungen und Erklärungen der Fiktionalität des Films und einer virtuosen Verbindung kapitalistischer, politischer, französischer und amerikanischer Symbole in der Anfangssequenz, folgen wir im Stil von La Grande Bouffe eine lange Zeit einer Orgie mit verschiedenen Prostituierten, die noch während der Arbeit beginnt und sich bis zum nächsten Morgen zieht. Dabei legt Ferrara den Fokus auf das Animalische seiner Figur Devereaux, die von einem wild grunzenden und nach Luft schnappenden Gérard Depardieu in einer großartigen Perfomance verkörpert wird und mal mehr und mal weniger deutlich auf Strauss-Kahn basiert. Er wirkt zugleich unbeholfen als auch absolut dominant und widerwärtig im Umgang mit den Frauen, die das, wohl letztlich aufgrund des Geldes, dennoch glücklich über sich ergehen lassen. Am nächsten Morgen kommt es zum weltberühmten Zwischenfall mit der Hotelangestellten. Ferrara zeigt diese Sekunden in einer Art und Weise, die sehr deutlich ist, aber dennoch Raum zur Spekulation lässt. Zumal Devereaux später seiner Frau ein Geständnis macht, das mehr impliziert als wir sehen konnten. Wie meist in diesem Film zeigt Ferrara genau das, was notwendig ist. Immer wieder gibt es kurze Schwenks oder Schnitte, die unser Bild des Geschehens aufs Neue hinterfragen. Randfiguren bekommen plötzlich Bedeutung und Ferrara interessiert sich auch für ihre Gleichgültigkeit oder Emotion. Eine tiefe Verletzung tritt zum Beispiel auf, als ein Schwenk im Gericht für eine kurze Sekunde plötzlich die Tochter von Devereaux im Bildhintergrund entdeckt. Es ist nur konsequent, dass viele Szenen zunächst Unbekannten oder Randfiguren folgen bis der Protagonist das Bild betritt. In der Folge kommt es zur Verhaftung am Flughafen und der einflussreiche Bankenchef, der sich um den Job als Präsident Frankreichs bemüht, wird in ein Gefängnis gebracht. Diesen Sequenzen folgt der Film mit einer derart minutiösen Detailtreue, die weder Absurditäten noch Alltäglichkeiten ausspart, dass Ferrara hier eine Intensität der laufenden Zeit erreicht, wie man sie derzeit häufig nur im rumänischen Kino wahrnehmen kann. Das Geld seiner Frau und das Schauspiel in der Öffentlichkeit sind für Ferrara der Grund, warum die Anklage schließlich fallengelassen wird. Bis dahin verbringt Devereaux sein Leben in einem äußerst teuren Appartement mit Fußfessel und einem unveränderten sexuellen Drang. Dabei zeigt Ferrara lange Streitgespräche zwischen dem Verbrecher und seiner Frau Simone. Wie schon in Pasolini muss sich Ferrara dabei fragen lassen, warum er die beiden Englisch sprechen lässt. So sehr man darin irgendwelchen versteckten Botschaften lesen mag, so bizarr sind diese sprachlichen Verirrungen doch im Angesicht der sonstigen fast dokumentarischen Detailtreue, die eben nicht nur für den Umgang mit den realen Vorbildern gilt, sondern auch für den Umgang mit den Darstellern, die in diesem Fall beide Franzosen sind.

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Mehrfach beschimpft Simone ihren Mann als Kind. Welcome to New York zeigt Macht als einen eigenständigen Charakter. Der reale Fall der Strauss-Kahn-Affäre ist nur eine Basis für moralisch-philosophische Überlegungen bezüglich kapitalistischer Macht und der Wirkung dieser Macht auf Menschen und Systeme. Je länger man Zeit mit dem zugleich bedrohlichen wie auch bemitleidenswerten Devereaux verbringt, desto mehr kommt man zum Schluss, dass dieser Mann von seiner eigenen Macht beherrscht wird. Das Perverse daran ist, dass ihm selbst das kaum schadet, sondern nur anderen Menschen. Gegen Ende verfällt er in einen existentialistischen Monolog, der eine Gleichgültigkeit gegenüber der Sinnlosigkeit der Existenz einfordert und damit einen nihilistischen Turn in die humanistischen Überlegungen eines Camus legt. Der Film zeigt den Traum und die Einsamkeit eines Don Juanismus, der nicht vom Willen eines einzelnen Mannes ausgeht, sondern von dessen egoistischer Gleichgültigkeit und Machtlosigkeit im Angesicht seiner eigenen Macht. In diesem Sinn ist Welcome to New York eine Parabel und die Blicke von Depardieu in die Kamera sowie der vieldeutige Schluss um Devereaux und sein Hausmädchen, das er begehrt und dann fürs erste davonkommen lässt, deuten auf einen größeren Zusammenhang von Macht, Geld und Öffentlichkeit.

Ferrara wählt eine aggressive filmische Form um diese Verbindungen zu verdeutlichen. Der Low-Budget Look und der Drang des Filmemachers, an den realen Orten der Ereignisse zu drehen, stellen Fragen an die Darstellbarkeit und Darstellung von Verbrechen als zeitgenössisches Spektakel für die Massen. Es gibt erhöhte Monologe, Found Footage und scheinbar mit versteckter Kamera gedrehte Szenen in einer Hotellobby. In mancher Hinsicht erinnert der Film tatsächlich an Laura Poitras Citizenfour nicht nur wegen des Settings und des kritischen Aktualitätsbewusstseins, sondern auch, weil Ferrara etwas Zufälliges konstruiert, das immer wieder so wirkt als würde er im Geheimen drehen müssen. Nicht, dass wir uns da falsch verstehen, das Ganze erzeugt keinen Suspense wie bei Poitras, aber eine Direktheit, die moralische Fragen aus der Handlung gewinnt und nicht Handlung als Grund moralischer Fragen erzeugt. Ferrara vermischt dabei alles und fragt damit ähnlich wie Cristi Puiu in dessen Aurora nach dem, was wir sehen, wenn wir einen Film sehen. Ferrara betreibt dieses Spiel in vielerlei Hinsicht deutlich vulgärer, direkter und naiver als Puiu, aber in der Doppelung mit dem medialen Skandal um die Affäre ergibt sich ein absolut überzeugendes Bild, das ständig so tut als würde es von Dichotomien erzählen, aber letztlich keine findet. Ein plötzlicher Verweis auf die französische Filmgeschichte mit Szene aus Domicile conjugal von François Truffaut, die Blicke in die Kamera, Handybilder und eine fast pornographische Darstellung der Sexszenen zu Beginn sind immer zugleich eine Kritik an dieser Darstellung als auch die Freude daran. Ferrara wirkt manchmal wie ein Teenager, der etwas gefunden hat und es möglichst provokativ unter die Leute bringen will, aber genau mit dieser Eigenschaft ist er der perfekte Regisseur für diesen Stoff.

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Das Besondere an Welcome to New York, zumal in einer Zeit, in der filmischer Realismus häufig mit einem Verschwinden des Autors gleichgesetzt wird, ist nicht nur die Ambivalenz des Dargestellten sondern auch die Ambivalenz der Darstellung. So kann man sich nie sicher sein, ob man gerade Ansichten von Strauss-Kahn, Devereaux, Depardieu oder Ferrara vernimmt. Der Film spielt äußerst versiert mit diesen verschiedenen Ebenen. Dabei schont sich Depardieu keine Sekunde. Sein Körper, seine Beziehung zu Frankreich („Vive la France“) und sein Alter werden schonungslos exponiert. Dabei erfährt die Figur eine filmische Gerechtigkeit dort wo die juristische Gerechtigkeit versagt. Der schockierende Umgang mit den Frauen zu Beginn des Films schlägt auf den Mann zurück, wenn die Kamera ihn beim Aus- und Anziehen im Gefängnis filmt. Die Kamera in Welcome to New York ist ein Täter, ein Vergewaltiger, die ebenfalls von ihrer eigenen Macht beherrscht wird. Trotz dieser nicht versteckten Eigenschaften, gelingt es Ferrara immer wieder sich selbst zu hinterfragen (mit den ganzen Erklärungen und dem vorangestellten Interview mit Depardieu, indem er seine schauspielerische Beziehung zu Monstern erklärt sogar etwas zu sehr für meinen Geschmack) und sich letztlich auf künstlerische Beobachtungen zu berufen, die sich Zeit lässt und die immer dann, wenn man glaubt eine politische oder moralische Tendenz in den Bildern zu erkennen, eine Kehrtwende macht. Nicht nur in diesem Sinn ist Welcome to New York ein aufregender Film, der wichtige moralische Fragen stellt, der etwas ehrlich und direkt hinstellt, von dem man nicht immer sagen kann, ob es eine Meinung oder eine Beschreibung ist und der es gerade dadurch für eine öffentliche und subjektive Debatte freigibt.

2014: Ein Bildgedicht

P'tit Quinquin von Bruno Dumont

2014 ist….

…Erwachsenwerden.

Boyhood von Richard Linklater

Boyhood von Richard Linklater

…Licht, Schatten und Ventura.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa

…Eintauchen in unendliche Kinowelten.

Guardians of the Galaxy von James Gunn

Guardians of the Galaxy von James Gunn

…philippinischer Dschungel.

Mula sa kung ano ang noon von Lav Diaz

Mula sa kung ano ang noon von Lav Diaz

…Awesome!

The Lego Movie von Phil Lord/Chris Miller

The Lego Movie von Phil Lord/Chris Miller

…Erinnerung an einen guten Freund.

Life Itself von Steve James

Life Itself von Steve James

…ein Land der Wunder.

Le Meraviglie von Alice Rohrwacher

Le Meraviglie von Alice Rohrwacher

…All that Jazz!

Whiplash von Damien Chazelle

Whiplash von Damien Chazelle

…stumme Gewalt.

Plemya von Myroslav Slaboshpytskiy

Plemya von Myroslav Slaboshpytskiy

…ein Puzzle.

Gone Girl von David Fincher

Gone Girl von David Fincher

…Kappadokische Kammerspiele.

Kış Uykusu von Nuri Bilge Ceylan

Kış Uykusu von Nuri Bilge Ceylan

…endloser Konflikt.

Das erste Meer von Clara Trischler

Das erste Meer von Clara Trischler

…Fußballspielen im Schnee.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu

…die Bestie Mensch.

The Salt of the Earth von Wim Wenders und Julian Ribeiro Salgado

The Salt of the Earth von Wim Wenders und Julian Ribeiro Salgado

…ein Doppelgänger.

Enemy von Denis Villeneuve

Enemy von Denis Villeneuve

…Entschleunigung.

Journey to the West von Tsai Ming-liang

Journey to the West von Tsai Ming-liang

…schräge Vögel.

Birdman von Alejandro González Iñárritu

Birdman von Alejandro González Iñárritu

…ein Unterschlupf in einer kalten Winternacht.

L'Abri von Fernand Melgar

L’Abri von Fernand Melgar

…lebendige Kunst, lebendige Geschichte.

National Gallery von Frederick Wiseman

National Gallery von Frederick Wiseman

…Christbäume und Einsamkeit.

Christmas Again von Charles Poekel

Christmas Again von Charles Poekel

…nicht in Worte zu fassen.

P'tit Quinquin von Bruno Dumont

P’tit Quinquin von Bruno Dumont

…im Kinosaal erblinden.

Adieu au Langage von Jean-Luc Godard

Adieu au Langage von Jean-Luc Godard

…ein Besuch bei einer Erinnerung.

Gyeongju von Zhang Lu

Gyeongju von Zhang Lu

…Liebe und Unschuld.

Still the Water von Naomi Kawase

Still the Water von Naomi Kawase

 

 

 

Das ganze Jahr in einem Film: The Salt of the Earth von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado

Wenders und Salgado

Was eigentlich ein Jahresrückblick unbestimmter Form hätte werden sollen, wird nun doch eine Besprechung eines einzelnen Films. Ausschlaggebend dafür war ein ordinärer Kinobesuch, eine Kurzschlussentscheidung, Zufall. Man verabredet sich für einen Film, über den man nicht allzu viel weiß, außer dass er in Cannes gelaufen ist und von einem Regisseur stammt, dem man vertraut. Dieser Regisseur ist Wim Wenders und beim angesprochenen Film handelt es sich um die Dokumentation The Salt of the Earth, den Wenders gemeinsam mit dem Brasilianer Juliano Ribeiro Salgado realisiert hat. Der Zufall wollte es also, dass im Monat Dezember auf Jugend ohne Film Wim-Wenders-Wahn ausbricht – und das zurecht, denn The Salt of the Earth ist ein monumentales Werk mit persönlicher Note und so vielen Facetten, dass mir eine Besprechung des Films zugleich ermöglicht ein ganzes Jahr Revue passieren zu lassen – und das nicht nur in filmischer Hinsicht. Es ist kein Zufall, dass sich Wenders für diesen Film Unterstützung bei einem Brasilianer mittleren Alters gesucht hat. Juliano Ribeiro Salgado ist der älteste Sohn des Fotografen Sebastião Salgado, der seit den 80er Jahren vor allem durch seine sozialdokumentarischen Reportagen für Furore gesorgt hat. Wenders ist ein jahrelanger Bewunderer von Salgado senior und macht sich mit seinem Film auf Entdeckungsreise. Die Destination dieser Reise ist nicht bloß das Oeuvre des mittlerweile 70-jährigen, immer noch rüstigen Brasilianers, sondern das Weltbild eines Mannes, der Licht und Schatten gesehen und festgehalten hat wie kaum ein anderer. In den 80er Jahren berichtete Salgado vor allem aus Krisengebieten rund um den Globus, unter anderem aus der Sahelzone und später auch vom Jugoslawienkrieg und dem Genozid in Rwanda. Seine Bilder gingen um die Welt – in Ausstellungen und in Buchform – aber angesichts seiner Erfahrungen fühlte er sich schließlich nicht mehr im Stande weiterzumachen mit seinen Sozialreportragen.

Erschüttert von der Katastrophe Mensch, von der Bestie Mensch, zog sich Salgado zurück in die Ödnis, die elterliche Ranch, die ihm sein Vater vermacht hat, um sich dort einen neuen Garten Eden zu schaffen. Er gründete das Instituto Terra und forstete den niedergeholzten Waldbestand des väterlichen Anwesens wieder auf. In den Szenen des Films, die diese Entwicklung thematisieren, wandert Wenders auf einem schmalen Grat, denn ein minderer Filmemacher hätte den Film womöglich in Heiler-Welt-Manier und mit ordentlich Pathos  ausklingen lassen. Wenders jedoch, lässt Salgados Werk zu Wort kommen und präsentiert auch noch seine späteren Arbeiten, die weniger einem sozialdokumentarischen Impetus folgen, aber dafür die Pracht der Natur in ihrer Ursprünglichkeit darstellen und so erstmals die Erde selbst, als Lebensraum für das Raubtier Mensch, thematisieren.

Foto von Salgado

Salgados Lebenslauf und Oeuvre allein machen natürlich noch keinen F(rühling)ilm und obwohl die Fotografien Salgados, einen prominenten Platz im Film einnehmen, ist The Salt of the Earth sehr viel mehr als eine Fotocollage. Teils in Voice-over, teils in Interviewsituationen erzählt Salgado von seinen Erlebnissen und kontextualisiert das Bildmaterial. Ergänzt wird der Film durch Bildmaterial seines Sohnes, das dieser auf den letzten großen Reisen des Vaters nach Indonesien und Sibirien aufgenommen hat. Diese Aufnahmen sind die einzigen farbigen Bilder des Films, denn passend zu Salgados Schwarzweißaufnahmen sind auch die von Wenders‘ Team gefilmten Passagen in ähnlich kontrastreichem Schwarzweiß gehalten. Ähnlich wie in den großen „Künstlerfilmen“, wie sie André Bazin in Malerei und Film beschreibt, gelingt es Wenders die Kunstwerke Salgados in Dialog treten zu lassen, so entwickelt sich ein Diskurs zwischen den Fotografien untereinander, dem Fotografen, dem Film(emacher) und der Außenwelt. Vieles hat der Film der Macht der Fotos zu verdanken, die ihm als Korsett dienen, denn selbst ohne Salgados erklärende Worte erzählen diese teils grauenvollen, aber immer imposanten, Bilder ihre Geschichten und zeugen von der Brutalität der Bestie Mensch. Zugleich zeigt sich in dieser animalischen Natur des Menschen, und Salgado bezeichnet den Menschen an mehreren Stellen als Tier, die Schönheit der Welt genauso wie in seinen späteren Natur- und Tieraufnahmen. Als Salgado Ureinwohnerstämme im indonesischen und brasilianischen Dschungel besucht lichtet er diese Menschen genauso ab wie die Walrossherden in Sibirien und im Prinzip auch genauso wie die Flüchtlingsmassen im Sudan und in Rwanda. Erst der Blick auf die Natur, beziehungsweise auf Salgados Naturaufnahmen macht deutlich, dass er seine Arbeits- und Fotografierweise eigentlich kaum an die neuen Motive anpassen musste – das Raue und Unbeugsame der Natur ist in einem Felsvorsprung eines Bergmassivs genauso gewahr, wie in der Falte im Gesicht eines hungernden Kindes.

Vor allem Salgados Reportagen aus Afrika zeugen von einer ungemeinen Kompromisslosigkeit und Mut zur Dunkelheit, einer Dunkelheit, die ihn schließlich beinahe zerbrechen ließ. Kompromisslosigkeit scheint mir in meiner Auseinandersetzung mit Kunst in den letzten Wochen und Monaten zu einem immer wichtigeren Schlagwort zu werden. Nicht, dass das eine sonderliche bahnbrechende Feststellung wäre, aber die letzten Tage des Jahres 2014 sind für mich untrennbar mit diesem Begriff verbunden. Ich denke diese Kompromisslosigkeit unterscheidet nicht nur die besten Filmkünstler von der Masse der Filmemacher am Festivalzirkus, sondern lässt auch in kleinerem Rahmen Filme, die in einem Studiokontext entstehen aus der Masse hervorstechen. Nirgends wird das deutlicher als im Oeuvre John Fords, über das ich mir bei der Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums ein Bild machen konnte, und dem sein Platz im Filmpantheon ohne Zweifel gebührt. Ein Film von John Ford ist immer in erster Linie ein Ford-Film und kein MGM-, Republic- oder was-auch-immer-Film. Aber auch die Gegenwartsfilmproduktion hatte dieses Jahr zumindest zwei „Studiofilme“ zu bieten, die ich an dieser Stelle erwähnen möchte (natürlich nur um unsere Klickzahlen in die Höhe zu bekommen und Patrick zu ärgern): Zum einen ist das Marvels Guardians of the Galaxy, eine sehr schöne und stimmige Einführung in eine Welt von Star-Wars-Dimensionen, in der die Kunst des Geschichtenerzählens mit Fanboyservice und Adrenalinrausch Hand in Hand geht, was womöglich, für einen Film dieser Machart unüblich, aufs Konto des Regisseurs und Drehbuchautors James Gunn geht. Zum anderen ist das The Lego Movie, das einen knalligen Farbrausch mit Meta-Parodien paart und als postmoderne Animationsoper im besten Sinne beschrieben werden könnte. In beiden Fällen, so kommt mir vor, sind sich die Macher sehr darüber im Klaren, welch limitiertes schöpferisches Potenzial sie innerhalb der starren Formeln des Studiodrehplans in der Hand haben, weshalb sie umso mehr versuchen diese Fesseln selbst zu thematisieren; subversive Hollywood-Guerilla.

Foto von Salgado

Doch zurück in der Gegenwart sehen wir uns nicht nur mit postmodernen Hollywoodspielereien konfrontiert, sondern auch mit dem Ernst des Lebens. Die menschliche Bestie enthauptet im Namen der Religion „Ungläubige“; ein Regime kämpft gegen eine Rebellenarmee kämpft gegen einen Islamischen Staat und der westliche Beobachter sieht sich gänzlich überfordert mit den Partikularinteressen der verschiedenen Parteien. Fakt ist, was Salgado vor zwanzig Jahren an die Grenzen seines menschlichen Einfühlungsvermögens brachte passiert noch immer, und immer weiter. Salgado spricht in seinem Off-Kommentar im Film immer wieder von Katastrophen, wenn sich die Vertriebenen in schier aussichtslosen Lagen befinden und immer weiter fliehen müssen, vor Hunger oder bewaffneten Kämpfern. Im syrisch-irakischen Grenzgebiet spielt sich eine ebensolche Katastrophe ab und sie wird uns per Fernsehen und Internet sogar frei ins Haus geliefert. Einen Salgado braucht es gar nicht mehr um uns darauf aufmerksam zu machen und trotzdem bleiben wir indifferent. Ein Spendenaufruf für hungernde afrikanische Kinder ist leichter zu beantworten als ein Hilferuf syrischer Flüchtlinge, die in Internierungslagern an der türkischen Grenze vor sich hinvegetieren. Und nicht bloß, dass nicht auf diese Katastrophe und diese Hilferufe reagiert wird, in einem zu meinen Lebzeiten ungekannten Maß von Fremdenhass und Egozentrismus, werden diese Rufe mit einer Kakophonie von idiotischer Polemik bekämpft und zu übertönen versucht.

In diesen Momenten wünscht man sich dann doch wieder, dass nicht The Lego Movie und Guardians of the Galaxy an der Spitze der Kinocharts stehen, sondern The Salt of the Earth, der mit einem Blick in die (nahe) Vergangenheit, die Katastrophen der Gegenwart in den Fokus rückt. Die Vertriebenen der Sahelzone, die flüchtenden Hutus und Tutsis, stehen mahnend für die Myriaden Syrer und Kurden, die im Moment aus ihrer Heimat fliehen. In diesen Momenten muss man machtlos mitansehen, wie Kunst wichtige Bildungsaufgaben übernehmen könnte, wenn man sie nur zugänglich machen würde. In diesen Momenten wünscht man sich eine engere Verknüpfung von Kunst-, Bildungs- und Flüchtlingspolitik.

Sebastião Salgado

Zuletzt gibt mir der Film Gelegenheit assoziativ ein paar Filme hervorzuheben, die mir während des Sehens des Films und dem anschließenden Schreiben über den Film in den Sinn gekommen sind. So schließt das Kinojahr 2014 mit einem nebelverhangenen Amazonasregenwald und ruft die mythische Schönheit von Larry Gottheims Fog Line in Erinnerung, der für mich zu den schönsten Entdeckungen der diesjährigen Viennale gezählt hat. Die Thematisierung des unendlichen Konflikts zwischen Hutu und Tutsi in Rwanda lässt nicht nur einen Konnex zum Konflikt im Syrisch-Irakischen Grenzgebiet zu, wie ich ihn oben beschrieben habe, sondern auch zum Konflikt in Palästina, den Clara Trischler in Das erste Meer so treffend, multiperspektivisch und ehrlich beleuchtet hat. The Salt of the Earth ist aber auch eine Variation der paradiesischen Motivik, die mir in Alice Rohrwachers Le Meraviglie und vor allem in Naomi Kawases Still the Water sehr nahe gingen und zugleich ein Blick zurück in eine schattenverhangene Vergangenheit die vielleicht, oder vielleicht auch nicht, eine bessere, womöglich auch grausamere war, ein Blick, wie ihn auch Lav Diaz in Mula sa kung ano ang noon und Pedro Costa in Cavalo Dinheiro wagten.

Der Gelegenheitskinobesuch von The Salt of the Earth entpuppte sich als Glücksfall und erlaubte mir ein letztes Mal im Jahr 2014 meine Gedanken zu ordnen und eine Summe zu ziehen. Ein Jahr endet, und ein neues beginnt. Deshalb ist dieser Text kein Abschluss-, sondern ein Zwischenbericht. Prosit!

Die wahren Kinomomente des Jahres 2014

Nun habe ich in meinem letzten Post etwas gezwungen die eindrücklichsten Momente des Kinojahres 2014, anhand von Filmen aus dem Jahr 2014 festgemacht und damit einen völlig falschen, aber vielleicht notwendigen Rahmen um ein Kinojahr gelegt. Ein Jahr mit, im und durch Film zeichnet sich natürlich durch mehr und vor allem durch Anderes aus als die Filme, die im jeweiligen Jahr geboren wurden. Ich habe das Gefühl, dass ich erst dieses Jahr begonnen habe, Film wirklich zu sehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich auch gelernt habe wegzusehen. Damit meine ich, dass sich die Wirkung der Leinwand für mich über das Kino hinaus vergrößert hat. Mir wurde klar, dass dort meine Heimat ist. Der Ort, an dem mir plötzlich Vertrauen entgegenkommt, der Ort, an dem ich mich immer wohl fühle, der mich auffängt an zu schlechten und zu guten Tagen, der mich lehrt, belehrt, entschuldigt, entblößt, angreift, verteidigt, liebt, hasst, zerstört, aufbaut, antreibt, belebt. Dort werde ich immer verstanden. Es gibt tatsächlich noch einen Unterschied für mich im Vergleich zu den vergangenen Jahren. Es ist einfach so, dass ich nicht mehr nur aus dem Drang nach dem Sehen ins Kino renne, sondern dass ich auch außerhalb des Kinos mit dem Kino sehe. Das meine ich auf einer persönlichen, ästhetischen und politischen Ebene. Es ist nicht mehr wie eine Sucht, auch wenn ich noch mehr gegangen bin. Es ist wie die Freiheit, die es verspricht. Das Kino lebt immer in diesem Paradox. man lässt sich einsperren, um Freiheit zu erfahren. Diese Freiheit existiert in der Zeit. Diese Zeit ist – um Truffaut zu paraphrasieren – mit der Ausnahme weniger Dinge reicher als das Leben. Oder sie macht das Leben reicher.

Hou Hsiao-Hsien

Flowers of Shanghai von Hou Hsiao-Hsien

Denn 2014 ist das Jahr, in dem ich Jacques Tourneur habe flüstern hören. Seine Kamera ist die Zärtlichkeit gegenüber einer Angst. Ich bin aus The River von Tsai Ming-liang nicht mehr herausgekommen. Ich habe gelernt wie man Schmerzen filmt. Körperliche Schmerzen und imaginierte Schmerzen. Ich weiß noch wie wir in einer Gruppe fassungslos und hypnotisiert nach Flowers of Shanghai von Hou Hsiao-Hsien standen. Es war als hätten wir gerade zusammen Opium geraucht, der Asphalt und mit ihm die Mauern flossen statt zu stehen. Alles wurde in eine elegante Schönheit getunkt. Ich stand auf dem Crossing Europe in Linz und wartete bis ein Freund aus Under the Skin von Jonathan Glazer kam. Ich hatte den Film wenige Stunden zuvor gesehen, aber als er aus dem Kino kam, sah ich nicht nur sofort, dass er denselben Film gesehen hat sondern war auch selbst wieder mitten im Rausch der Töne und Bilder dieses großartigen Werks. Ich meldete mich, um Agnès Godard zu sagen, dass sie mit der Kamera nicht nur tanzt, sondern im Tanzen malt. Ich melde mich normal nie bei Publikumsgesprächen, aber nach der geballten Ladung ihrer Werke auf der Diagonale in Graz musste ich es tun. Ich weiß nicht, ob es was gebracht hat, aber ich empfand es als gerecht. Meine Mütze ist bei Jean-Luc Godard verschwunden. In Nouvelle Vague hat jemand meine Mütze geklaut, in Adieu au Langage 3D hat mir ein Zuseher gedroht, dass er mir den Schädel einschlägt, weil ich zu groß bin, ich nahm meinen Kopf nach unten und lehnte mich nahe an meine Freundin, um nicht im Kino zu sterben, obwohl ich im Kino sterben will…

The Music Room Ray

Jalsaghar von Satyajit Ray

Nach Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan fuhr ich mit dem Rad durch eine Herbstnacht. Ich konnte nicht fassen wie viel in diesem Film war und wie wenig man selbst ist und immer sein wird. Ich hatte Fieber nach Jalsaghar von Satyajit Ray. Ich bin mir ganz sicher, dass dieses Fieber aus dem Film kam. Ich hatte es bis zum nächsten Film. Es war wundervoll und unerträglich. Wir haben Tsai Ming-liang und Pedro Costa über ihr Kino sprechen hören. Das Kino war ganz leise als Henry Fonda auf der Veranda sitzt in My Darling Clementine. Es war einfach still. Wir waren Stunden mit Jakob Lass am Tisch gesessen und haben mit ihm über Love Steaks gestritten. Es wurde klar, dass es Blickwinkel gibt, denen man nicht mit Unzufriedenheit begegnen darf und es vielleicht gerade deshalb muss. Danach waren wir alle zusammen in Dracula 3D von Dario Argento und das Publikum war euphorisch (vor dem Film). Eine Euphorie, in der ich mich mehrmals fand im Angesicht der schrillenden Filme des Altmeisters und in der ich mich immer fremd fühlte. Dennoch und gerade deshalb bleiben sie in meinem Gedächtnis.

Immer wenn jemand Antonioni sagt, dann springe ich.

Zangiku monogatari

Zangiku monogatari von Kenji Mizoguchi

Ich habe Tokyo Story zum ersten Mal auf einer Leinwand gesehen und ich habe geweint. Zu den wenigen Filmen, die ich mir 2014 zweimal im Kino ansah, gehörte Maurice Pialats L’enfance nue. Ich musste verstehen, was er mit dem Schnitt macht, seine schneidenden Ellipsen erreichen einen poetischen Kern, der mit Wahrheit, Realität und Weltsicht zusammenarbeitet. Ich war ein nacktes Kind im Angesicht seiner Bilder. Ganz anders und doch ähnlich beeinflussend war die Größe von Wim Wenders in seiner Pracht Der Stand der Dinge. Wir haben Kubelka reden hören mit einer kräftigen Wut, die durch ein Glänzen in den Augenwinkeln befördert wird. Bei den Fahrradständern hat er über Straub&Huillet geschimpft. Wir haben ihn belauscht, ich habe Kubelka belauscht. In den ersten 103 Minuten von Cavalo Dinheiro habe ich nicht geatmet. Ich habe über Carax gelesen, von Carax gelesen. Er hat Recht. Wir wurden nicht müde in P’tit Quinquin. Es war zu unglaublich. Ich habe langsame Boote in nächtliche Bilder fahren sehen bei Kenji Mizoguchi. Es waren Augenblicke, in denen ich ganz einfach nicht mehr existierte. Sie lösten mich auf und ich berührte nichts mehr. Elegischer Rausch, es war ein asiatisches Jahr. Die endlosen unscharfen Schwenks in Millenium Mambo, die Nostalgie in Goodbye Dragon Inn, der Nebel in Zangiku monogatari.

Chelsea Girls Warhol

Die mich auffressende Nacktheit in Andy Warhols Chelsea Girls, die Performance einer Projektion, wir waren nicht viele im Kino und wir saßen ausnahmsweise ganz weit hinten, ungestört und ohne Pause. Es war genauso unglaublich wie alles von Warhol, was ich dieses Jahr sehen durfte. Danach wollten meine Beine weiter schauen. In Wavelenght von Michael Snow bröckelten die letzten Fassaden meiner Wahrnehmung. Sie fielen in tausend glitzernden Blüten auf ein Erdbeerfeld. Sehr viel habe ich mich mit Ingmar Bergman beschäftigt. Wenn man ihn sieht, wenn man über ihn liest, dann erkennt man, dass sich das Kino bewegt. Und etwas im Kino bewegt sich in uns weiter. Deshalb kann das Kino auch etwas zur äußeren Bewegung bringen, was in uns passiert. Pasolini hat mir in zwei Atemzügen gezeigt, dass ich Katholik und Atheist bin. In seinem Il vangelo secondo Matteo erfuhr ich die Kraft einer Spiritualität, die unseren Gefühlen und unserem Denken vielleicht etwas abhanden gekommen ist. Es ist eine politische Spiritualität. Ich habe seine Gedichte gelesen. Er hat Recht.

Dovzhenko ist auch so ein Name, wenn seine Frauen stehen, wenn sein Wind durch die Gesichter weht, wenn seine Geschichte einfriert in einem Moment voller Würde. Die Dokumentationen von Jean Eustache haben mir zusammen mit jenen von Sergei Loznitsa einen neuen Blick auf die Frage nach Perspektive, Erzählung und Film gegeben. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Manchmal ganz beiläufig wie bei Hou Hsiao-Hsien, manchmal sind sie wieder gekommen, sie sind gar nicht gestorben, vielleicht waren sie schon tot, vielleicht war alles ein Traum, ein Wort, ein Film. Ein Mann saß neben mir in Four Sons von John Ford und er lachte sehr laut und eigentlich durchgehend. Er war ein wenig zu breit für seinen Sessel, aber ich fühlte mich wohl, denn es war Ford im Kino. Auch Resnais habe ich gesehen. Alain Resnais, er ist verstorben. Aber er konnte gar nicht wirklich sterben. Wir haben im Freiluftkino Chris Marker gesehen. Ihre Erinnerungen, diese Erinnerungen, jetzt meine Erinnerungen, keine Erinnerungen sondern Fiktionen, ich habe sie gesehen, sie haben mich gesehen, wir haben uns nicht gesehen.

Tagebuch eines Landpfarrers Bresson

Journal d’une curé de campagne von Robert Bresson

Dann gab es diesen magischen Moment am Ende von Non si sevizia un paperino von Lucio Fulci als die Musik nach dem Abspann nicht aufhören wollte und uns in einer epischen Dunkelheit erglühen ließ, die das Kino niemals enden lassen wollte, obwohl Ignoranten es verließen, weil sie im falschen Glauben leben, dass ein Film mit seinem Bild aufhört und beginnt. Ich will immer tanzen nach Claire Denis. Verblüfft hat mich der grandiose Voy-age von Roberto Capanna und Giorgio Turi. Er lief vor Antonioni. Ich springe.

Robert Bresson hat mich mit seinen Händen getötet. Er war ganz alleine und ich war ganz alleine.

Es gab noch viel mehr im Kino 2014. Es gibt auch meine Träume vom Kino. Diese könnte ich aber nicht aufschreiben.

Die rote Wüste Antonioni

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni

Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

Horse Money

Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

Horse Money Pedro Costa

Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

Kindkind Dumont

In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu

Wenn einer der besten Filme des Kinojahres ohne Kameramann und Drehbuchautor entsteht, dann sollte man darüber nachdenken. In Corneliu Porumboius Al doilea joc sehen wir ein Fußballspiel zwischen Steaua Bukarest und Dinamo Bukarest. Es ist dies die Aufnahme einer alten VHS-Kassette aus dem Jahr 1988, die Bildqualität zergeht in den Informationen einer ausgeleierten Optik, aber man erkennt eine ungeahnte Schönheit im beständigen und unwirklichen Schneetreiben der rumänischen Hauptstadt. Zu hören ist-und hier kommt tatsächlich die Arbeit eines Cutters mit ins Spiel-ein die Bilder kommentierender Dialog zwischen Corneliu Porumboiu und seinem Vater Adrian, der die Partie vor 26 Jahren als Schiedsrichter leitete. Dieser Dialog, so gestand der Regisseur, wurde aus mehreren Takes zusammengeflickt. Außer dem Einlaufen der Spieler und einem tatsächlich mit hinzugefügter Musik unterlegten Ende des Spiels hat der Film also tatsächlich exakt die Länge eines Fußballspiels: 90 Minuten +/- Nachspielzeit.

Zwar sind und waren Paarungen zwischen Steaua und Dinamo immer von besonderem Charakter, zumal in der Ära von Ceaușescu somit das Team der Armee gegen jenes der Geheimpolizei antrat, aber ansonsten ist diese Partie wohl abgesehen vom heftigen Schneetreiben keinem Fußballfan in Rumänien in besonderer Erinnerung, ein normales Spiel, ein alltägliches Spiel aus einer großen Zeit des rumänischen Fußballs (Sport wurde besonders und mit allen Mitteln gefördert, weil er ein bestimmtes Bild des Kommunismus vermittelte, damit ist eines der zahlreichen Themen, über die Vater und Sohn hier sprechen auch ganz automatisch der Verfall des rumänischen Fußballs). Schon zu Beginn stellt sich natürlich die Frage, inwiefern ein solches Unterfangen überhaupt von einer filmischen Qualität sein kann, denn schließlich stehen weder Technik noch Inhalt für das Kino. Aber in der Kombination von Bild und Ton und vor allem ihrem Auseinander- und Zueinanderdriften entwickelt sich eine Ebene, die man schlichtweg als großes Kino bezeichnen kann. Hinzu kommt, dass Herr Porumboiu wie bereits in seinem grandiosen Debut A fost sau n-a fost? die zeitliche Geschlossenheit einer TV-Übertragung als rhythmisch-dramatisches Element für seinen Film benutzt. Und wie in seinem vorletzten Film Când se lasa seara peste Bucuresti sau metabolism legt er gleichzeitig einen selbstreflexiven Spiegel auf sein eigenes Schaffen und jenes des Mediums, das er dafür benutzt. Der Schnee, der mit den zum Teil absurden Zensurschnitten des staatlichen Fernsehens, die bei körperlichen Auseinandersetzungen auf dem Spielfeld auf die starren vereisten Zuseher schneiden, eine betonendes Element bekommt, gibt dem Spiel eine ästhetische Qualität, die man so nicht erwartet hätte. Ein VHS-Baum ist mehrfach im Bild, im Hintergrund stehen kaltgefrorene Polizisten und das weiße Rauschen legt sich über das Spiel wie die Zeit selbst, ein sinnlicher, spürbarer Genuss, der auch die Bewegungen von Ball und Spielern in einer Art entfremdet, die man im professionellen Fußball selten sieht.

Porumboiu Steaua Bukarest

Vielleicht ist es aber sowieso der Fußball selbst, der einiges an künstlerischem Potenzial aufweist, was meist unter dem Zirkusspektakel und Gejohle von Fans begraben wird. Herr Porumboiu besitzt den sensiblen Filter, der auf jene ästhetischen und philosophischen Aspekte des Spiels eingeht. Damit steht er sicherlich nicht alleine. So hat die Cahiers du Cinéma im Sommer anlässlich der Fußballweltmeisterschaften die unterschiedlichen Regisseure der TV-Übertragungen nach auteuristischen Merkmalen untersucht und die jeweiligen Übertragungen nach formalen Gesichtspunkten wie der Länge von Einstellungen und der Häufigkeit von Zwischenschnitten untersucht. Ich habe mich darin versucht, den Freeze-Frame zwischen Fußball und Kino zu betrachten. Auch erinnerte mich Al doilea joc an eine legendäre TV-Übertragung einer Partie zwischen Bayern München und Borussia Dortmund im Pay-TV (damals noch: Premiere). Man konnte bei diesem Spiel zwischen zwei unterschiedlichen Tonspuren wählen. Auf einer kommentierte Marcel Reif das Geschehen und auf der anderen das Duo Michael Bully Herbig und Stefan Raab. In der ersten Hälfte kommentierten die beiden Komiker noch das Geschehen, sie rissen ihre Witze und hatten einen großen Spaß bei einem ziemlich unvergesslichen Spiel. In der Halbzeit entschieden sie sich dann, eine Pizza zu bestellen und verweigerten zu großen Teilen der zweiten Hälfte jeglichen Kommentar des durchaus dramatischen Geschehens. Auch das war gewissermaßen Kino. Wie bei Herrn Porumboiu entfaltete sich eine Dynamik, die auch jenseits des Spiels hätte stattfinden können, aber nur mit den Augen auf dieses Spiel so stattgefunden hat. Zwar ist in Al doilea joc der Kommentar des tatsächlich sichtbaren Bilds deutlich relevanter, aber die von merkwürdigen Schweigepassagen und zärtlichem Humor bestimmte Vater-Sohn Beziehung, die hier im Rahmen des Spiels entsteht, gibt zu denken. Zum einen, weil man hier einen Sohn hat, der seinen Beruf ausübt und sich während seiner Tätigkeit mit dem Beruf seines Vaters auseinandersetzt. Dadurch werden Parallelen zwischen beiden Berufen offengelegt und Denkweisen verglichen. Hier wäre die ausgiebige Diskussion der Vorteilsregel nennenswert, die Adrian bis zur Schmerzgrenze sehr konsequent anwendete. Es ging ihm dabei um den Fluss des Spiels, das Weitergehen, also wie die Zeit, wie das Kino. Statt einer Unterbrechung der Welt geht die Zeit weiter. Die Dinge verändern sich, aber sie laufen weiter. Inwiefern sich also die Aufgaben eines Regisseurs und eines Schiedsrichters ähneln,, ist eine der Fragen des Films. Wenn man Zeit-und so macht man das vernünftigerweise-als einen Motor des Kinos betrachtet, ist klar, dass die Bedeutung ihres Kontinuums eine große Rolle spielen muss und gerade im zeitgenössischen rumänischen Kino und im Schaffen von Porumboiu spielt die Idee einer zeitlichen Geschlossenheit und Kontinuität eine herausragende Rolle.

Zum anderen ist das private Gespräch abseits jeglicher Kameras von einer Natürlichkeit und Alltäglichkeit geprägt, die tatsächlich in das Leben zwischen diesen beiden Menschen blicken kann. Der Blick auf ein drittes Bild, das in Relation zu diesen beiden Menschen steht, ist dabei von entscheidender Bedeutung, denn das Fußballspiel ist Grund für den Film und Vergangenheit des Vaters zugleich. Neben den unterschiedlichen Welten und Perspektiven treffen hier also auch unterschiedliche Zeiten von Vater und Sohn aufeinander. Natürlich ist man versucht sofort die politische Karte zu spielen, sicherlich wählt Porumboiu auch nicht nur wegen des Schneefalls ein Spiel aus dem Jahr 1988 aus. Aber seine Angst als Kind, von der er einmal spricht und die professionelle Nüchternheit seines Vaters gegenüber dieser Vergangenheit bewegen sich auf einer Rasierklinge des Unaussprechbaren (der Vater erzählt wie es lief und was er tat, Emotionen scheinen damit nicht verbunden zu sein.). Damit ist Al doilea joc ein zutiefst trauriger Film. Er erzählt davon, wie schwer es ist, mit unseren Söhnen und unseren Vätern zu kommunizieren. In Juventude em marcha von Pedro Costa gibt es diese Szene zwischen Vanda und Ventura, in der die beiden minutenlang nebeneinander auf einem Bett sitzen und liegen und in einen Fernsehschirm Off-Screen blicken. Ihre Kommunikation reduziert sich auf die Bilder. Herr Porumboiu dreht dieses Bild um, er zeigt uns nur den Fernsehbildschirm, aber die Kommunikation ist dieselbe. Selbstverständlich wirkt dies zunächst anders, da der Regisseur mit einigen konkreten Fragen versucht, seinen Vater aus der Reserve zu locken. Aber gerade in der zweiten Halbzeit werden die Passagen des Schweigens länger und eine triste Leere legt sich über die Gegenwärtigkeit des Spiels. Hier reduziert sich der Dialog oft auf kurze Bemerkungen zum Spiel, kritische Seitenhiebe bezüglich einer Schiedsrichterentscheidung und einer gewissen Bewunderung der Geschwindigkeit des Spiels. Damit ist es das dritte Bild einer verzehrten und irgendwie unterschiedlichen Vergangenheit das Vater und Sohn hier fast gewaltvoll, in Form eines Films zusammenbringt.

Al doilea joc

Al doilea joc ist auch ein Film über die Möglichkeit eines Films. Vor dem Gespräch besteht einzig das Potenzial eines Films, der erst im Gespräch zur Realität werden kann. Damit macht Herr Porumboiu die Zeit schon in der Herstellung seines Films zu einem Hauptcharakter. Gerade in einer Zeit, in der Originalität und Individualität als unhaltbar hohe Werte im Filmschaffen hochgehalten werden, zeigt Herr Porumboiu bereits zum vermehrten Mal, dass die Absurdität des Alltags das ganze Kino umarmen kann. Er geht nur insofern einen Schritt weiter, indem er beweist, dass er dafür keine Kamera braucht. Ein Found Footage-Beckett sozusagen. Wenn Herr Porumboiu an einer Stelle das laufende Spiel mit einem seiner Filme vergleicht, weil da genauso wenig passiert, dann sieht man ihn fast schelmisch grinsend hinter dem Mikrofon. Dieser hors champs der Stimmen, die wir da hören, ist auch deshalb so bemerkenswert, weil wir das jüngere Abbild eines Mannes sehen während wir von seiner Gegenwart nur noch eine Stimme haben, als Echo einer verdrängten Vergangenheit, die politisch oder persönlich oder beides sein kann. Welches Bild setzt sich in einem Kopf fest? Der Fußball ist deshalb so ein geeignetes Ereignis für diese Fragen, weil er zugleich ein flüchtiger Sport ist, in dem die Helden von heute in einer Woche vielleicht nur noch Ersatzspieler sind und er trotzdem so unheimlich auf Legendenbildung und Historizität baut. Dies wird auch an einer Stelle im Film thematisiert. Das Bild dieses Mannes sehen wir, aber nur das vergangene Bild. Dieses Bild wird aber wieder gegenwärtig im Film, damit belebt der Sohn die Vergangenheit des Vaters und wir erleben den Prozess dieser Wiederbelebung. In diesem Sinn ist Al doilea joc ein schöner, zärtlicher Film.

Anmerkungen: Vor längerer Zeit habe ich einen kurzen Text zum Schaffen von Porumboiu verfasst. Hier der Link