Glasworks: Die Lügen der Sieger von Christoph Hochhäusler

Es ist schon eine gute Sache, dass es Christoph Hochhäusler immer mal wieder schafft, in Deutschland einen Film zu machen. Der Mitherausgeber und die Online-Stimme der Filmzeitschrift Revolver hat mit Die Lügen der Sieger, der seit einer Woche auch in den österreichischen Kinos unter dem Radar fliegt, seinen Weg hin zum Genre weitergeführt und einen intelligenten und formal jederzeit spannenden Politthriller gedreht. Darin folgt er mit einer paranoiden Präzision in Schwenks und Schnitten dem Journalisten Fabian Groys (Florian David Fitz) bei Enthüllungsarbeiten rund um die Invalidenpolitik der Deutschen Bundeswehr und einen Giftmüllskandal.

Hochhäusler trifft das paranoide Zeitgefühl einer Fassadenwelt, in der durch Fenster beobachtet und gelenkt wird und man sich nie sicher sein kann. Amerikanische Vorbilder von Alan J. Pakula bis zu Francis Ford Coppola, Orson Welles oder Richard Brooks lassen sich zur Genüge finden und auch im fast schon vergessenen europäischen Politkino ist Die Lügen der Sieger fest verwurzelt..Damit könnte man den Film als eine etwas genrespezifischere Variante von Hochhäuslers Unter dir die Stadt sehen, aber das wäre wohl zu kurz gegriffen. Vielmehr ist Die Lügen der Sieger ein Film, der auf einem Drahtseil zwischen einer fiktionalen Genrewelt samt Champagner-Rausch-Glückspiel, Porsche und roegesquen Sexszenen und der ernüchternden Realität eines Presse- und Politikalltags balanciert. Fast zufällig stolpert der verschuldete Fabian mit Hilfe der Volontärin Nadja (Lilith Stangenberg) in einen faustdicken Skandal, den der Zuseher praktisch von Beginn an als solchen erkennt, weil wir auch die illegale Verschleierungsarbeit sehen dürfen. All ihre Arbeit läuft auf eine Lüge hinaus, die von mächtigen Anzügen im Hintergrund so gewollt wird. Es ist ein wenig schade, dass Hochhäusler am Ende noch einen drauf setzen muss, denn die Ernüchterung, Zeuge einer Wahrheitsfindung als große Lüge geworden zu sein, hat auch eingesetzt, ohne dass die Hauptfigur alles verlieren musste. Der große Moment des Films geschieht, als man bemerkt, dass es sich bei all diesen Intrigen, all diesem Aufwand am Ende „nur“ um einen Zeitungsartikel handelt, der an der Wahrheit vorbeischrammt. In einer beeindruckenden Szene streichen die Fadenzieher in den kalten Glasgebäuden über ihre Bildschirme und stellen beruhigt fast, dass der Artikel in ihrem Interesse erscheint. Es sind diese wiederholten Einstellungen von Fadenziehern über der Stadt, an denen wir Teil haben müssen, um zu verstehen, dass in dieser Welt nichts wirklich wahr ist. Aber Hochhäusler folgt den Genreregeln und zerstört seinen zuckerkranken, spielsüchtigen Antihelden völlig und nimmt der schmerzvollen Ironie einer allgegenwärtigen Zufriedenheit im Angesicht der Lügen damit ihren bitter-absurden Drive.

Das Prunkstück des Films ist sicherlich die Montage, jenes Mittel zur Lüge des Kinos. Virtuos wie Stefan Stabenow hier zwischen harten und fließenden Übergängen wechselt und so eine Beunruhigung ermöglicht, die einen immer wieder blicken lässt, die das Sehen ermöglicht. Diese Schnitte taumeln über dem gleichen Abgrund wie die Hauptfigur, immerzu auf einer desorientierten Suche, die einen Zweifel an der Realität ermöglicht, aber keinen Ausweg lässt, die einen täuscht, wenn man blinzelt. Dabei spielt auch immer die Idee der Beobachtung eine entscheidende Rolle. Diese wurde feinfühlig in ein visuelles Konzept eingearbeitet, das sich mal in der machtlosen Entfremdung eines Michelangelo Antonioni mit dem gewohnten Auge für Architektur bei Hochhäusler, der Hektik einer städtischen Distanz des Treibens im Alltags von Berlin und dem ständigen Verlust von Klarheit, der in beständigen Seitwärtsfahrten und Schwenks droht, vor unserem Auge zu verschwinden, äußert. Hinzu kommen diverse Spiele mit Unschärfen und kantigen Einstellungen, die auch an Orson Welles paranoide Welten erinnern. Ja, wir haben hier einen Filmemacher, der eine Filmsprache aus der Geschichte des Kinos filtert, die viel mit der gegenwärtigen Realität zu tun hat. So erzählt die Form des Films beständig etwas über den Inhalt und über den Inhalt hinaus.

Wie schon in Unter dir die Stadt bleibt Hochhäusler fasziniert vom gebrochenen Licht im Glas: Spiegel, Fenster, verdeckte und verzehrte Gesichter oder blitzende Reflektionen zwischen den Glasfassaden einer öffentlichen Toilette. Immer wieder finden Kameramann Reinhold Vorschneider und Hochhäusler außergewöhnliche Perspektiven auf eigentlich bekannte Orte. Dadurch ermöglichen sie einen Blick hinter die geschniegelten und kalten Fassaden, die alles in ihren Systemen und Mechanismen ertränken und alles zerstören, was ihnen nicht folgt. Der vormalige Titel des Films, Lichtjahre, bricht in diese Reflektionen, in denen irgendwo in den Schatten ein gebrochenes Licht auftaucht, ein Lächeln der Lügner und Belogenen, der Wegsehenden und Erfolgreichen.

Lichtjahre

Aus der ständigen Wachsamkeit und Konzentration erwacht eine dynamische Thrillerhandlung, die immer dann am besten zündet, wenn sie mit der Beiläufigkeit des Alltags oder einer satirischen Absurdität operiert. So sind die Szenen, in denen Fabian und Nadja auf Spurensuche gehen vor allem deshalb spannend, weil sie gleichzeitig etwas über den Journalistenalltag erzählen. Zynische Bemerkungen, Bandscheibenvorfälle und kleine Worte, die schon zu viel sein können, prägen das Vorgehen des Films in diesen Augenblicken. Es ist nicht ganz nachvollziehbar, weshalb es dem Film manchmal gelingt, das Genre so locker mit dem Alltäglichen zu verknüpfen, während es an anderen Stellen in eine überzogene Theatralität kippt, wie bei den Wutausbrüchen und Geschmacklosigkeiten der Mächtigen. Es ist als könne sich Hochhäusler diesen Kontrollinstanzen nur über eine relativ inspirationsfreie Abstraktion nähern, die man natürlich im Genre verorten könnte, aber denen leider jederzeit Ambivalenz abgeht. Seltene Schwächen offenbaren sich auch hier und da in der Inszenierung. So wirkt die Einführung von Fabian auf einer Pressekonferenz mit einer seitlichen Kamerafahrt trotz der Konsequenz dieses Stilmittels wie aus einer Telenovela. Immer wieder mal spürt man regelrecht wie die Szene gedreht wurde. Der Sog der amerikanischen Vorbilder bleibt somit leider aus. Allgemein wirken manche Gebäude (dazu zählt auch das Redaktionsgebäude der fiktiven Zeitung „Die Woche“) nicht ganz dem düsteren und verwinkelten Genre entsprechend, weder kann hier der Realismus eines Zodiac erreicht werden, noch die labyrinthische Abstraktion eines The Trial. Vielleicht ein unfairer Vergleich, aber die zwei genannten Filme zeigen doch recht deutlich, welchen Spagat zwischen Genre und Gesellschaft Hochhäusler hier wagt.

Die Lügen der Sieger konfrontiert mit einer politischen und zugleich visuellen Weltsicht, die ansteckt, die einem im Gefühl dieser Angst und dieses Genres baden lässt, die von einer Beunruhigung erzählt, aber diese letztlich als beruhigend hinnimmt. Denn statt einem Schock der Unsicherheit wie am Ende von Unter dir die Stadt, wartet Hochhäusler hier mit dem, was man kommen sah. Die Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit am Ende dieser Angst. Das Glas droht nicht zu brechen, es thront stabil und unsichtbar. Es zersplittert die Wahrheit und das Licht gleichermaßen und in diesem Sinn ist Hochhäusler hier ein Appell an eine Einschränkung der Freiheit gelungen, eine Einschränkung, die wir oft vergessen, weil wir durch sie hindurchsehen können. Nur – und das liegt durchaus in den zahlreichen seitlichen Fahrten, die einem nicht aus den Augen gehen können – wir drohen überholt zu werden vom dem, was wir nicht sehen können. Es ist gut, dass Hochhäusler es (und hier bin ich mindestens so abstrakt wie er ) sichtbar macht.

Smoke Me 2 Times: Inherent Vice von Paul Thomas Anderson

Die Melodie der Filme von Paul Thomas Anderson erkenne ich oft erst bei wiederholtem Sehen. Bei Inherent Vice ist die emotionale Dunkelheit auch nach der zweiten Sichtung schwer zu durchdringen, denn es ist ein Film, der ständig wechselt zwischen absurdem Humor, Melancholie, Paranoia und Chaos. Es ist als würde immerzu ein bestimmtes Gefühl vor meinen Augen von seinem Gegenteil zerstört werden. Dennoch habe ich einen ganz anderen Film gesehen, als vor einem halben Jahr im Kino. (manche machen daraus gar einen Sport ) Dieses Undurchdringbare des Films liegt zum einen an der Vorlage von Thomas Pynchon, der hier zum ersten Mal verfilmt wurde und zum anderen an den Noir-Elementen des Films, der sich durch labyrinthische Rätsel und Spuren bewegt und immer wieder droht, sich selbst einzuholen. Es liegt aber auch an einer Vorliebe von Anderson für das Undurchdringbare, Ungreifbare.

Ich verwende hier ganz bewusst das Wort „Melodie“, weil ich bei der ersten Konfrontation mit den Werken des Filmemachers oft zu sehr auf den Text achte. So änderte eine zweite Sichtung von The Master, There Will Be Blood oder Punch-Drunk Love meinen Eindruck der jeweiligen Filme völlig. Ich musste für mich selbst herausfinden, dass bei Anderson die Bilder Musik sind, Melodien, es geht um Rhythmus, Tonalität, Farben, Eindrücke. In mancher Hinsicht bewegt sich Anderson damit näher an den Straubs als an den Coens. Nun bin ich mit Sicherheit kein Zuseher, der verbissen nach Narrativen sucht und darum geht es auch gar nicht, denn Anderson macht ja narratives Kino. Nur hat er eine ganz eigene Art zu erzählen. In Inherent Vice (und nicht nur dort) ist diese in die Texturen des Films eingeschrieben. Zusammen mit Robert Elswit hat Anderson ein Bild von Los Angeles geschaffen, das man fast riechen kann: Der Regen, die Sonnenuntergänge, die Nacht. Es geht um die Sonne, die das Bild überflutet, Blenden, die das Bild zerfließen lassen und Musik, die uns an Verlorenes erinnert wie ein weicher Hammerschlag. Zudem ist es ein Film der Blenden, sowohl technisch als auch emotional. Es ist passend, dass der Filmemacher erzählt, dass er nach einem „faded-postcard“ Look gesucht habe.

Inherent Vice4

Inherent Vice7

Aus dieser Postkarte kriechen nun die eingangs benannten Gefühle in der sinnlichen Form von Shasta Fey Hepworth, der Ex-Freundin von Doc Sportello. In einer der vielen Blenden des Films erscheint ihr Bild über dem rauchenden Sportello irgendwo zwischen einer drogenbedingten Halluzination, einem Geist, einer melancholischen Erinnerung und einer paranoiden Verfolgung. In ihrem Bild und Wesen versteckt sich ein Zugang zu diesem Film, der sich in eine Konfusion ergießt, die neben den Irrungen einer verlorenen Liebe, auch jene eines Amerikas im Übergang (Nixon ist noch Präsident, Reagan ist bereits Governor in Kalifornien) und schließlich jene der bewusstseinsverändernden Drogen beinhaltet. Inherent Vice ist ein Trip, der im Gegensatz zu Kultfilmen wie Fear and Loathing in Las Vegas oder The Big Lebowski dennoch oder gerade deshalb fühlt. Trotz aller Gags und Over-the-Top Momente trägt sich eine tiefe Traurigkeit durch den Film. Es ist schließlich eine Journey through the Past:

Will you think of me
and wonder if I’m fine?
Will your restless heart
come back to mine
On a journey thru the past.
Will I still be in your eyes
and on your mind?

Inherent Vice6

Nun habe ich diese Traurigkeit bereits beim ersten Sehen bemerkt, ich habe allerdings nicht erkennen können wie sie zur scheinbaren Leichtigkeit des Films passt. Der Grund dafür könnte eine Frage der Perspektive sein. Anderson verhält sich ähnlich unentschieden wie Sportello. Es gibt Szenen, wie jene in der wir Sportello vor einer konfusen Tafel bei seinen Ermittlungsarbeiten beobachten oder jene, in der er das dubiose Zahnarzt-Gebäude von Golden Fang betritt, in denen Anderson auf Distanz geht. Er stellt seine Figuren aus und gibt uns den Raum über sie zu lachen. Gleichzeitig aber bewegt er sich unheimlich nahe an den Regungen und paranoiden Vorstellungen von Sportello. Es gibt kaum Establishing Shots und wenn es sie gibt, dann sind sie merkwürdig verstellt oder aus extremen Perspektiven verfremdet beziehungsweise Teil einer unsicheren Kamerabewegung, die Sportello in Gebäude folgt. Dann gibt es da diesen Voice-Over von Sortilège, einer Figur, die Anderson im Verhältnis zum Buch deutlich stärker in den Vordergrund rückt. Die vibrierende Stimme von Joanna Newsom erzeugt gleichermaßen eine Distanz, eine sinnliche Nähe, ein allgemeines Gefühl von Schicksal und Unausweichlichkeit und Absurdität. Gegen Ende verschmilzt sie mit den potenziellen Gedanken von Sportello, als wären wir noch in der Grundschule und müssten beim Höhepunkt der Geschichte in die Gegenwart wechseln. Aber dadurch ergibt sich auch eine Fragilität der verschiedenen Erzählebenen. Eigentlich ist der Film für Anderson-Verhältnisse äußerst simpel aufgebaut. Es gibt sehr viele Schuss-Gegenschuss-Passagen, viele POVs, Slapstick und offensiv vorgetragene Pointen (Owen Wilson sagt: What the fuck…). Aber immer wieder lässt sich Anderson hinreißen zu Kamerafahrten jenseits jeglicher Notwendigkeit. Zumindest dachte ich das beim ersten Sehen. Was hat es zum Beispiel mit diesen Szenen auf sich, in denen Sportello das Polizeirevier betritt? Wieso wird die Heimkehr von Owen Wilson so groß inszeniert? Es sind Fetzen von großen und kleinen Gefühlen, ein beständiges inszenieren hin auf etwas größeres, was es dann gar nicht gibt. Inherent Vice ist wie zuvor There Will Be Blood und The Master ein Film über ein furchtbares unerreichbares Paradies, das sich in seinen eigenen Werten ertränkt, ein schreckliches Amerika voller Einsamkeit auf der Suche nach dem Glück. Man muss sich also in diesen Vitamin C-Heroin Trunk werfen mit offenen Augen und alles verlieren, um sich treiben zu lassen wie ein Kind mit den Erinnerungen an einen endlosen Trip, bei dem es alles verloren hat.

Es entsteht eine Unsicherheit gegenüber den Erscheinungen und Erscheinungen meint hier sowohl die Oberflächen als auch die Visionen, ja das Kino selbst. Man verliert das Gefühl für Distanz und Nähe, Subjektivität und Objektivität. In dieser Welt muss es absurd zugehen, es ist die Robert Altman-Welt eines The Long Goodbye, nur dass der Zynismus hier durch proportionslose, absurde Panik ersetzt wird. Am auffälligsten zeigt sich das in der Figur des Phallus-Bananen verschlingenden Polizisten „Big Foot“, eine Figur, die eher aus Andersons Boogie Nights zu stammen scheint, aber dennoch alles über die over-the-top Verzweiflung erzählt, die wir hier sehen. Er ist ein verlorener Mann zwischen seiner Karriere, seiner Familie und seinen unterdrückten Gefühlen. Wer darauf keine Lust hat, kann noch immer ein „Pussy Eaters Special“ bestellen und sich viermal mit einem Baseballschläger auf den Kopf schlagen, während er den Film sieht. Inherent Vice erzählt uns etwas von einer Stimmung zu der diese Figuren gehören (nicht andersherum). Es ist ein Film über eine Generation, die losgeflogen ist, um festzustellen, dass sie in einen Abgrund gesprungen ist. Der Moment des Begreifens, wenn man in der Luft steht für einen Augenblick und den harten Boden unter sich erkennt, ist der Inhalt dieses Films, der beständig einen romantischen Ausweg aus dem Chaos sucht und ihn schließlich in Form eines Phantoms findet. Ein vernichtender Ausweg, denn alles was bleibt, ist aus den Halluzinationen in Halluzinationen zu flüchten (it’s the age of paranoia).

Inherent Vice8

Vielleicht liebt Anderson diesen Noir-Touch zu sehr, um uns völlig in den dunklen Abgrund zu werfen, vielleicht rührt daher auch das Wechselhafte im Film, vielleicht hängt es auch mit Pynchon zusammen, aber es gibt eine Sehnsucht und Schönheit in diesem Irrsinn, die immer wieder durch den Qualm fließen. Die herausragende Szene des Films findet sich bei einem nächtlichen Besuch von Shasta bei Sportello. Er ist sich nicht ganz sicher, ob er träumt oder sie wirklich bei ihm ist. Sie zieht sich aus, raucht und erzählt ihm von ihrer anderen Beziehung. Es ist eine Szene der zärtlichen Machtlosigkeit und machtlosen Wut, eine Szene des sexuellen Schmerzes auf den Punkt gebracht. Schließlich legt sie ihren nackten Körper über Sportello und fordert ihn auf, über sie herzufallen. Er folgt ihr, aber seine Erregung erschöpft sich schnell und verkehrt sich selbst auf ihrem Rücken in das Bild einer ewigen Verlorenheit: That doesn’t mean we’re back together…wie soll man in dieser Welt alleine leben, scheint der Film immer wieder zu fragen.

Es wirkt als würde Anderson mit seinem Film in der Melancholie eines bestimmten Lichts in Los Angeles baden. Sein enormes Auge für Szenenbild und Kostüm, kleine Details und Lichtsetzung ermöglicht das Portrait einer Stimmung. Doch statt sich in dieser Stimmung zu verlieren wie in seinen großartigen vorangegangenen Werken, lässt die Stimmung in Inherent Vice kein „Verlieren“ zu, da sie bereits verloren ist. Es gibt hier keinen Ehrgeiz mehr, keine Religion, es gibt nur mehr die Flucht, den Eskapismus in eine fortlaufende Vergänglichkeit, der von Ängsten genauso handelt wie von schönen Erinnerungen und vor allem der Angst, dass unsere schönen Erinnerungen in Wahrheit nur Ängste sind. Und genau hier höre ich eine Melodie, die ich kaum beschreiben kann. Aber ich höre sie.

Still meta-bolizing: Comoara von Corneliu Porumboiu

Combining a treasure hunt – which has little to do with what one would expect it to look like – with comic and absurd situations and the bitter humour of Romanian bureaucracy and history, Comoara, Corneliu Porumboiu’s latest, hides beneath its apparent simplicity a multitude of (unfortunately upmost thematic) layers. Simply put, the film deals with several types of crisis- the crisis of the unheroic individual,  a cultural crisis, as well as an ongoing crisis of cinematic representation and linguistics – in a meticulously constructed easy-going tone.

Costi (Toma Cuzin), a husband, father and city hall employee, gets an unusual proposition from his neighbour Adrian (Adrian Purcărescu). Adrian proposes that the two of them go searching for a treasure which might be buried near his old family house. Costi, somewhat covered in debts and perhaps willing to impress his son by becoming a modern day Robin Hood – a story we see and hear him reading to his son -, accepts and puts up the money for a renting metal detector and paying a metal expert. There are some slight stylistic difference between the part of the film playing in the city – the preparation for the treasure-hunt – and the part showing the actual treasure-hunt, taking place in the garden of Adrian’s old family house, located in Islaz.

The Treasure

The scenes taking place in the city often show the characters in narrow shots. Establishing shots are a rarity, as is camera movement – almost all over the film. Such is the case when Costi and his wife -a family also offscreen, the child also theirs- are to be seen together, often sitting next to each other, watching absent minded either TV or the children’s playground. That they hardly ever look each other in the eyes does appear to be quite absurd, but maybe the argument the Romanian film critic Andrei Gorzo used when writing about Poliţist, adjectiv still applies. What we are seeing is not a dysfunctional relationship but rather Porumboiu’s accurate observation, since in life not even in the happiest of married couples do the spouses spend every minute mouth in mouth. This not looking is therefore rather a correction to the iconic imagery of “happy married couple”. Comoara abounds in  such revisions.

As the treasure-hunt sets off, several other revisions are made. “Danger“ has little to do with swords and fighting. In Comoara, the dangers the “adventurers” might encounter take the shape of a possible lawsuit, getting fired or the treasure being proclaimed national heritage and as such, taken away. “Adventure” has little to do with entertainment, it has far more to do with absurd situations and waiting. As Costi, Adrian and Cornel (Corneliu Cozmei), the metal expert, arrive at old house in Islaz and the process of detecting the metal begins, the film suddenly swifts from this narrowness to long very wide shots, letting the absurdity of two men waiting and one slowly walking in the middle of the night in a big garden sink in. This is what the adventure looks like, and it sounds like the metal detector annoyingly beeping for what feels like half an eternity, thereby accentuating the comic of the situation. Ironically, the “thrills” of this “adventure” lie not in some sort of sudden action or intrusion by another character as in children’s adventure stories, but in this beeping and the numbers on a screen, describing whether the sound is caused by ferrous or non-ferrous metals. Comoara shows how the meaning of words or concepts as “adventure” and “treasure” has mutated, how what this words denote has changed over time, becoming quite non-tangible and  more abstract. Porumboiu has already has already proved in his previous films that he prefers not-showing to showing. In Comoara this preference is also supported by the observation that the objects and action certain words represent have changed their appearance. This mutation stands for a crisis of representation; beneath the thickish layer of heart-warming plot Porumboiu is still meta-bolizing.

The place where the treasure hunt takes place, Adrian’s old family house, has an impressive history, having (barely) survived the changing of several political regimes by being transformed into a kindergarten, a brick and metal deposit, as well as into a strip-tease club after the Romanian Revolution. Comoara also makes a comment on the worrying stand of education in Romania. Information regarding the territory’s history is scattered throughout the film’s dialogues, information, which appears to be crucial also in determining the chances of finding a treasure findig a treasure near this particular house. Thus the Romanian War of Independece, the Proclamation of Islaz, as well as many other significant historical events are mentioned in the film.

The Treasure2

Surprisingly enough, Costi and his neighbour do find the treasure. The police stops them while they attempt to get away with the metal box they have found but were not yet able to open. Next we see, they are sitting inside the police section with the two police officers and Lică, a thief well known for being able to open up impossible locks and apparently highly esteemed by the police officers. The absurdity of the situation – and of this portrayal of Romanian bureaucracy – lies in viewer’s knowledge that the treasure hunters had considered contacting the thief themselves, ultimately deciding not to do so, possibly afraid of getting in trouble with the police.  Apart from being one of the most skilled characters of the film, Lică also surprises by being able to read German, Germany being perhaps his place of ‘work’.

German – because like “adventure”, “happily married couple”, “danger” and “thrills”, “treasure” does not look as one would expect it to. It comes in form of paper sheets hidden in a metal box – stock holdings at Mercedes. Finding a German treasure brings the film’s absurdity to a climax. Porumboiu makes a political joke by letting Romanians find German stock holdings while Canadians prepare to mine for gold in Roșia Montană – a debate followed by Costi’s wife on TV in another scene of the film. Since it cannot be claimed as national heritage, the found treasure is all theirs and it mutates, we suppose, into a larger number in Costi and Adrian’s bank accounts, something non-tangible again.

Confronted with his son’s disappointment when returning home without the rubies and pearls a Robin Hood would have gotten his hands on, Costi goes shopping for jewellery. In the ironically-happy ending scene of the Comoara Costi gives away the jewels he was able to buy to the children in the park, turning “treasure” back into what it was supposed to be. He himself, a humble father, metaphorically transforms into a modern and arguably heroic Robin Hood-like figure in the eyes of his son. The delighted children climbing on the attractions of the playground, accompanied by ample camera movement and by Laihbach’s song Opus dei (Life is life) mark the jubilant last scene of the film.

In dealing with the problem of so many things becoming non-palpable and thereby also with the resulting problem of their cinematic representation, Comoara also thematises the challenge this mutation represents for filmmaking. A challenge which can end up being quite a gain, if treated by masterful cinematic minds, such as Porumboiu’s. Comoara has indeed some richness hidden behind its plot.

Any Other Way: Taxi von Jafar Panahi

Taxi von Jafar Panahi

In seinem neuesten Film Taxi lässt Jafar Panahi, der sich selbst als taxifahrender Filmemacher spielt, über weite Strecken des Films seine Nichte jene Wahrheiten aussprechen, die das Regime in iranischen Filmen eher nicht hören will. Diese Vorgehensweise ist nicht neu, Panahi selbst setzte in seinen ersten beiden Filmen The White Balloon und The Mirror Kinder als Protagonisten ein und auch andere iranische Filmemacher nutzen Kinderwelten gerne als Allegorien für die gesellschaftlichen und politischen Probleme, die nicht offen angesprochen werden dürfen.

Taxi von Jafar Panahi

Die Nichte hat in der Schule den Auftrag bekommen einen Kurzfilm zu drehen (welch glückliche Fügung), der alle Kriterien der politischen Führung erfüllt. Er soll keine fiktive Welt abbilden, sondern die Realität, ist die Realität allerdings düster, soll sie mittels inszenatorischer Maßnahmen beschönigt werden. Es geht also um das Problem der Darstellung von Realität und dem Verhältnis von Realität und Fiktion, einer Thematik, die im iranischen Kino vor allem von Panahis Lehrmeister Abbas Kiarostami verhandelt wurde. Kiarostamis Taste of Cherry und Through the Olive Trees stehen augenscheinlich Pate für Panahis Film, auch wenn es Kiarostami vermag weitaus eleganter am schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Erfundenem zu balancieren. Auch Panahi konnte das schon besser: This Is Not a Film war ein erster Hilferuf des unter Hausarrest stehenden und mit Berufsverbot belegten Regisseurs. Die Inszenierung tritt hinter todernsten Verismus zurück, und die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt des Gezeigten stellt sich nur in einigen wenigen Szenen, wie zum Beispiel der Schlusssequenz im Lift. Mit This Is Not a Film testete Panahi die Wasser und als Konsequenzen ausblieben, verließ er seine Wohnung um in einem Ferienhaus am Meer einen Schritt weiter zu gehen. Closed Curtain ist pure Metafiktion, ähnlich wie in Kiarostamis Through the Olive Trees ist eine klare Trennung zwischen dem Filmemacher und seinem Team, die sich selbst spielen und dem „Film-im-Film“ auszumachen. Mit Taxi wagte sich Panahi schließlich einen weiteren Schritt vorwärts und macht keinen Hehl mehr daraus, dass das, was auf der Leinwand zu sehen ist, ein verbotenerweise gedrehter Film ist. In diesen drei Filmen hat er sich also über den Umweg der Selbstdarstellung wieder allmählich dem herkömmlichen Filmschaffen genähert und sich somit Schritt für Schritt über sein Berufsverbot hinweggesetzt. Wo This Is Not a Film noch in der legalen Schwebe  hing, und wohl im Zweifelsfall als Homemovie durchginge, in dem Panahi mehr schauspielert als Regie führt, ist Taxi eindeutig ein Feature Film aus der Hand von Panahi und das lässt sich auch nicht dadurch verschleiern, dass er selbst die Hauptrolle im einnimmt.

Es scheint, dass er mittlerweile zur Überzeugung gelangt ist, sich so ein Vorgehen erlauben zu können, denn auch nach Closed Curtain blieb eine strengere Bestrafung aus. Dieses langsame Vortasten macht von Produktionsseite durchaus Sinn, und wie auch bei den zwei vorangegangenen Filmen ist die schiere Existenz von Taxi eine Sensation, aber wo anfangs noch Not zur Tugend erklärt wurde, und aus Panahis Misere eine immense kreative Energie entstanden ist, bleibt mittlerweile nur Routine. Der ungeschönte Mut zur Hässlichkeit und dem Ausstellen der eigenen Verzweiflung ist ein verspielter und gespielter Realismus geworden, der beinahe zur Farce verkommt. Panahi gibt sich nicht mehr damit zufrieden, seine Freunde und Bekannten zu Wort kommen zu lassen, sondern wettert vielstimmig gegen seine Unterdrücker. Die Fahrgäste, die allesamt von Laiendarstellern verkörpert werden, sind bloß Marionetten, durch die Panahi seine Weltsicht mitteilt. Das ist vom ersten Schlagabtausch an klar – hier spricht nicht die Nichte, die Anwältin oder der Videoverleiher, sondern immerzu Panahi.

Taxi von Jafar Panahi

Womöglich ist das sogar die Pointe. Womöglich weiß Panahi gar nicht mehr, wie die Realität überhaupt darstellbar ist, und das vor allem jeder Versuch, die Realität so darzustellen, wie die Zensurbehörden das gerne hätten, zum Scheitern verurteilt ist. Das macht vor allem jene Szene gegen Ende des Films deutlich, in der die Nichte im Auto wartet, und eine Hochzeit filmt. Der Bräutigam verliert einen Geldschein, den ein bettelarmer Junge aufhebt und behalten will. Die Nichte spricht ihn darauf an, denn so eine Szene würde gegen die Vorgaben der Lehrerin verstoßen und könnte nicht für ihren Film verwendet werden. Sie überredet den Jungen den Geldschein zurückzugeben, was diesem jedoch nicht rechtzeitig gelingt: Alle Mühe bleibt umsonst, die Realität bleibt ein ephemeres Konstrukt, das sich dem Griff der Zensur entzieht. Panahi versucht gar nicht mehr vorzugeben sich dem Berufsverbot zu unterwerfen, er versucht gar nicht mehr der Frage des Verhältnisses von Inszenierung und Aktualität zu verhandeln, sondern übt Kritik am System. Das ist angesichts seiner Lage aller Ehren wert, aus filmischer Sicht wäre ein weiterer Versuch womöglich die bessere Entscheidung gewesen.

America Has Made My Fortune: A Most Violent Year von J.C. Chandor

In seinem dritten Spielfilm dreht J.C. Chandor in den 10er-Jahren des 21. Jahrhunderts einen 70er-Jahre-Film des 20.Jahrhunderts, der in den 80er-Jahren desselben Jahrhunderts spielt. Von den Lumet-Hinterhöfen zum Schnee der Bronx, kalte Gemäuer, die Farbtöne sind ein Wasteland, es ist wie bei James Gray ohne das Glühen, wo ist hier der Obststand, an dem sie in den 40ern auf Vito Corleone geschossen haben? Jeder Satz in A Most Violent Year wiegt heftig, alles ist eine Frage der Loyalität, des Respekts und vor allem des Geldes. Schwere Kamerafahrten voller Macht, die begleitet von den episch-leidenden Tönen von Alex Ebert auf die Gesichter und Körper dieses Ölindustrie-Dramas zufahren, eigentlich eine Stilübung, aber mancherorts als hochkomplexe Erzählung gefeiert. Im Zentrum steht ein Mann, der tatsächlich Abel Morales heißt. Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Person und ihrem Namen. Er ist ein Aufsteiger im Heizölhandel an der Ostküste 1981. Er ist Einwanderer, hat eine Frau und zwei Kinder. Gespielt wird er von Oscar Isaac (und seinem Mantel), der vielleicht eine der besseren Imitationen von Al Pacino in The Godfather abliefert. Eine starre Miene, die immer versucht zu antizipieren, den nächsten Schritt zu erahnen, um dann kalt und entwaffnend zuzuschlagen. Aber im Gegensatz zu Michael Corleone versucht sich Abel trotz heftiger Bedrohungen und Angriffe auf sein Unternehmen und seine Familie deutlich vehementer auf legalem Weg durchzusetzen. (Serpico nur ohne den Realismus) Ein Weg, der natürlich voller ziemlich eindeutiger Ambivalenzen (der Widerspruch ist gewollt) und Konflikten erschwert wird, die im Endeffekt auf einen typischen Abgesang auf den amerikanischen Traum hinausläuft. Die auf den nüchtern leidenden Mann einprasselnden Botschaften arbeiten dramaturgisch irgendwo zwischen Videospielmissionen und einer biblischen Parabel. Unbekannte stehlen gewaltvoll seine Tanklaster, Mitarbeiter werden verprügelt und auch die Polizei fängt an, gegen das Unternehmen zu ermitteln. Jedes Hindernis fordert immer eine neue Reaktion, ein neues Opfer und einen neuen Prinzipienbruch von Abel. Unterstützt wird er dabei von seiner Frau Anna (Jessica Chastain), die sein Ego herausfordert, sich ebenso wenig mit dem Durschnitt zufrieden gibt und in einer völlig überzogenen Szene mit einem überfahrenen Reh zeigt, was für eine harte Frau sie doch ist.

J.C. Chandor Oscar Isaac

Das Problem des Films ist zugleich seine Stärke. Es ist ein Fanboy-Film ohne Seele und ohne Realismusdrang. Chandor scheint daran, interessiert gewesen zu sein (wie bereits vor einiger Zeit der enttäuschende Derek Cianfrance in seinem The Place Beyond the Pines) einen Film auf eine gewisse Art zu drehen, statt einen Film zu drehen und die Art, aus dem Film heraus zu entwickeln. Man sieht Schauspielern dabei zu wie sie sich perfekt ins malerisch ausgeleuchtete Bild (das man schon irgendwo gesehen hat) setzen. Immer wieder scheint sich der Filmemacher über seine eigenen Bilder zu freuen. Diese Freude vermag man manchmal fast zu teilen, auch wenn man sich dazu auch einfach einen Film aus der Zeit ansehen könnte oder eben zum Beispiel The Immigrant von James Gray, der zwar auch einige Schwächen hat, aber in seiner Wiederbelebung einer Zeit und einer Kinozeit eine Sinnlichkeit in die Bilder legt, die auf ihre Art betont, dass es eine neue oder andere Perspektive auf scheinbar Bekanntes geben kann. Bei Chandor ist das nicht der Fall. Also erfreuen wir uns mit ihm an seinen Figuren, die am Bildrand aus dem Bild blicken, sodass hinter ihnen ein bedrohlich-epischer Raum entsteht, die immer wieder überrascht werden und durch die Dunkelheit tapsen und die sehr interessant und dynamisch in Verfolgungsjagden gefilmt werden. Allerdings passt die Selbstreflexivität und Selbstdarstellung der Figuren in diese streng komponierten, irgendwie geklauten Bilder, aus denen sich zugleich Eleganz und Unfreiheit ergibt. Und wenn ich mich frage, wo die Seele dieses Films schlummert, dann könnte man mir vielleicht antworten: „Genau.“ Oder aber die anhaltende Relevanz einer solchen Geschichte (einige deutliche Male wird schon darauf hingewiesen, dass Öl keine Kleingangstersache bleiben wird) wie sie in A Most Violent Year erzählt wird, ist das eigentlich bedenklich.

Jessica Chastain und Oscar Isaac

Es wird oft geschrieben, dass J.C. Chandor Männer in Krisen zeigt, Männer im Niedergang des amerikanischen Traums (ich weiß es gibt auch Frauen hier, aber nein, sie sind nicht wirklich da), die gezwungen sind, kühle und professionelle Entscheidungen zu treffen und die das oft mit bestechender und auffälliger Qualität tun. Am Offensichtlichsten war diese Struktur in seinem Margin Call, aber auch in All is Lost und A Most Violent Year sind solche Tendenzen mehr als deutlich. Das eigentlich spannende ist, dass Chandor den Moment nach dem Fall filmt, also eigentlich die Landung. Die Männer sind bereits gescheitert (sei es beruflich, auf ihrer Reise oder in ihren Prinzipien), sie leben eine verkorkste Version ihrer eigenen Träume und müssen sich fast wie Sisyphos damit arrangieren und umso härter weiterkämpfen. Pervers, wie aus diesen Situationen noch Auswege entstehen. So sagt der moralische Morales am Ende: „There is always the most right way“. Und vielleicht ist dieser Hoffnungsschimmer im Brachland das eigentlich Tragische im Kino von J.C. Chandor. Die Existenz geht weiter, auch wenn ihr Kern gestorben ist im Kapitalismus. Die 1970er Jahre leben im amerikanischen Kino der Gegenwart. Chandor hat sich dem Trend angepasst und ist weder gescheitert noch hat er begeistert. Aber er kämpft.

Diagonale 2015: Über die Jahre von Nikolaus Geyrhalter

In vielen amerikanischen Filmen der jüngeren Zeit wurde gezeigt wie Menschen mit etwas einfallslosen und nüchternen Ratschlägen im Angesicht ihrer Arbeitslosigkeit bedacht werden. Da heißt es dann: Versuchen Sie diesen neuen Lebensabschnitt als eine Chance zu begreifen. Eine solche Chance, die natürlich weit vielschichtiger und undefinierter ist, als man sich das theoretisch vorstellen kann, wird allerdings erst durch die vergehende Zeit offenbar. Oft ergreifen die Menschen auch nicht eine Chance, sondern die Chance ergreift die Menschen. In Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre werden einem diese Zeit und vor allem ihre Wirkung auf verschiedene Individuen auf einfühlsame und doch größtenteils beobachtende Weise nahegebracht. Der Filmemacher drehte in Form einer Langzeitstudie 10 Jahre lang mit unterschiedlichen Arbeitern der Anderl Fabrik, einer alten Textilfabrik, die 2004 Konkurs anmelden musste. Geyrhalter besuchte die ehemaligen Arbeiter über eine Dekade in unterschiedlichen Rhythmen und begleitete so ihre persönlichen und beruflichen Entwicklungen. Dabei gelingt es ihm durch die Parallelführung unterschiedlicher Figuren etwas über ein soziales Gefüge, eine politische Entwicklung und vor allem über das Wesen von menschlichen Existenzen zu erzählen.

Das Herausragende an der Arbeit von Geyrhalter ist seine Nähe zu den Figuren. Mit der Zeit gewinnt man auch als Filmemacher das Vertrauen der Protagonisten und als Zuseher geht man einen ganz ähnlichen Weg. In diesem Sinn ist der Film am Rande auch eine Reflektion über menschliche Nähebeziehungen. Dies wird vor allem auch durch die Präsenz des Filmemachers selbst deutlich, der Fragen stellt, angesprochen wird und sich einmal lachend inmitten von Schafen findet. Am Spürbarsten wird diese Nähe in den Gesprächen, die Geyrhalter mit den Frauen und Männern führt. Oft führt er diese Gespräche tatsächlich an Arbeitsplätzen oder im Alltag. Sie gehen aus den Bewegungen einer Routine hervor und scheinen fast beiläufig, in manchen Fällen gar zufällig zu entstehen. Dadurch vermeidet er zum einen die Talking Heads Gefahr, erzählt aber zum anderen auch noch etwas über das Weitergehen, die Fortsetzung des Lebens, die in den traurigen Floskeln der alternativlosen Menschen zu einer Art Rettungsanker wird. Immer gibt es etwas, eine Bewegung, ein Ereignis. Es ist Geyrhalters Gespür zu verdanken, dass er diese Floskeln als zugleich traurig und schön wahrnehmbar macht. Mit feinen Reaktionen wie dem längeren Halten einer Einstellung, dem Schnitt im richtigen Moment und passenden Fragen vermag Geyrhalter vor allem in der ersten Hälfte seines dreistündigen Werks zu begeistern. Dabei erscheinen Fehler, Stärken, Schicksalsschläge, Naivität und Weisheit unter demselben Licht einer Menschlichkeit, die von den Figuren ausgeht und in vollem Bewusstsein vom Filmemacher umarmt wird. Natürlich immer mit der österreichischen Distanz einer leichten Ironie an angebrachten Stellen.

Über die Jahre  Geyrhalter

Eine große Ruhe geht von Über die Jahre aus und das ist durchaus bemerkenswert, da er sich mit unruhigen Zeiten befasst. Der Film setzt nicht zu großen philosophischen oder politischen Gesten an, sondern strebt vielmehr nach einer beobachtenden Poesie der kleinen Dinge. Dabei erreicht der Film dennoch einen fast biblischen Höhepunkt der Hoffnungslosigkeit als die Flut einen weiteren Schicksalsschlag für eine der Familien bereit hält. Es geht um das Bewusstwerden von Werten und inneren Überzeugungen, die in einer nur vordergründigen Einfachheit unheimliche Stärken und Schönheiten offenbart. Wenn einer der Männer sich in seiner Arbeitslosigkeit plötzlich findet mit dem Ausgraben von Baumwurzeln oder kleinen Gedichten, dann ist das schlicht beeindruckend. Geyrhalter findet in den Bruchstellen von Menschen ihre Wahrheit: In ihrem Zögern, ihren Versprechern, ihrem Zittern. Zeitsprünge werden mit langen Schwarzblenden angekündigt, was den Eindruck einer fließenden Bewegung verstärkt.

Über die Jahre von Nikolaus Geyrhalter

Wie so oft sind die Wendungen des Lebens weitaus extremer als jene, die in einem fiktionalen Film glaubhaft wären. Dennoch hat Über die Jahre ein großes Problem, denn die Willkür der gewählten 10 Jahre verträgt sich kaum mit der Offenheit des Lebens, die vom Film so betont wird. Abders formuliert: Warum hat dieser Film ein Ende? Geyrhalter findet keine geschickte Lösung für einen Rahmen oder einen Bogen beziehungsweise ist er nicht mutig genug die Offenheit als solche bestehen zu lassen. So beginnt er im letzten Drittel des Films plötzlich mit Fazitfragen wie: Waren die letzten 10 Jahre gute oder schlechte Jahre? Hier überfährt die berechtigte Empathie dann die sonst so präzise Weltwahrnehmung des Filmemachers. Auf der einen Seite ist dies verständlich und auch dem natürlichen wachsen der Beziehungen zwischen dem Filmemacher und seinen Figuren geschuldet, auf der anderen Seite besticht gerade die erste Hälfte des Films dadurch, dass Geyrhalter stets exakt den richtigen Abstand zwischen der Kamera und den Menschen hat, einen Abstand, der ihm zugleich eine nüchterne, unparteiische Distanz und eine emotionale Wärme ermöglicht. Am Ende lässt er sich gar zu einem Reality-TVartigen Moment hinreißen, wenn eine ehemalige Arbeiterin auf einem Holzturm zusammen mit ihrem Mann in Tränen ausbricht, weil ihr Sohn vor einiger Zeit ums Leben gekommen ist. Es steht außer Frage, dass diese Dinge passieren und das es auch absolut berechtigt ist, sie im Film zu haben. Allerdings sprechen wir hier von einer Ethik der Information und da Geyrhalter durchaus sehr narrativ arbeitet, stellt sich die Frage, warum er diese Information in einem solchen Gefühlsausbruch mitteilen musste, die bei genauerer Betrachtung seine ganze elliptische Form, ja sogar die Zeit selbst mit einem Ereignis füllt, dass uns ein Grauen darbietet statt wie sonst das Grauen in der Sprachlosigkeit und dem Vergehen der Zeit selbst zu finden.

Vielleicht ist die Frage überhaupt, wo man in einem solchen Film, der so nah am Leben ist und immer wieder von der Kontinuität dieses Lebens erzählt, aufhören will. Der Film müsste eigentlich ewig weitergehen, um zu einem Ende zu kommen. Darin liegen seine unheimliche Kraft und sein irgendwie unbefriedigendes Ende.

Warum Das ewige Leben eigentlich ein Avantgarde-Film ist

Josef Hader als Simon Brenner

Überfliegt man die Rezensionen der neuen Wolf-Haas-Adaption Das ewige Leben von Wolfgang Murnberger findet man durch die Bank Bemerkungen über die Abweichungen von der Romanvorlage, den tollen Cast und den fortschreitenden Verfall des Hauptcharakters Simon Brenner, dem die äußere Gestalt von Josef Hader, auch außerhalb dieser Filmrolle bedrohlich nacheifert. (Gibt es eigentlich einen anderen so beliebten Filmschauspieler, der so ungesund ranzig aussieht?) Es geht also zumeist um schauspielerische Leistungen, um Anknüpfungspunkte zu den anderen Filmen der Reihe, um die düstere Atmosphäre und um den Schauplatz Graz.

Warum aber liest man nirgends, dass Das ewige Leben eigentlich ein Avantgarde-Film ist? Zugegeben, diese Formulierung schießt etwas über das Ziel hinaus. Niemand wird bestreiten, dass Das ewige Leben in erster Linie ein stringent erzählter Krimi ist, aber ohne dem Film seine Qualitäten in dieser Hinsicht absprechen zu wollen, wird er aus filmischer Sicht erst wirklich interessant, wenn man den Blick auf die Flashbacks wirft, in denen die Ereignisse vor fünfunddreißig Jahren gezeigt werden, die den Hintergrund für die Verstrickungen des Plots liefern. Diese Flashbacks sind lose, fragmentiert, zunächst nicht kontextualisiert und unterscheiden sich in ihrem Stil deutlich vom restlichen Film.

Josef Hader und sein Moped

Ein Blick zurück hilft vielleicht, um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist. Wir schreiben das Jahr 1990, der Jungregisseur Wolfgang Murnberger hat soeben seinen ersten Langfilm fertiggestellt. In Himmel oder Hölle, verarbeitet er semi-autobiographisch seine Kindheit als Sohn von Kinobesitzern im ländlichen Ostösterreich. Das Leben des jungen Protagonisten wird episodenhaft dargestellt, während immer wieder Momente poetischen Innehaltens den Erzählfluss durchbrechen. Diese Bilder ähneln stark den Erinnerungsbildern in Das ewige Leben – sie sind sonnendurchflutet, nostalgisch, seltsam verklärt und dienen mehr dazu eine bestimmte Atmosphäre aufzubauen, als den Plot voranzutreiben.

Vier Jahre nach Himmel oder Hölle legte Murnberger mit Ich gelobe einen weiteren semi-autobiographischen Film vor; dieses Mal ließ er seine Bundesheerzeit Revue passieren. Ich gelobe zeigt Murnbergers Geschick im Umgang mit der österreichischen Mentalität, die hier, ähnlich wie in den Brenner-Filmen, nicht explizit zum Thema gemacht wird, aber immer nebenher mitverhandelt wird. Der Film endet mit dem Unfalltod von einem der Kameraden, die zusammen ihren Präsenzdienst absolvieren – sie sind in etwa im gleichen Alter wie die vier Freunde in den Flashbacks aus Das ewige Leben. Hat Murnberger also hier eine Synthese aus seinen zwei persönlichsten Filmen von vor zwanzig Jahren gezogen und die formalen Aspekte von Himmel oder Hölle und inhaltliche Gemeinsamkeiten zu Ich gelobe mit der fiktiven Vorlage eines anderen Autors verwoben?

Josef Hader in Das ewige Leben

Diese Mutmaßung lässt sich für den Moment nicht überprüfen, und ist für den weiteren Argumentationsverlauf auch nicht unbedingt von Belang, aber sie zeigt, dass Murnberger in Das ewige Leben womöglich einen persönlicheren Zugang wählte, als in den früheren Brenner-Filmen. Es sind also nicht die Krimielemente, die aus der Romanvorlage übernommen wurden, nicht die treffende Zeichnung des österreichischen Lokalkolorits, sondern diese Momente der Erinnerung an eine bessere Zeit, die immer wieder in den Film hineindringen und als Überbrückung fungieren, wenn Brenners Gedächtnis aussetzt oder seine Migräneanfälle ihn übermannen, die den Film von der Masse abheben. Die Szenen werden allerdings nie so gezeigt, dass man davon ausgehen könnte sie seien Brenners eigene Erinnerungen; sie werden nicht durch Kamerazufahrten auf den Kopf Brenners eingeleitet und sie sind nur bis zu einem gewissen Grad subjektiv. Entweder lässt Brenners Amnesie oder die zeitliche Distanz zu den Ereignissen diese Erinnerungen undeutlich werden, womöglich sind die Erinnerungen an diese Momente im Alkohol- und Adrenalinrausch per se undeutlich – oder aber, bei den Szenen handelt es sich gar nicht um Brenners Erinnerungen, sondern um Sehnsuchtsbildern, in denen die Figuren aus der Geschichte, die in diesen Szenen am ehesten anhand ihrer Fortbewegungsmittel identifiziert werden können, aus der Perspektive eines unbenannten Anderen zeigen. Ein Blick, wie er häufig in den Trancefilmen der frühen US-Avantgarde zu sehen ist, ein mythischer und poetischer Blick, der in sich wenig Bedeutung trägt – die Szenen werden erst durch die Thematisierung in den Dialogen des normalen Handlungsverlaufs verortet und verständlich gemacht – und in erster Linie ästhetische und atmosphärische Funktion hat. Man hätte das alles sehr viel stringenter, einfacher, simpler und langweiliger machen können, wie das Gros der gegenwärtigen Kinofilme, doch Murnberger und Co wählen einen sehr viel spannenderen Weg, lassen vieles im Ungewissen, decken Zusammenhänge erst im Nachhinein auf und lassen den Film ohne Auflösung enden.

In Zeiten, in denen im Kino erfolgreich ist, was dem Publikum alles, was es zu wissen gibt auf dem Silbertablett serviert, ist den Machern von Das ewige Leben hoch anzurechnen, dass sie sich diesem Trend (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) widersetzen.

American Monsters: Foxcatcher von Bennett Miller

Foxcatcher Bennett Miller

Fast zärtlich, mit kraftvoller Gewalt und einer spürbaren Aggression umringen sich die beiden Schultz-Brüder in einer frühen Szene von Bennett Millers Foxcatcher. Die Ästhetik des Ringsports wird insbesondere in den angenehm ruhigen Anfangssequenzen dieses menschlichen Dramas mit Monstern erforscht. Was sind das für Menschen, die sich da bekriegen? Was sind das für Körper? Später gibt es gar eine Szene, in der eine Trainingssession begleitet von klassischer Musik nun wirklich einem Tanz gleicht. Der Schweiß, die Männlichkeit, die Wut, die Verletzlichkeit, die Würde. In seinem dritten fiktionalen Spielfilm gelingt es Bennett Miller wieder, eine beachtliche Spannung zwischen der Physis und Psyche seiner Darsteller zu erzeugen. Wie schon beim unfassbaren Philip Seymour Hoffman in Capote und bei Brad Pitt in Moneyball zeigen sich die Emotionen und Lebensbedingungen der Figuren über ihren kompletten Gestus und ihrer Körperlichkeit. Und je länger Foxcatcher dauert, desto mehr spüren wir diese innere Kraft. Insbesondere der beobachtende Gestus, den Miller auf die Ringszenen legt, entfesselt ein filmisches Potenzial. Jedoch wird hier zu keiner Zeit versteckt, was erzählt werden soll. Manchmal nehmen die narrativen Zwänge der körperlichen Energie den Wind aus den Segeln, manchmal verstärken sie diese gar noch. Hochemotionale, musikalische Akzentuierungen versuchen immer wieder einen Fluss in die Bewegungen und Zwischenmenschlichkeiten zu bringen, der doch sonst auch von ganz alleine aus der Quelle der Körper entstehen würde.

Foxcatcher Carell

Miller erzählt die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen den beiden großen amerikanischen Ringern und Olympiasiegern, den Brüdern Mark und Dave Schultz, und dem exzentrischen Multimillionär John du Pont. Basierend auf wahren Begebenheiten will dieser ein Team aufbauen, das den amerikanischen Ringsport bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 zu Gold führen soll. Miller bewegt sich auf bekanntem Terrain. Nicht nur die Tatsache, dass er sich wieder im Umfeld beziehungsweise Hintergrund eines Sports bewegt und einen als Comedian bekannten Darsteller in einer ernsten Rolle (Steve Carell als Du Pont) besetzt, sondern auch die Bedeutung seiner auf tatsächlichen Ereignissen beruhenden Beobachtungen für die amerikanische Nation am Ende ihrer eigenen Ideale einen die bisherigen drei Langspielfilme des Regisseurs. Dabei erforscht er wieder das langsame Umkippen festgefahrener Vorstellungen von Männlichkeit, Patriotismus und Glück. Der krankhafte und fehlgeleitete Ehrgeiz seiner Figuren ist ein Sinnbild und zugleich vermag Miller es, die körperlichen Strapazen dieser inneren Konflikte in Zuckungen und Ausbrüchen zu zeigen und sie somit über ihre Metaphorik hinaus, zu einem ganz greifbaren Element seiner Erzählung zu machen. Dabei agieren die amerikanischen Monster in diesem Psychospiel keineswegs subtil. Carell bewegt sich seiner Natur gemäß im erstaunlichen Rahmen einer grotesken Natürlichkeit. Man hat ihm extrem geholfen mit Make-Up und Kostüm, denn im Endeffekt wirkt seine Erscheinung fast wie aus einem Richard-III.-Hakennasen-Horrorfilm, er ist ein wahrhaftes Monster und in dieser Monstrosität zugleich gefährlich und verletzbar. Du Pont ist ein gelangweilt reicher Erbe, der sich zur Erhaltung amerikanischer Ideale berufen sieht, solange er ihnen als Vorreiter dienen kann und damit seine Mutter beeindruckt. Als Erbe einer Munitions-Dynastie steht er weniger für eine manipulierende, nach Großem strebende, kapitalistische Macht, sondern ist schon selbst in seinen Gedärmen davon korrumpiert. Bedrohung und Einsamkeit, Gewalt und Angst, Zuneigung und Kontrolle… Carell und Miller vermögen es, der Figur all diese Ambivalenzen zu geben. Leider jedoch setzen sie ein wenig zu stark auf einen bewusst übertrieben dargestellten Mutterkonflikt. Sie (Vanessa Redgrave) hält den Ringsport für einen niederen Sport und gibt ihrem Sohn nicht jene Anerkennung, nach der er so lechzt. Im ersten Drittel des Films arbeitet Miller noch mit Andeutungen, dann entscheidet er sich aber dafür, ganz deutliche Szenen zu zeigen, die diesen Konflikt zeigen. Einmal legt Carell seiner unbeweglichen Mutter einen Pokal in den Schoss und wir sehen unheimliche Monster, die voller Neurosen, Ehrgeiz, Anerkennungsstreben und Abhängigkeiten jede Menschlichkeit verlieren oder gerade darin ihre Menschlichkeit offenbaren. Zwar flirtet Miller immer wieder heftig mit den Klischees einer solchen Erzählung, aber er rettet sich dadurch, dass er seine Szenen noch weiter führt und die Kamera noch einige Augenblicke über die scheinbaren Schmerzgrenzen hinweg auf den Überzeichnungen und Handlungen ruhen lässt und ihnen somit eine Wahrhaftigkeit zurückgibt. Eine solche Szene findet sich, als das Team nach dem Weltmeistertitel im Trophäenkeller von Du Pont zusammen feiert. Du Pont ist betrunken, er nimmt die Pferdepokale seiner Mutter aus dem Schrank und legt die neugewonnenen Medaillen hinein, er hält (wie immer) große Reden und bricht betrunken zusammen…denkt man…aber auf dem Boden liegend beginnt er plötzlich mit seinen Sportlern zu ringen, er umklammert ihre Beine, lachend, schreiend, und es zeigt sich eine fast unschuldige Leidenschaft, eine Kindlichkeit und Traurigkeit, die man niemals in dieser Szene erwartet hätte und die dennoch in das Krankhafte und Bedrohliche der Figur passt. Und in diesem Fall bekommt Miller die Wendung tatsächlich aus den Körpern seiner Figuren. An anderen Stellen setzt er sie auf. Als Beispiel könnte man die plötzlichen homosexuellen Spannungen nennen. Aber auch das emotionale Keil, das sich zwischen Du Pont und Mark Schultz drängt, ist nicht jederzeit spürbar, sondern dient lediglich als narrativer Aufhänger für dramatische Szenen.

Foxcatcher Tatum

Das Obskure und Kranke in du Pont kommt aus der amerikanische Seele herausgetropft, es ist die Umstülpung, und wie Umstülpungen es so an sich haben, zeigt sich dadurch etwas, was eigentlich verborgen bleibt und doch dazugehört, wenn nicht sogar essentiell ist. Das Kippen der Männlichkeit ist hier auch das Kippen amerikanischer Werte. Es stellen sich Fragen an den Kapitalismus und das Streben nach Perfektion, an die Bedeutung der Geschichte und das Kämpfen für Ideale. Eine dieser Fragen ist, ob die scheinbar offensiven, expandierenden Bewegungen nicht eigentlich Verteidigungsmechanismen sind und wenn man nur lange genug auf dem Boden liegen könnte und sich nicht umdrehen lassen würde, dann könnte man ihnen widerstehen. Und wenn dem so ist, dann sind die Kämpfe dieser Monster und womöglich des ganzen Staates, keine Kämpfe mit einer anderen Partei, sondern eigentlich Kämpfe mit sich selbst, und so kann auch das sowjetisch-amerikanische Duell am Ende des Films keine Bedeutung mehr haben. Es ist ein entleertes Bild eines Kampfes, der keiner mehr sein kann, weil schon zuvor alle Ideale, für die gekämpft werden könnte, zerstört worden sind. Man kann sich auch bezogen auf den Titel fragen, was man eigentlich jagt und fängt? Ruhm, Menschen, Seelen oder doch nur seine eigenen Konflikte? Hinter allen Idealen scheint immer ein Eigennutzen als antreibende Kraft zu stehen. Das ist nicht nur das Monströse an Foxcatcher oder an den USA sondern wohl an unserer Menschlichkeit oder zumindest jener, die uns Miller hier nahebringt.

Auch Channing Tatum als Mark Schultz ist ein hochinteressanter Fall. Das raue, stumpfe Naive, schweigend Gekrümmte von Tatum funktioniert vor allem deshalb, weil er einen glaubhaften Körper für diese Rolle hat. Wenn er einmal im Auto sitzt und einen Burger isst, dann spürt man förmlich, wie sein Körper das Fleisch zermalmt, stoisch wie eine Walze, und doch brodelt es in ihm. Allerdings hat er keinen Kanal, um dieses Brodeln zu entflammen, stattdessen klebt er sich an die Illusion einer Selbstbestimmtheit im Schatten einer Fatalität. Seine Befreiungsversuche sind dann dementsprechend uninspiriert und erfolglos. Besonders dramatisch ist, dass er zwar daran zerbricht, am Ende aber nicht der Hauptleidende ist. Das trifft schon eher auf seinen Bruder Dave zu, der von Mark Ruffalo gespielt wird. Nein, Mark Ruffalo als Ringer war und ist eine schlechte Idee. Die gebückte Körperhaltung wirkt bei ihm in jeder Sekunde wie bemühtes Spiel, sein Körper scheint niemals der eines Leistungssportlers zu sein, eine treuherzige Wärme erzählt uns in jeder Szene mit ihm, dass er ein guter Mensch ist und sonst nichts und aus dieser Wärme gewinnt Miller nicht wie bei seinen anderen Figuren einen inneren Konflikt sondern benutzt ihn nur als Drehbuchfunktion. Es ist sicherlich sehr fruchtbar, sich Foxcatcher und Bennettt Miller aus einer Schauspielperspektive zu nähern, denn auch seine in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnete Inszenierungsarbeit ordnet sich auf den ersten Blick den Perfomances unter. Es ist fast eine ähnliche Strategie wie jene eines Woody Allen. Bei Miller wechseln sich Halbtotalen und Nahaufnahmen ab, und in diesen Einstellungen lässt Miller seinen Schauspielern Raum, um ihre Charaktere mit körperlichem Leben zu füllen. (hier ein Unterschied zu Allen, der die Körperlichkeit unter seinen Dialogen begräbt.) Zwischendurch gibt es schön fotografierte Supertotalen und eben jene Ringtänze. Mit diesem eigentlich limitierten Repertoire lässt Miller aus seiner Montage und seinem Raumverständnis auch Konflikte und Abhängigkeiten in seine Bildsprache gleiten. Ähnlich wie bei David Fincher kann man anhand von Abständen zwischen den Figuren, ihren räumlichen Positionen und kleinen Details am Rand des Bildes die inneren Konflikte erkennen. In dieses Muster fügt sich auch ein extrem durchdachtes Szenenbild ein. Hier wird vor allem mit Gegensätzen gearbeitet. In Schultzs Wohnung liegen einige Münzen auf einer Kommode, während bei Du Pont alles nur so glänzt vor Patrizier-Schick, hässlich und geordnet und immer mit der merkwürdigen Gewalt einer Bedrohung unterlegt. Die Tableau-Establisher zeigen häufig Gewehre im Hintergrund, eine Erdrückung geht von den zugestellten Symmetrien aus. Diese wird nur vom Sport, also wieder der Physis durchdrungen. So trainiert Tatum in einer Supertotale auf dem Weg zu Du Ponts Anwesen, rollt über den sauber gemähten Rasen und durchbricht damit die eigentliche Anordnung. Es ist bezeichnend und irgendwie auch spannend, dass Foxcatcher an genau dem gleichen Widerspruch krankt, den er in seinem Kern betrachtet. Es ist ein Tanz zwischen einer auf Effekt und psychologische Klarheit zielenden Narration und einer fast stummen Dokumentation der Körper. Und so könnte man am Ende zum Schluss kommen, dass die Ideale selbst die Monster sind und die Monster nur daran zerbrochene Menschen.

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Berlin, Januar 1919. In den Straßen wüten Aufstände. Seit Ende des Großen Kriegs durch den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November kämpfen kommunistische Organisationen um die Etablierung einer Räterepublik. Was Anfang Januar mit Arbeiterstreiks begonnen hat, entwickelt sich zu einem bewaffneten Konflikt, der Aufstand der Arbeiter wird von KPD und Spartakusbund unterstützt. Karl Liebknecht hat sich für diese militante Vorgehensweise entschieden – Rosa Luxemburg setzte sich für eine gewaltfreie Lösung ein. Gegen 12. Januar marschieren regierungstreue Truppen in Berlin ein und schlagen den Aufstand brutal nieder. Der Aufenthaltsort von Liebknecht und Luxemburg wird ausgeforscht, die beiden werden festgenommen und erschossen. Genau 96 Jahre nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, am 15. Januar 2015 feiert Tatjana Turanskyjs neuer Film Top Girl in der Volksbühne Berlin Kinopremiere. Die Berliner Volksbühne steht am Rosa-Luxemburg-Platz schräg vis-à-vis vom Karl-Liebknecht-Haus, dem Parteisitz der Parlamentspartei Die Linke. Am Nordwestrand des Platzes steht seit 2010 das L40, ein markanter schwarzer Klotz, ein Musterstück moderner Städtearchitektur, mit eindrucksvollem Blick auf die imposante Fassade der Volksbühne. In diesem Wohn- und Bürogebäude ist die Escort-Agentur untergebracht, der Helena, die Protagonistin von Top Girl, angehört. Ein Zufall? Wohl kaum, denn Top Girl versucht nicht bloß die Geschichte einer Endzwanzigerin zu erzählen, sondern auch ein Statement zur Lage der Nation abzugeben – das gelingt mäßig.

Julia Hummer in Top Girl

Julia Hummer ist Helena, in Teenagerjahren als Schauspielerin halbwegs erfolgreich, mittlerweile nur mehr gelegentlich bei Castings zu finden. Ihre Brötchen verdient die Alleinerzieherin als Escort-Dame. Das erlaubt Turanskyj einen Blick auf die Sexarbeit-Branche, und wie man es aus Filmen dieser Art kennt, darf auch hier die Montagesequenz der seltsamen Gestalten mit noch seltsameren sexuellen Vorlieben nicht fehlen – ein Schaulaufen der Freaks, die sich bei Fräulein Helena ihre perversen Wünsche erfüllen lassen. Das klingt rassig und sexy, ist es aber nicht. Selten hat man in einem Film über Sexarbeit so wenig Sex zu sehen bekommen, und tatsächlich gehören die Szenen, wo am meisten Haut zu sehen ist Helenas Mutter Lotte, die in einem total irrelevanten Subplot eine Affäre mit einem jüngeren Gesangsschüler beginnt. Lotte soll uns wohl etwas über die Rolle der Frau sagen, und dass es auch voll okay ist, wenn sich ältere Frauen jüngere Liebhaber nehmen und ihre Sexualität ausleben. Zur Sicherheit schiebt Turanskyj noch eine Szene ein, in der Mutter und Tochter einen Workshop zu genau diesem Thema besuchen – doppelt hält besser, Subtilität wird ohnehin überbewertet. Deshalb reicht es auch nicht, dass der Herr Gesangsschüler leicht zerrauft von Helena und ihrer Tochter in der Wohnung der Mutter vorgefunden wird, in einer voyeuristischen Einstellung durch einen Türspalt wird der „geheime“ Abschiedskuss gezeigt – doppelt hält besser.

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Stichwort voyeuristisch: Mit der Vermeidung von expliziten Sexszenen umgeht der Film immerhin eine Art von Blickinszenierung, die die feministische Filmkritik gern „male gaze“ nennt. Dieser männliche Blick hat in einem Film, der so entschieden für die Ideale der feministischen Theorie eintritt (und auch das wiederum wenig subtil, durch seltsam eingeschobene Rezitationspartien à la Straub-Huillet) natürlich nichts verloren, womöglich fehlte aber schlicht die Befähigung eine Sexszene zu drehen, die ohne Pornokonventionen auskommt. Ein Blick auf die Arbeiten von Turanskyjs Kollegen und Kolleginnen der boomenden Feminist-Porn-Schiene hätte nicht geschadet. So wirkt das Ganze einfach zahnlos, ein weiterer Fall von „ich will, aber ich kann nicht“, wie man ihn in der deutschsprachigen Filmlandschaft nur zu oft findet. Eine Feminismus-Lehrstunde am Fallbeispiel der Helena, in der so offensichtlich keiner der Charaktere mit seiner Sexualität umgehen kann, dass es am Ende gar nicht mehr irritiert, wenn der Film so aufhört, wie er beginnt – mit nackten Frauen im Wald. Von  dieser exotisch-erotischen Rahmung darf man sich aber nicht täuschen lassen, denn so sehr der Film auch versucht eine Variation des Jeanne-Dielman-Effekts zu erzeugen, so wenig können diese entfremdet-distanzierten Gestalten und die platte, aufgesetzte Inszenierung irgendeine Art von emotionaler Reaktion hervorrufen.