Mehr als Kirschblüten und rote Bohnen: An von Naomi Kawase

An von Naomi Kawase

Die ersten Momente in Naomi Kawases An sind der nüchternen Beschreibung der Lebenswelt Sentaros gewidmet. Er ist Geschäftsführer einer Imbissbude, wo er dorayaki verkauft, das sind eine Art Pfannkuchen, die mit an, einer süßen Paste aus roten Bohnen gefüllt sind. Morgens raucht er eine Zigarette, macht sich auf den Weg zu seinem kleinen Laden, schließt dort auf und bereitet den Teig für die dorayaki zu. Wortkarg verrichtet er seine Arbeit und scheint nicht wirklich für gastronomische Dienstleistungen geschaffen zu sein. Sein Leben wirkt streng umgrenzt, er wirkt isoliert und seine Augen vermitteln den Eindruck einer Ziellosigkeit, die aber zunächst nicht weiter thematisiert wird. Dann betritt die Rentnerin Tokue die Bühne, sprich die kleine Imbissbude, und bewirbt sich als Aushilfe in Sentaros Laden. Als „Bewerbungsschreiben“ bringt sie eine umwerfend gute Bohnenpaste mit. Sentaro stellt die recht gebrechliche Seniorin tatsächlich ein und der Verkaufserfolg gibt ihm zunächst Recht. Es soll im weiteren Verlauf aber nicht die namensgebende Bohnenpaste sein, die für die Entwicklung des Films sorgt, sondern Tokues verkrüppelte Hände.

An von Naomi Kawase

Dazu ein Exkurs: Lepra (oder auch Morbus Hansen) ist eine Infektionskrankheit, die durch Bakterien übertragen wird. Unbehandelt führt die Krankheit zu einem Absterben der Nerven (vor allem in den Extremitäten und im Gesicht) und zur Verstopfung der Gefäße durch Verdickung des Bluts. Die Betroffenen verlieren ihr Schmerzempfinden und verletzen sich in weiterer Folge häufig unbemerkt. Wenn diese Wunden sich infizieren, kann es zu durch Entzündungen zu einem Absterben der Gliedmaßen oder einzelner Gesichtsteile kommen. Aufgrund dieser Komplikationen nahm man lange Zeit an, dass die Krankheit selbst das Abfallen von Extremitäten zur Folge hat. Bei glimpflichem Krankheitsverlauf beginnen sich Geschwüre zu bilden, die Knochen, Sehnen und Muskeln zersetzen können und zur Verformung der Gliedmaßen führen. Leprakranke waren in der Geschichte wiederholt starker Verfolgung und Isolierung ausgesetzt und mussten meist in Quarantäne, in sogenannten Leprakolonien dahinsiechen. Mit der Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden verbesserte sich im 20. Jahrhundert zumindest in der westlichen Welt ihre Lage und die Krankheit gilt heute als heilbar. Trotz dieses Fortschritts wurden Leprakranke in Japan noch bis 1996 in geschlossenen Heilanstalten untergebracht und von der restlichen Gesellschaft isoliert. Sie durften keine Kinder bekommen und nicht mit der Außenwelt verkehren. Tokue war eine von ihnen und hat rund vierzig Jahre ihres Lebens in vollkommener Isolation verbracht. Trotz der Abschaffung der diskriminierenden Gesetze vor gut zwanzig Jahren steht es um die verbliebenen Leprakranken und deren Rolle in der japanischen Gesellschaft nicht zum Besten. Die Aufhebung der juridischen Ausschlussmechanismen hat nicht zu einem Ende sozialer Ausgrenzung geführt. Die Erkrankten leben auch heute noch in halbversteckten Pflegeanstalten und bleiben weitestgehend unter sich. Wie sich im Laufe des Films herausstellen soll ist Tokue nicht die einzige, die unter Ausschlussmechanismen zu leiden hat. Auch Sentaro und die junge Wakana, Stammgast in Sentaros dorayaki-Laden und seine einzige Bezugsperson, die als dritte im Bunde das Ensemble komplett macht, sind auf ihre Weise isoliert und unfrei. Es sind drei Generationen, die allesamt von einer gewissen Tendenz der japanischen Gesellschaft betroffen sind, höchst komplexe, historisch gewachsene und kulturell determinierte Ausgrenzungspraktiken hervorzubringen. Am Beispiel Tokues wird das am deutlichsten, ihr Leidensweg wird am explizitesten dargestellt, bei Sentaro und vor allem bei Wakana bleibt jedoch vieles unausgesprochen. Wissen wir von Sentaro wenigstens, dass er in der Vergangenheit einen Mann zum Invaliden geschlagen hat und die finanziellen Folgen ihn in eine Art Lohnknechtschaft geführt haben, indem er den Besitzern der dorayaki-Bude seine Schulden abstottern muss, sind es im Fall Wakanas nur Andeutungen, Gesten, Wortfetzen, Blicke. Sie scheint von ihrer Mutter vernachlässigt zu werden, in bescheidenen Verhältnissen zu leben und nur wenig soziale Kontakte zu pflegen. Es ist die Kombination aus sozialer Kälte und finanzieller Verhältnisse, die ihr Leben fremdbestimmen und sie isolieren.

An von Naomi Kawase

In den Händen minderer Filmemacher wäre An wohl zu einem Themenfilm verkommen, der diese Missstände anprangert und diese drei Außenseiter als große Opfer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen darstellt. Kawase hingegen ist weder daran interessiert „Freaks“ auszustellen, noch eine explizite politische Botschaft auszusprechen. Ihr Film ist purer Humanismus. Sie nähert sich diesen drei Menschen nicht über den Weg ihres Außenseitertums, sondern lässt sie für die erste Hälfte des Films in einer Art Kammerspiel und ohne große dramaturgische oder narrative Kniffe interagieren. Ihr Tagesablauf, ihre Bewegungen, ihre Gespräche unterscheiden sich nicht von denen der breiten Masse. Eingestreut, pastorale Naturaufnahmen im Stile eines Terrence Malick, die die Analogie verstärken, dass der Mensch ganz einfach, und in erster Linie, ein Naturgeschöpf ist – und als solche Naturgeschöpfe treten auch die drei Hauptfiguren in An auf. Kawase nähert sich ihnen ohne Vorurteile und ohne ihre Vergangenheit zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken. Das geschieht nicht zum Zweck am Ende einen großen Twist einzubauen, sondern aus Respekt vor dem Menschen – aus humanistischer Überzeugung – eine Seltenheit in einer Zeit, in der die Unterhaltungsindustrie ohne mit der Wimper zu zucken tausende Unbeteiligte als Kollateralschäden in explosiven Schlachten zwischen „gut“ und „böse“ dahinmetzelt. Das ist keine unreife, melodramatische Naivität, die sich in Kirschblüten-Kitsch auflöst (auch wenn der Film so beworben wird), sondern eine geradlinige Weltsicht, ohne Zynismus und Politisierung (diese Haltung selbst ist natürlich bereits politisch, aber es findet keine Politisierung im Sinne propagandistischer Agitation statt), dafür mit einer gesunden Dosis Optimismus, die man in der heutigen Welt oft vermisst. Wenn Sentaro am Ende des Films eine Art Katharsis durchmacht, dann ist das nicht ein aufgesetztes Happy-End, sondern logische Folge von Kawases Menschenbild und künstlerischem Ausdruck.

Citizen Lawrence: Joy von David O. Russell

Die Mise-en-Scène von David O. Russell ist ein kleiner irritierender Wunderladen. Oberflächlich betrachtet hat man es in seinem neuesten Film Joy mit einer fast schon beängstigend naiven, ur-amerikanischen Aufsteigergeschichte zu tun. Jennifer Lawrence spielt Joy Mangano, eine Erfinderin, deren großer Durchbruch mit dem Miracle Mop kam. Sie kommt aus einem desaströsen Haushalt, in dem, in der für Russell typischen Hysterie, alles drunter und drüber geht mit riesigen Sonnenbrillen, vielen Scherben und Geschrei. Jeder Figur gönnt Russell, ganz unabhängig davon, ob diese Figur noch eine größere Rolle spielen wird, einen spektakulären ersten Auftritt. Er inszeniert wild mit vielen Fahrten, direkten Zitaten aus dem Film völlig fremden Genres (zum Beispiel wird bei einer Verhaftung plötzlich eine Scorsese-Gangsterfilm-Fahrt von der gegenüberliegenden Straßenseite auf das Polizeitauto, in dem Joy verschwindet, gestartet) und plötzlichen abstrakten Bildern wie zwei Silhouetten, die sich in einer Nische unterhalten, sodass zwischen ihnen eine weitere Figur im Bildhintergrund zu sehen ist. Vor allem in den ersten Minuten des Films entsteht so eine kaum klassifizierbare Achterbahnfahrt skurriler Figuren und enger Settings, in denen ständig etwas nicht funktioniert, zu Bruch geht oder den Figuren im Weg steht. Szenen, die man ernst erwartet, werden ins Absurde geführt und Szenen, bei denen man die Satire spüren kann, werden sehr ernst vorgetragen. Joy hat die Idee für den Mop in einem unfassbar aufgesetzten Moment, sie muss von dort an kämpfen, weil keiner sie wirklich unterstützen kann, sie wird belogen, andere Mitmenschen entpuppen sich als überraschende Helfer, sie kommt schließlich ganz unten an und zieht sich aus der Schlinge. Voilà! Vieles im Film wird von dem äußerst gezwungenen Wunsch angetrieben, die Aufsteigergeschichte einer einfachen Frau zu erzählen. Citizen Lawrence,  schaut her man kann Mutter sein und trotzdem Karriere machen oder so ähnlich. Zudem legt Russell eine derart bescheuerte Rahmenhandlung samt Erzählstimme der Großmutter und Papierhaus-Psychologisierungen auf den Film, dass man sich wirklich fragen könnte, ob irgendwer dieses Drehbuch gelesen hat bevor es verfilmt wurde. Aber dann muss man feststellen, dass genau das der Punkt ist. Denn unter, ja zwischen und über dieser Narration brodelt es gewaltig.

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Zum einen gibt es den assoziativen Drang von Soap-Operas, mit denen der Film beginnt. Joys Mutter Terry (Virginia Madsen) verbringt ihr Leben im Paralleluniversum dieser Seifenopern. Der Fokus auf diese Form der Fernsehunterhaltung ist zunächst also der Psychologisierung einer Figur geschuldet, vielmehr aber noch ist er ein Ausdruck bestimmter zeitlicher Strömungen, in deren Reich schließlich auch der Mop und sein Verkauf eindringen werden. Außerdem nähert sich Russell so den Klischees und Wahrheiten des Hausfrauendaseins dieser Tage, zu dem nunmal Soap-Operas gehören. Vielmehr Flucht bleibt nicht: Ein kaputter Zaun, ein Mop, ein oder zwei Wochen Liebe und das Fernsehgerät. Aber wie schon bezüglich der unterschiedlichen Aspekte des Verkleidens in American Hustle entfaltet Russell auch in Joy eine Art Meta-Subplot, der sich nicht nur mit Soap-Operas beschäftigt, sondern bestimmte Ästhetiken und Inszenierungsstrategien dieser Form annimmt. Und genau in dieser Feststellung öffnet sich dann ein womöglich notwendiger Blick auf die entscheidende Frage des Films: Hat Russell hier wirklich ein geradliniges Märchen erzählt oder hat er darin auch eine Kritik versteckt?

Immer wieder hängt der Film zwischen dem Kitsch und der Satire. Russell flirtet mit einer Strangeness, die man so zuletzt von ihm in I Heart Huckabees gesehen hat. Die Seifenoper kommt nun nicht nur durch den extrem forcierten Glauben an Selbstbestimmung (die letztlich auch ein Merkmal des klassischen amerikanischen Kinos ist, in das Russell sich augenscheinlich auch verliebt hat), sondern auch durch die Inszenierung bestimmter Szenen und Settings in den Film. So stellt Trudy (Isabella Rossellini), die neue Frau an der Seite von Joys Vater (Robert De Niro) in einer äußerst bizarren Szene die „Four Questions of Financial Worthiness“, wobei sie nach zwei Fragen, das Interesse an den Fragen zu verlieren scheint. Im Hintergrund steht Edgar „Carlos“ Ramirez mit roter Lederjacke. Russell verdichtet den Moment so extrem, dass nur noch der muscial cue fehlt, um einen perfekten Seifenoper-Moment zu bekommen, der sich gleichzeitig selbst auf die Schippe nimmt. Viele Szenen könnten rein von ihrem dramaturgischen Gehalt direkt aus einer Soap stammen. Man trifft den Ex-Mann mit einer neuen Freundin am Parkplatz des Supermarktes, die Mutter verliebt sich in den Klempner, die Großmutter stirbt und Joy muss die Treppen nach oben zu ihrem Sterbebett gehen, während sie von ihrer ganzen Familie beobachtet wird. Die bereits bschriebene Szenen mit den Silhouetten in der Nische findet vor der Figur der Mutter statt, die Großmutter und Tochter betrachtet wie in einer Soap. Darüber hinaus gibt es einige Traumsequenzen, in denen Joy direkt in die Welt der Soaps hineinversetzt wird. Aber dann sitzt die Familie zusammen vor dem Fernseher und es bröckelt gewaltig. Es ist die Kunst all jener Kritiker des Films, nicht zu sehen, dass Russell zum einen diese Soap-Muster aufnimmt (was in sich schon sehr mutig und gelungen ist) und sie zum anderen mit großer Energie zerstört. So ist die neue Freundin des Ex-Mannes sehr merkwürdig und an ihrer Seite laufen zwei Brüder mit durchs Bild, der Starverkäufer des TV-Senders ist eine hochsensible Diva und so weiter. Zudem wechseln sich äußerst offensichtliche und sehr ironische Musikeinsätze ab.

JOY

Der eigentliche Drang des Films ist keine Entscheidungsunfreudigkeit zwischen Kitsch und Satire, es ist der ernste Versuch an Wunder und diese amerikanischen Aufsteigergeschichten zu glauben, in einer Welt, die letztlich immer absurd, satirisch und daneben sein wird. Sämtliche Figuren, die am Ende des Films mit der kühlen Macht des Erfolgs ausgestattet werden (eine Macht, die Russell bezüglich ihres Werts und ihrer auch so inszenierten Härte in Ambivalenz hält), begegnen den ganzen Film über den komischen und satirischen Momenten mit überraschendem Ernst. Immer wenn man eine Over-the-Top-Szene erwarten würde, begegnen Joy und auch TV-Chef Neil Walker (Bradley Cooper) den komischen Situationen mit einer zielgerichteten Nüchternheit, die an Magie glauben will. So unterbricht Walker den ungerechten und albernen Versuch eines Mitarbeiters, der den Mop ausprobieren will mit einer nüchternen und selbstherrlichen Erklärung seiner Person. Er stoppt den Irrsinn, um an ein amerikanisches Wunder zu glauben. Was man also mit Russell suchen muss, ist nicht die Kritik an diesem kapitalistischen Traumland, sondern das Traumland in diesem generellen Zynismus. Dieser Weltsicht muss man natürlich keineswegs folgen, aber formal macht sich Russell, der zudem einer der wenigen Filmemacher in Hollywood bleibt, die in Kostümen und Settings narrative Funktionen entdecken (das klingt nicht besonders, sollte es auch nicht sein, ist es aber…), unangreifbar.

Man darf Russell vielleicht auch nicht ernst nehmen. Statt an Kohärenz ist er eher am filmischen Prozess interessiert. Es geht ihm – auch laut eigenen Aussagen – viel darum, Dinge auszuprobieren und seine Schauspieler in neue Situationen zu bringen. Jennifer Lawrence in einigen Szenen, in der sie eine zärtliche Mutter ist, Bradley Cooper todernst hinter einem Schreibtisch, Edgar Ramirez singt Something Stupid. Das WTF-Level ist hoch. Russell bleibt ein Filmemacher des Spiels. In einer bemerkenswerten Szene begeistert sich Walker für die Bedeutung der Hände im Schauspiel/Verkaufsprozess. Gleichzeitig macht Bradley Cooper enormen Gebrauch von seinen eigenen Händen und die sehr agile Kamera beginnt sich in diese Bewegungen zu verlieben. Solche Szenen sind zugegeben deutlich rarer als in American Hustle, aber sie sagen immer noch eine Menge über die Lust am Spiel, die in Joy auch eine Lust an der Naivität des Kinos bedeutet.

 

Die Kinomomente des Jahres 2015

Es war ein Jahr des Fließens, in dem man sich an das Vergessen erinnerte. Daher ist mein kleiner Rückblick dieses Jahr nicht nach den Filmen geordnet, sondern nach verschiedenen Phänomenen, Emotionen oder Symptomen des Filmjahres, die in sich die Geschichte einer wiederkehrenden Liebe und Angst erzählen.

Die Berührung

No No Sleep

2015 war ein Jahr für das Potenzial einer Liebe im Kino. Es lebte von den Möglichkeiten, sich doch einmal zu berühren, zu küssen, wenn nicht in der Realität, so doch in einem Traum, in einem abwesenden Moment oder in einem anderen Körper. Eine der großen Szenen der Berührung findet sich in No No Sleep von Tsai Ming-liang. Lee Kang-sheng liegt in einer heißen Wanne mit einem anderen Mann. Es ist ein Moment, bei dem man nicht weiß, ob es eine Berührung gibt oder nicht. Eine Hand greift unter Wasser nach einer anderen Hand. Ist es eine Illusion, eine Sehnsucht, passiert es wirklich? In Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul gibt es die Faszination der Berührung von Schlafenden. Wie alles im Film bewegt sich diese Lust in einer Dazwischenheit von Ekel und Verführung sowie Spiel und Tod. Mit einer Berührung übertritt man die Schwelle, sie ist wie eine Erinnerung an die Gegenwart. Es sind die leichten Berührungen wie in Carol von Todd Haynes oder L‘ombre des femmes von Philippe Garrel, kaum sichtbare Berührungen wie in Samuray-S von Rául Perrone oder die zerfetzenden Berührungen wie in The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky (der nicht nur die Körper berührt, sondern gleich den Filmkörper), die letztlich ein Fieber auslösen. Die Berührungen haben uns weniger gerührt als zerstört.

Der Kuss

Carol

Und dann stürzt man sich hinein. Arnaud Desplechin hat in seinem Trois souvenirs de ma jeunesse etwas vollbracht, was mutig ist: Der Filmkuss. Ganz klassisch, magisch. Das Verschmelzen zweier Menschen, das Symbol, das Klischee, das Kino, ja. Es war Godard – ausgerechnet er – der gefordert hat, dass das Kino wieder zurück zu einer solchen Leichtigkeit muss. Desplechin, der manchmal zu Unrecht mit Rohmer verglichen wurde, hat gezeigt, dass er genau das kann, denn wo bei Rohmer ein Kuss nicht einfach nur ein Kuss sein will, da kann er bei Desplechin ein Kuss sein. Es ist die Lust daran, die Hingabe.  Eine ähnlich mutige und kräftige Einfachheit gibt es am Ende von Carol. Lange habe ich kein derart kompromissloses und keinesfalls aufgesetztes Happy End gesehen. Einen ganz anderen Kuss gibt es im zweiten Teil von Hong Sang-soos Right Now, Wrong Then. Hier geht es um die Unbeholfenheit, die Schüchternheit. Es ist ein Kuss auf die Wange mit dem Versprechen, dass es das nächste Mal die Lippen werden. In diesem Versprechen taucht wieder das Potenzial einer Liebe auf, einer anderen Zeit. Es muss ein neues Treffen geben, einen neuen Versuch, einen zweiten Kuss. Aber gibt es den?

Die Krankheit

Les dos rouge2

Schließlich verlässt die Protagonisten des Kinos 2015 die Kraft. Sie brechen zusammen im Rauch einer geheimen Schwangerschaft wie in The Assassin von Hou Hsiao-hsien oder sie entdecken einen mysteriösen roten Punkt auf ihrem Rücken wie Bertrand Bonello in Les dos rouge von Antoine Barraud. Die Körper versagen und mit ihnen verschwimmt die Seele, das Selbstvertrauen. Das beständige Husten im tödlichen Ascheregen von La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo ist Inbegriff dieses Dahinsiechens, das gleichermaßen jegliches Potenzial der Liebe erstickt, als auch genau diese wieder von Neuem ermöglicht, wenn das was man liebt nicht die Kraft, sondern die Schwäche des Partners, des Vaters oder des Fremden ist. Außer Chantal Akerman in No Home Movie hat kaum ein Filmemacher Krankheiten offen thematisiert. Vielmehr waren es unerklärliche, fast magische Elemente, gar nicht so verschieden von einer Berührung oder einem Kuss. Darin liegt auch ein letztes Aufbäumen des Spirituellen im westlichen Kino, das die Krankheit als (surrealistische) Erscheinung inszeniert, als ein Geheimnis und Tabu, das ganz vorsichtig umflogen wird mit Gefühlen einer wundervollen Dekadenz wie bei Barraud oder der Schönheit, die den Tod bringt wie bei Acevedo. Im Kino, vermag die Direktheit genauso zu treffen wie ihre innere Zensur, die Angst.

Die Angst

No Home Movie

Im Dunkel einer plötzlichen Nacht irrt die Kamera von Akerman in No Home Movie durch das Haus ihrer Mutter. Sie rettet sich hinaus auf den Balkon, wild atmend und dann verschwindet sie im Bad, wo Wasser die Badewanne flutet. Es ist dies eine absolut einzigartige Szene, denn Akerman filmt das Aufwachen aus einem Albtraum hier wie einen Albtraum. Man kennt solche Tricks von Filmemachern, wenn man glaubt, dass die unheimliche Traumsequenz vorbei ist und sie dann doch weitergeht. Aber darum geht es bei Akerman nicht, weil es keine Illusion eines Friedens gibt, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Aufwachen und Schlafen, zwischen den obskuren Schatten Innen und Außen, es bleibt ein Horror, eine Angst.

Das Unvermögen

One floor below

Ein erster Versuch, aus dieser Angst zu entkommen, ertränkt sich im eigenen Unvermögen. Wieder hat vor allem das rumänische Kino einige unvergessliche Momente des Unvermögens gefunden. Da wäre ein Wünschelroutenexperte in Corneliu Porumboius Comoara und ein verzweifelter, zögernder, lügender, ängstlicher Protagonist in Radu Munteans Un etaj mai jos. Dort filmt Muntean seinen Protagonisten ähnlich wie Renoir Michel Simon filmte, wie ein Raubtier. Teodor Corban liefert eine Darstellung ab, die neben  jener von Jung Jae-young in Right Now, Wrong Then sicherlich zu den besten schauspielerischen Leistungen des Jahres gehört. Beide fabrizieren ein Unvermögen, indem sie alles dafür tun, dieses zu verstecken, sodass es für den Zuseher sicht- und fühlbar wird. Dieses Schauspiel existiert in der Wahrheit einer Lüge oder besser: im Spiel mit der Identität, die sich dadurch offenbart, dass man sich selbst nicht wahrhaben will, verstecken will und sogar erneuern darf wie im Fall von Jung Jae-young, der zweimal dasselbe anders leben darf und doch vor uns der gleiche bleibt. Als dritte schauspielerische Verunsicherung sei hier noch Jenjira Pongpas in Cemetery of Splendour genannt, deren Unvermögen sich in den weit aufgerissenen Augen einer identitätslosen Sehnsucht äußert. Was in diesem Unvermögen, das aus Angst entsteht, noch bleibt, ist das Blicken, das Beobachten. Johan Lurf hat zwei spannende Blicke gezeigt, die politische Strukturen hinterfragen. In Embargo und Capital Cuba ist ein Blick auch immer zugleich das Angeblick-Werden. Die Machtlosigkeit und Penetration dieser Blicke, es ist das Kino selbst, das sich dahinter verbirgt, verunsichert, immer nur ein Potenzial.

Die Flucht

Kaili-Blues

Und was einem bleibt, ist die Flucht. Es ist nicht nur so, dass der Mainstream 2015 eine enorme Lust an Verfolgungsjagden entfesselt hat, die in Mad Max: Fury Road ihren nackten Gipfel erreichte, sondern auch der Filmemacher selbst floh in Person von Miguel Gomes aus seinem ersten Teil von As Mil e uma Noites. Und doch führen diese eskapistischen Ausbrüche in leere Versprechen. Der Weg führt zurück. Von der Illusion in die Realität und von der Realität in die Illusion. Ein flirrendes Wechselspiel zwischen dem Aktuellen und dem Vergangenen hat sich 2015 in den Kinos entfaltet. Es sind die unterschiedlichen zeitlichen Schichten in Cemetery of Splendour, die nostalgische Vergangenheit der Zukunft in Star Wars: The Force Awakens von J.J. Abrams, die Landschaften Chinas, die heute genau so aussehen, wie vor über 1000 Jahren in The Assassin,das beständige Echo in Aus einem nahen Land von Manfred Neuwirth, japanische Stummfilme entstanden mit digitalen Technologien im Haus eines Argentiniers in Samuray-S oder Jean Renoir, der als Synthese einer dialektischen Gefangenschaft aus einem Aquarium ausbricht in Jean-Marie Straubs L‘aquarium et la nation. Die Flucht geht nach vorne zurück, zurück in die Zukunft und vorne ist es mehr hinten als jetzt. Das Ende von Bi Gans hypnotischen Kailil Blues lässt die Zeit dann tatsächlich rückwärts laufen. Die Flucht zurück, der Neuanfang, die Nostalgie und die Erkenntnis, dass man nirgends wirklich hinfliehen kann. Es ist dies das Kino einer Identitätskrise. Ihr perfektes Bild findet diese Krise im Schlussbild von Jia Zhang-kes ansonsten über weite Strecken enttäuschenden Mountains May Depart: Im Schnee tanzt die großartige Zhao Tao zur unerfüllten und schrecklichen „Go West“ Hoffnung einer Vergangenheit. Eine Welt, die sich geöffnet hat, um wieder davon zu träumen, träumen zu dürfen, dass man sich öffnet. Aber man ist schon offen und diese Zukunft war auch nur Geschichte. Vor was flieht man?

Die Verschwundenen

IEC Long

Es ist klar, dass man in diesem Nebel aus Flucht, Angst, Berührung und Sehnsucht verschwinden wird, wie die Berggipfel hinter den Wolken in The Assassin. Vielleicht verschwindet man in einen Wald wie in The Lobster von Giorgos Lanthimos oder man versteckt sich einfach mitten im Bild wie einer dieser Flüchtenden im Mise-en-Scène Spektakel Aferim! von Radu Jude. Das Filmmaterial löst sich auf, die Asche bedeckt die Repräsentation, ein Hund verschwindet in der Magie von Sayombhu Mukdeepromein, ein Ozean überflutet all unsere Existenzen wie in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Es bleibt Treibgut, kleine Reste wie in Things von Ben Rivers oder IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata, mehr scheint nicht mehr möglich, wenn man von der Gegenwart erzählen will. Entweder die Fragmente dieser Identitästlosigkeit oder das Bedauern über ihren Verlust wie auf dem Gesicht von Stanislas Merhar in L‘ombre des femmes, der zeigt, wie man sich selbst belügt, um zu lieben. Hilflos irren auch die starken Figuren in Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke durch die Welt nachdem eine ihrer Freundinnen körperlich und auch bezüglich ihrer Identität verschwunden ist. Selbst die Heldinnen Hollywoods verschwinden wie Emily Blunt in Sicario von Dennis Villeneuve. Es ist das Verschwinden in einer Machtlosigkeit und wir verdanken es den großen Filmemachern unserer Zeit wie Akerman, Garrel, Rodrigues&Guerra da Mata, Diaz, de Oliveira oder Weerasethakul, dass sich in diesem Verschwinden eine Sinnlichkeit greifen lässt. Der Sinn und die Sinnlichkeit des Verschwindens. Viel brutaler verschwindet die Bedeutung des Bildes und des Kinos in 88:88 von Isiah Medina. Hier verschwindet alles in der Flut der Bilder, die Montage regiert, aber sie steht nicht mehr im Dienst der Bilder, die sie verbindet, sondern sie wird zum einzigen Zweck eines Zappings und Clickings, das unsere Wahrnehmung in Zeiten dieser Identitätskrise bestimmt. Eine Schwerelosigkeit setzt ein, sie fühlt sich nur sehr schwer an.

Die Wiederkehr

Cemetery of Splendour2

Der einzige Film, der aus dieser Reise der Angst zurückkehrt, der Film, der gleich Phönix tatsächlich wiederkehrt, ist Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira. Verschlossen, um nach dem Tod sichtbar zu werden, ist dieser Film eine wirkliche Offenbarung, in der sich der Stil eines Mannes als seine Seele entpuppt. Er zeigt, dass Berührung im Kino immer im Wechselspiel aus Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung entsteht. Die Distanz, sei sie zeitlich, räumlich oder emotional und die Umarmung, Zärtlichkeit, das Treiben in und jenseits einer Zeit und Zeitlichkeit. Dann schließen wir die Augen und fallen in eine Rolltreppen-Hypnose der Schlafkrankheit und vor uns kann nicht nur die Vergangenheit vergegenwärtigt werden, sondern auch die Gegenwart in ihrer Vergänglichkeit greifbar werden. Das Kino 2015 bemüht sich nicht mehr so stark darum, die Zeit festzuhalten, als wieder, wie in frühen Tagen des Kinos, die Flüchtigkeit von Erfahrungen spürbar zu machen und sie dadurch in unser Bewusstsein zu rücken. Die Erinnerung in den Filmen des Jahres ist keine feststehende Größe, sie ist selbst wie die Oberfläche eines unruhigen Wassers, in dem wir manchmal etwas erkennen können und manchmal verschwinden. In Visita ou Memórias e Confissões verschwinden die beiden Besucher in der Dunkelheit. Wir wissen nicht, ob sie von Gestern sind und das Heute besucht haben oder ob sie von Heute sind und das Gestern besucht haben. Dasselbe gilt für die Filme des Jahres 2015.

Fuck Her Gently: Love von Gaspar Noé

Love von Gaspar Noé

Entgegen einem ersten Reflex beginnt diese Besprechung nicht mit einer Verteidigung, sondern einer Feststellung: Love hat keinen Apologeten nötig, der zu seiner Rettung auftritt. Diese Feststellung lässt sich meines Erachtens auf mehreren Ebenen rechtfertigen. Zunächst ist Love eine logische Weiterentwicklung des filmischen Werks von Gaspar Noé. Der Argentinier ist dafür bekannt seine Filme durch Referenzen miteinander zu verbinden. So taucht die Hauptfigur aus Seul Contre Tous am Beginn von Irréversible vor, das Love Hotel aus Enter the Void taucht wiederum als Modell in Murphys Wohnung in Love auf. Das sind bloß oberflächliche Verbindungen, aber ohne Zweifel lassen sich darüber Kontinuitäten in den Filmen Noés feststellen. Vor allem im Vergleich zu seinem letzten Film Enter the Void lässt sich eine Entwicklung seiner Filmsprache nachvollziehen – es ist raffinierter und subtiler geworden, so ungewöhnlich diese Attribute im Zusammenhang mit Noé klingen mögen.

Love von Gaspar Noé

Das Kino Gaspar Noés ist ein Kino der Körperlichkeit. Durch seinen Protagonisten Murphy, der in mancher Hinsicht das Alter Ego des Filmemachers darstellt, beschreibt er es als ein Kino „of blood, sweat and sperm“. Nun waren alle diese drei Komponenten in Enter the Void nicht gerade unterrepräsentiert, jedoch erfahren wir sie dort anhand der Figur des Oscar, der bereits nach kurzer Zeit verstirbt, woraufhin die Kamera die Position seines Geists einnimmt, der losgelöst von irdischen Kategorien durch Tokio gleitet. Wir sehen dann Blut, Schweiß und Sperma, aber es berührt uns (als Geist, als Kamera, als Publikum) nicht, da wir gar nicht mehr Teil dieser physischen Welt sind. In Love verhält es sich anders: Zwar folgen wir auch hier einer einzelnen Figur, dem amerikanischen Filmstudenten Murphy, doch Blut, Schweiß und vor allem Sperma sind sein eigenes. Wir gleiten nicht mehr oberflächlich und entkörpert durch die Welt, sondern verfolgen Murphy als physisches Subjekt durch einen vage definierten temporalen Raum. Auf ontologischer Ebene ist dieser Raum nicht sehr viel konkreter als die Geisterwelt aus Enter the Void, doch die Anwesenheit Murphys gibt ihr Taktilität, lässt sie uns durch ihn körperlich erfahren, anstatt sie uns nur zu zeigen. Es ist ein neuer Versuch eine ähnliche Geschichte mit ähnlich platten Dialogen und kaum ausgereiften Figuren zu erzählen, aber das ist gar nicht entscheidend, denn Murphy ist nur eine Art Platzhalter, durch die Noés künstlerische Vision vermittelt wird. Diese Vision ist eng an eine Ziehharmonika-artige Welt- und Filmerfahrung geknüpft. Noés Kino ist ein Kino der totalen Immersion und der totalen Verfremdung. Sein Reich aus Blut, Schweiß und Sperma lockt uns an, nur um uns im nächsten Moment abzustoßen. Noé wird gern reduziert auf seine extrovertierte Stilistik, die sich durch überbordenden Gebrauch von Farb- und Toneffekten und markant akzentuierte Schnitte auszeichnet, doch diese Filmsprache ist kein Manierismus, sondern soll entfremden, den Bann brechen, uns aus der illusorischen Versenkung holen. In Love hat er nun eine größere Raffinesse auf diese Vorgehensweise angewandt. Die explosiven Neonfeuerwerke mussten einem kontemplativeren Farbenspiel weichen, das weniger eindeutige Ideen vermittelt, als die halluzinogenen Drogenräusche, die in Enter the Void visualisiert wurden; Cuts werden nicht durch akustische Signale überdeterminiert, sondern erfüllen ihren Zweck auch als unaufgeregte Schwarzblenden; die bisher doch immer recht dominante musikalische Ebene, ordnet sich weitaus harmonischer in das Gesamtkonzept ein. Es ist paradoxerweise diese Harmonie, die dem filmischen Extremisten Noé Reife gibt, die seine Werke bisher vermissen ließen. Da lässt sich sein Riesenego, dass sich unübersehbar in den Film eingebrannt hat leichter als ironisches Augenzwinkern verstehen, der 3D-Cumshot direkt in unser Gesicht, leichter als Parodie auf den Einsatz dieser Technik in kommerzielleren Unterhaltungsformen ausmachen. Love ist zweifellos ein Stück Selbstdarstellung (das sind alle seine Filme), aber im Gegenzug gibt Noé eine Menge von sich selbst preis. Er exponiert sich und geht ein Risiko ein. Das führt zum einen dazu, dass die Masse Selbstreferenz den Film zu sprengen droht, aber im Umkehrschluss auch dazu, dass der Film an Persönlichkeit und Verletzlichkeit gewinnt.

Love von Gaspar Noé

Was Noé mit 3D-Technik anzufangen weiß ist darüber hinaus eine Erörterung wert. Gemeinhin verfehlt 3D seine Wirkung, indem es die Leinwand, die wir auch ohne diese ulkigen Brillen als räumliche Tiefe wahrnehmen, als hintereinander gestaffelte Flächen erscheinen lässt. Wir haben es dann mit einer Sukzession flächiger Raumebenen zu tun. Noé wendet das 3D hingegen in die Horizontale an. Unmögliche Proportionen entstehen so an den Bildrändern, die meist von oben fotografierten Sexszenen werden an ihrer Peripherie grotesk verformt, Körper und Gliedmaßen zu perversen Monstrositäten. In anderen Szenen nutzt Noé den oben beschriebenen Effekt, um bewusst flächige Raumebenen zu schaffen. Figuren heben sich dann von ihrer Umwelt ab, wie zum Beispiel in der Tanzszene im Club als Murphy und Elektra die junge Omi verführen, die zunächst noch im Hintergrund tanzt, und schließlich in die Raumebene des Paares eintritt. Noé interessiert sich für diese technischen Möglichkeiten des Films, aber nicht um ihrer selbst willen, wie man zuweilen meinen könnte, sondern um Ideen von Zeit und Raum, von Wirklichkeit und Illusion, von Menschlichkeit und Gefühl, von Körperlichkeit und Liebe zu verhandeln. Deshalb ist es irrelevant, wie farblos der Protagonist wirkt und wie prätentiös seine Kopfstimme dahinlabert, für Noé ist er bloß ein Instrument, mit dem er an der Zerstückelung der kinematographischen Wahrnehmung arbeitet. Es sind Strategien der Bewusstmachung filmischer Mittel und der Zersetzung herkömmlicher Raum- und Zeitstrukturen, die Noés Werk auszeichnen, und in dieser Hinsicht ist Love ein bisheriger Höhepunkt seines Schaffens.

Echo and Narcissus: Visita ou memórias e confissões by Manoel de Oliveira

If there was ever a film that was Echo and Narcissus in one and the same gesture it is Visita ou memórias e confissões by Manoel de Oliveira. A film so precious that it had to be a secret. Filmed in 1981 right after the director, then 73, had completed his tetralogy of frustrated loves with a heart that is no danger anymore because it has stopped, Oliveira  had allowed screenings of the film only on two occasions during his lifetime. The first was a screening for the crew and cast and the second was during a retrospective held in Lisbon. Now the film has been freed due to a death, Oliveira‘s death at the age of 106 (every year in prison for the film was a year of life for its director). Rather than a memory or a confession, it is a testimony of a man who we can feel as much in the sensibility of his sounds, images and cuts as in his story. After all, this is a work of fiction, a fiction of the eternal we all can touch. But can we be sure of that?

Why Echo and Narcissus? Well, as the film is largely concerned with its director (who even doubts if it is a good idea to make a film about himself while speaking the credits out loud in a way that could make Godard jealous) it acts like the eternal beauty of the mirror Narcissus is in love with. The film is like an album of selfies of Angélica where every image becomes a saved memory of things otherwise forgotten. Visita ou memórias e confissões is a mother who gives birth to herself (after she has died). While one might find this obsession with images and their immortality beautiful, one might encounter some difficulties with applying it to a self-portrait. But we can relax because firstly, this is not really a film about Oliveira. It is a fiction made of memories and confessions of the director, certainly personal, autobiographical but still made with the colours of numerous flowers and the smile of Mona Lisa, who is looking at us in almost every shot in which Oliveira himself appears as well as with a sense of time that brings this Narcissus closer to Echo. Anticipating his own self-importance, the director decided for the film to become something else, to not-be Narcissus but to be the Echo of his own Narcissus. He locked it away and opened a time in-between the mirror and the projection of the mirror. In this time he didn‘t give birth to his own life after his death, but to cinema, the fiction, the time itself. We can also speak of a time-image of timelessness or this first tear we all would have loved to save in a tiny box to remind us forever of whatever we think about. Yes, the film is the love story of Echo and Narcissus, past and present, images and voices and therefore it is a again a story of frustrated loves. It has to end in disappearance like the story of Echo and Narcissus. But there is something else here. Oliveira has tricked this disappearance when he locked the film away. We have heard about detailed notes some directors gave projectionists, but never before have the acts of distribution and projection been as much an artistic choice as in the case of Visita ou memórias e confissões. For those believing in miracles cinema is finally a magic lantern again. Oliveira will disappear for ever. As we know, the whole idea of Echo‘s love is also buried in repetition. Jacques Derrida has written a great deal about it. While repeating Echo manages to find her own voice. The same is true for the film. It gets its own life until it is not about what it is showing or whose time-image we are seeing but about the presence of cinema as such. It‘s a miracle.

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Large parts of the film are not only concerned with Oliveira but also with the house he has been living in for 40 years, a house which he calls a labyrinth in another film, Porto da Minha Infância. It is visited by a shy camera movement and two voices (Teresa Madruga and Diogo Dória), images and voices. They enter the seemingly empty place and look at unspoken memories and confessions. It becomes quite clear that the house is as much the soul of Oliveira as it is the film. Not only does the lover of architecture project images of the past on the walls of the house later in the film and show us photographs that watch from silent cupboards, he also gives the film its structure by means of architecture. The question is always what is behind the next corner, what is above and under, what is the time of this room? The structure of the house is that of a film. Architecture is Narcissus, Cinema is Echo. A frame is an object, a shot is a memory of what has happened there and what is the madeleine (call it plot-point if you are one of those Hollywood dudes…) there. Rainer Werner Fassbinder once stated that he wanted to build a house with his films. Oliveira builded a film with his houses. Not only does he save the history of this special house that was designed by José Porto, he saves his own story in the house as if it was a museum.

There are three figures of time in Visita ou memórias e confissões. The first is the time of the house (its history). We can see it in the materiality while the two voices slowly pass through it and we can hear and see it when the director tells us about it and screens little scenes playing around the house. Moments of re-enactments switch with found footage, the shy camera moving through the house and Oliveira talking about his life. The second time is the fiction of the visit and the truth of the memories and confessions which we can call the story. The story circles around Oliveira‘s life and films. There are more places to visit than just the house where the voices catch glimpses of the past. For example, there is the house of his wife Maria Isabel, about whom the director talks with deep respect (not with passion) and there is Portugal‘s last film studio. All these places are full of vanishing life but the only thing that tells us about it is their emptiness (one may be reminded of Elia Kazan‘s The Last Tycoon). The third time is, as we already pointed out, the time the film was in the shadows of the heartbeat of the director. Then, it couldn‘t do any damage. Now that the heart stopped beating, the film begins again, it hurts, it enriches.

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Maybe this is really one of the first realistic science-fiction films in which time travelling is made possible not as a matter of story but as a matter of fact. So, is Visita ou memórias e confissões really a work of fiction? As always this is not really a question. It is a film at the core of cinema and, like cinema, it was hidden in order to be born again in the presence of every look in the mirror, of every voice we fall in love with and of every frustration about not being able to love, to kill, to live and to die. But the film seems more simple than that.

Filmfest Hamburg 2015: Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo

Eine ausführlichere Variante dieses Textes erscheint auf kino-zeit.de

Das konstante Gefühl eines Missverstehens, eines Missverständnisses beginnt im Fall von Hong Sang-soos phänomenalen Locarno-Gewinner Right Now, Wrong Then bereits im Titel, der zu Beginn nicht der gleiche ist. Der in zwei Teile gegliederte Film beginnt mit Right Then, Wrong Now und einer Melodie in den Wolken, die in aller Sanftheit, Schlichtheit und Unschuld dafür sorgt, dass man missversteht, was passieren wird.

Man findet sich sehr schnell im Hong-Universum: Der junge Filmemacher ist ein Mann, ein Mann, der sich selbst und Frauen mag, der sich selbst nicht mag, ein Mann, der feststellt, dass der Kontakt mit Frauen kein leichter ist; die junge Frau ist eine Kunststudentin, etwas verloren, treibend, sich findend, sie will sich mögen, tut es kaum. Man geht zusammen trinken, man geht zusammen essen, man redet über sich und über dich und über Kunst, man trinkt mehr, man ist betrunken, es gibt peinliche und zärtliche Momente, man geht spazieren, man lacht, man lügt, man weint, man wird müde, es ist kalt, Schnee fällt; man verpasst sich, man wartet auf eine Reaktion, man schaut, man begehrt, man macht Fehler, man möchte im Boden versinken und doch ist alles voller Wärme. Im Kern sucht man sich vielleicht und versteht sich nicht, es sind Missverständnisse der Selbstwahrnehmung. In diesem ersten Teil seines Films sehen wir den verzweifelten Versuch des Filmemachers, die Kunststudentin zu verführen, ein Versuch, der auf Lügen basiert, die letztlich in der gleichen Einsamkeit scheitern, in der sie begonnen haben. Dazu die Kälte im Süden Koreas und der Schnee, der Hongs Welten mit einer wiederkehrenden Schutzhülle umgarnt.

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Aber dann schneidet Hong in einer dieser herausragenden Bilder, die der Film selten und dadurch effektiv in seine Grammatik der nackten Essenz einstreut, auf eine Buddha-Statue und das Spiel beginnt von vorne. Es ist nicht so als wäre das Prinzip der Wiederholung etwas Neues für Hong, man denke an die Begegnungen mit dem unvergesslichen Life Guard in In another country oder die Avancen gegenüber der Kellnerin in Woman is the Future of Man. Aber derart klar hat Hong noch nie eine Narration nach diesem Prinzip aufgebaut. Die Geschichte beginnt von vorne, aber im Gegensatz zu einem Film wie Groundhog Day geschieht die Repetition nicht im Bewusstsein der Figuren. Vielmehr könnte man von einem Déjà-vu sprechen, also einer eher unbewussten Wahrnehmung dieser Wiederkehr (Hong selbst hat den Begriff in diesem Interview abgesegnet). Letztlich aber beginnt ein neuer Film (Titel: Right Now, Wrong Then), eine neue Chance. Der Filmemacher ist immer noch ein Mann, doch statt dem Prinzip der Lüge folgt er nun jenem der absoluten Ehrlichkeit, um diese Frau nicht mehr lediglich zu verführen, sondern möglichst zu heiraten. Es sind die gleichen Settings, zum Teil die gleichen Dialoge, aber doch ist alles anders. Gerade durch die Wiederholung legt Hong den Fokus auf die Differenzen. Manche Szenen werden aus anderen Einstellungen gefilmt, der Voice Over verschwindet,verschiedene Sätze werden leicht verändert gesagt oder nur mit einem anderen Ton, dann gibt es völlig neue Situationen (man darf nicht glauben, dass Hong sich hier sklavisch an ein Konzept hält) und ein beständiges Spiel zwischen der Erwartung dessen, was da kommen wird und der unendlichen Verzögerung einer Enttäuschung dieser Ewartungen. Schließlich ist Hong der genuine Filmemacher der Enttäuschung. Das kann sich sowohl in einem absurden oder bitteren Humor ausdrücken, als auch im plötzlichen Schmerz einer Erkenntnis. Dabei geht es viel um Missverständnisse, die dadurch entstehen, dass man nicht ausdrücken kann, was man möchte.

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Right Now, Wrong Then auch ein Film über unsere Wahrnehmung im Kino. Man kann förmlich an sich selbst studieren, was eine andere Einstellung, ein anderer Dialog mit einer Szene macht. So verschwindet das Lachen außer in einer dieser unfassbaren Szenen des Betrunkenseins samt Striptease aus dem zweiten Teil. Szenen, in denen man zu Beginn lachen oder schmunzeln musste, kommen einem nun sehr ernst vor. Man fragt sich, ob das nur an der Wiederholung liegt. Im zweiten Teil  ist es der Herzschmerz, der dominiert, ohne dass Hong auch nur eine Sekunde von seiner Leichtigkeit verlieren würde. Durch die Doppelung beginnt erst die Konzentration des Blicks. Es ist eine Beunruhigung, in der jede Nuance mit unserer Antizipation und Erinnerung gleichermaßen spielt. Mal interpretiert man seine eigene Antizipation als Erinnerung und mal die Erinnerung als Antizipation. Im Loch, das sich zwischen diesen Missverständnissen öffnet, entsteht ein wunderbares Kino der Gesten, Fettnäpfchen, Sehnsüchte und Einsamkeit. Der Film erzählt auch von einer verzweifelten Suche nach einer männlichen Identität. Er macht dies sowohl ironisch als auch emotional.

Dabei ist Hong ein derart guter Beobachter menschlicher Verhaltensweisen, dass jeder Blick seiner Figuren, jede Geste und jede Bewegung einen Subtext enthält, der völlig greifbar vor dem Zuseher liegt, ohne jemals ausgesprochen zu werden. Es ist keine Frage, dass für dieses Kino das Schauspiel von äußerster Wichtigkeit ist. Jeong Jaeyeong gibt den Filmemacher derart überzeugend, dass wir hier von einer der besten schauspielerischen Darbietungen der letzten Jahre reden können. Bei ihm kann ein Lächeln alles bedeuten und all das wird für die Kamera sichtbar, nicht aber für ihn selbst oder seine Mitmenschen. Bei Hong besteht Reduktion nicht nur in wenigen und langen Einstellungen, sondern letztlich auch in einer Präzision gegenüber der Zeit, einem Timing, das Missverständnisse erst ermöglicht. Jeong Jaeyeong legt dort hinein diese unersetzliche Fähigkeit, seinen Körper und seine Stimme zu trennen. Was er sagt, ist selten, das was er macht und was er macht, ist selten das, was er sagt. Daher sehen wir dann seine nackten Emotionen.

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In mancher Hinsicht scheint Right Now, Wrong Then ein religiöser Film zu sein. Das Treffen des Pärchens in einem Tempel und die Bedeutung des Buddhas sowie das überstrahlende Thema der Wiederkehr, der zweiten Chance im Hinblick auf Verhaltensweisen und Auffassungen von zwischenmenschlichen Beziehungen deuten darauf hin. Gleichermaßen ist der Film aber auch ein Märchen, denn Hong macht Filme, die eine Traumwelt versetzen, eine Welt, in der man gerne leben würde bis man feststellt, dass man bereits in ihr lebt. Es gibt eine Fluktuation zwischen seinem Blick und der Realität, die einen mit anderen Augen sehen lässt. Man stellt fest, es sind seine Augen, in denen man leben will. So ist es konsequent, dass der Film mit dem Verlassen des Kinos endet und man im Schnee von Hong in diese zärtliche Einsamkeit fällt, die an einem haften bleibt, wie der Geschmack eines Madeleines.

Stay Foolish: Yakuza Apocalypse von Takashi Miike

Ich freue mich auf jeden neuen Film von Takashi Miike. Es ist eine besondere Art der Vorfreude, die man immer seltener empfindet, je älter man wird und je mehr Filme man gesehen hat. Weniger Neugier, Interesse, sehnsuchtsvolle Erwartung oder Ehrfurcht in Bezug auf das, was da an Großem und Erhabenem auf einen zukommen mag. Eher etwas Kindliches, Zappeliges, Kribbelndes wie einst bei Wundertüte und Überraschungsei, eine Vorfreude auf die Freude selbst. Ich habe noch keinen einzigen Miike-Film gesehen, der mich gelangweilt hätte, im Sinne eines sicheren Bewusstseins, was man gerade sieht und was da noch kommt (zugegeben: weit mehr als die Hälfte seines massiven Oeuvres ist mir nach wie vor unbekannt). Bei weitem nicht alle seine Arbeiten sind in tiefer Erinnerung geblieben, aber keine hat sich so unbeliebt gemacht, dass ich nicht bereit wäre, sie aufs Neue zu sichten und mein Gedächtnis aufzufrischen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die man wohl an so gut wie jedem Miike-Werk exemplifizieren könnte, auch seine (wahrscheinlich schon längst nicht mehr aktuellste Arbeit) Yakuza Apocalypse eignet sich dafür.

Takashi Miike mit Fisch

Miikes Kino ist zuvorderst eines der unaufhörlichen Einfälle, im wörtlichen Sinne. Seine Filme haben ein meistens eher lockeres Genre- und Drehbuchgerüst, dass nichts weiter verlangt, als erkennbar zu bleiben. Dessen Ausgestaltung hingegen scheint oft jeglicher Regelhaftigkeit enthoben. Es gibt so gut wie nie einen konsistenten Tonfall, der dingsichere Prognosen kommender Szenen oder Stilmittel zulassen würde. Stattdessen folgt Miike einem bedingungslosen, fast schon situationistischen Im-Moment-Sein: Was aus einer Konstellation (von Schauspielern, Schauplatz, Stimmung, Budget und narrativer Gegebenheiten) hervorgeht, wird angenommen und ausgeschöpft, unabhängig davon, ob es „passt“ oder nicht. In einem aufschlussreichen Drehtagebuch (nachzulesen im Miike-Kompendium Agitator von Tom Mes) steht ein prägnantes Diktum des Regisseurs: „The more you respect the essence of the screenplay, the more the screenplay ist transformed.“

Das heißt etwa, dass die inhärente Absurdität eines Moments nicht notdürftig kaschiert wird, weil sie an der falschen Stelle Lachen provozieren könnte. Stattdessen wird sie wie eine Quelle angezapft und verstärkt. Genauso heißt das aber auch, dass bei weitem nicht alles lächerlich sein muss, nur weil es sich um einen lächerlichen Film handelt. Wenn sich Schönheit bemerkbar macht, wird sie gewürdigt, wenn Ruhe und Diskretion angebracht scheinen, werden sie gewährt. Das Resultat ist eine beachtliche Unverkrampftheit der Bilder, selbst wenn das Ideen- und Atmosphärengewirr zur Folge hat, dass manches untergeht und das Tempo wild schwankt (ganzheitlicher Rhythmus ist tatsächlich eine Qualität, die den wenigsten Filmen des Regisseurs eignet, obwohl Sequenzen für sich sehr präzise getaktet sind).

Miike erlangte seine Popularität im Westen zunächst als Lieferant extremer, grotesker Gewaltdarstellung, eine befremdliche Reduktion seines Schaffens auf billige Schocktaktiken. Dabei ist die Gewalt in seinen Filmen (die überdies vom Burlesken bis zum Tragischen verschiedenste Erscheinungsformen kennt) nie Selbstzweck. Ich erinnere mich, als mir in Schulzeiten eine Kopie von Ichi the Killer als der letzte krasse Scheiß vermittelt wurde, und meine Überraschung (und Irritation) angesichts der eigentümlichen Melancholie und Poesie mancher der garstigsten Episoden des Films.

Yakuza Apocalypse von Takashi Miike

Yakuza Apocalypse gehört zweifellos zu Miikes Spieltrieb-Filmen, die Skurrilität überwiegt. Das Drehbuch seines mehrmaligen Regieassistenten Yoshitaka Yamaguchi über Vampir-Yakuza in einer Kleinstadt und ein von Sonderlingen und Fabelwesen angeführtes Syndikat des Bösen scheint bereits mit einem leichten Augenzwinkern verfasst worden zu sein. Dennoch ist es nicht die Prämisse an sich, die gimmickhaft in Erstaunen versetzt, sondern die sukzessive Erkenntnis, dass die eigene Phantasie letztlich weit hinter dem zurückbleibt, was Miike und sein Team aus dem Konzept machen, zu welchen Abschweifungen und filmischen Aperçus sie sich hinreißen lassen, ohne Sinn- und Zweckfragen zu stellen. Miike pendelt mittlerweile regelmäßig zwischen größeren Studioproduktionen und kleineren Projekten hin und her. Dies ist eines der Letzteren, wo die Rücksicht auf erzählerische und psychologische Stringenz noch geringer ausfällt.

Nach der „Einführung“ des Yakuza-Vampirchefs Kamiura (Rirî Furankî) in einer prototypischen Miike-Exp(l)osi(ti)on (er metzelt sich durch eine Feindeshorde, wird von Kugeln durchsiebt und kämpft trotzdem weiter) sowie seines Protegés Kagayama (Hayato Ichihara) gibt es einen Sketch-Comedy-Passage über die Resozialisierung gefangener Gangster, die zurückhaltende Anbahnung einer Liebesgeschichte, gefolgt von der zugleich pathetischen und überzogenen Ermordung des Übervaters, der seine Gabe an den Günstling weitergibt. Dieser kann seinen Blutdurst nicht kontrollieren, und bald ist das ganze Dorf vampirisiert, was der Film wider Erwarten satirisch wendet – die Yakuza sind plötzlich obsolet, weil jeder Bürger seine böse Seite entdeckt hat und Kriminalität zum Normalzustand wird. Unterdessen schmiedet das Syndikat seine Machenschaften unter der Leitung eines schnabelgesichtigen Wasserdämons, dessen hemdsärmelige Kostümierung den Darsteller nicht daran hindert, seine Rolle voll auszukosten. Und dann kommt der Froschmann.

Aber es ist eben nicht die bloße Tatsache, dass ein Mann in einem übergroßen, giftgrünen Froschmaskottchen-Plüschpelz sich als „the world’s toughest terrorist“ und formidabler Kampfkünstler herausstellt, die solche Einfälle besonders macht. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Film diese Tatsache in seine Diegese integriert, vollends dazu bekennt, nur in subtilen Seitenwitzen auf ihre Absurdität anspielt: Etwa wenn das knuddelige Ungetüm beim Treppensteigen Hilfe braucht, weil sein Kopf zu groß ist, oder wenn man deutlich erkennen kann, dass niemand im Kostüm steckt, als es später von einem Truck überfahren wird (um in der nächsten Einstellung wieder aufzustehen). Es geht nicht um den Irrwitz-an-sich, sondern darum, was daraus gemacht wird, wie er mit anderen Elementen und Ebenen des Films in Zusammenhang steht, wie er moduliert werden kann, um neuartige Effekte zu erzielen.

Yakuza Apocalypse mit Frosch

Die Demonstration dieses produktiven Nonsense würde eine Detailanalyse erfordern. Ein Beispiel wäre etwa die Art, wie bei die Bedeutsamkeit und Dramatik der Hinrichtung Kimeuras durch einen Schergen des Syndikats (Yayan Ruhian aus The Raid in der Maskerade eines Otakus, an sich schon eine sonderbare Lust-und-Laune-Besetzung) dadurch suggeriert wird, dass er dessen Schädel erstmal mehrfach um seine eigene Achse dreht, bevor er ihn ausreißt. Ein anderes, wie Miike den großen Showdown inszeniert (es ist einer von vielen): Zwei muskulöse Männer bringen sich in Stellung. Ein Gong ertönt, und sie schlagen einander mit voller Wucht zeitgleich ins Gesicht. Taumelnd fassen sie sich wieder, positionieren sich neu – jetzt aber richtig. Doch der Prügel-Fauxpas wiederholt sich. Und wiederholt sich. Und wiederholt sich. Beim ersten Mal lacht man noch. Beim dritten fragt man sich, wie weit Miike das Spiel noch treiben wird. Beim siebten sieht man das Ganze plötzlich unter völlig anderen Vorzeichen, als buchstäblich ermüdendes Sinnbild eines kosmischen Kreislaufs ewiger Gewalt, das in der apokalyptischen Schlussnote seine (nichtsdestotrotz etwas alberne) Apotheose findet.

Allerdings würde selbst eine Aufzählung sämtlicher Disruptionsmomente einen wesentlichen Aspekt von Miikes Kunst unterschlagen: Die oftmals willkürlich wirkende Alles-Geht-Mentalität steht in starkem Kontrast zur Raffiniertheit (und periodischen Langsamkeit) seiner Bildsprache. Schuss-Gegenschuss etwa ist eine Seltenheit bei ihm: Viel öfter werden Dialogszenen in ausgeklügelt kadrierten Totalen aufgelöst, die langsam seitwärts gleiten wie bei Hou Hsiao-Hsien, strotzend vor fein säuberlich verteilten Ausstattungsdetails. Immer wieder gibt es Schnitte, die sich nur nach Blicken richten, um zu sehen, wo diese hinführen und ob sie erwidert werden, immer wieder kommt es zum poetischen Stillstand in enigmatischen (Traum-)Landschaften (in Yakuza Apocalypse etwa kurz vor Schluss, Kagayama und seine Beinahe-Freundin auf einer Grünoase im Schrottmeer). Es gibt unleugbar großen Respekt vor den Schauspielern, die bei Miike auch noch in den allerblödesten Rollen ihr Bestes geben und deren Leistungen nach Möglichkeit der Raum gelassen wird, der ihnen gebührt. Man spürt in jeder Einstellung, dass hier eine eingespielte Crew am Werk und mit ansehnlichem Enthusiasmus bei der Sache ist. „We are artisans and amatuers rather than professionals. We are agitators fiddling around with something that gives us enjoyment.” So formuliert es der Regisseur mit typischem Understatement, wobei seine positive Auffassung von „Handwerkern“ und „Amateueren“ natürlich nichts mit mangelnder Professionalität zu tun hat. Sie bedeutet nur, dass Filmemachen nicht zur Routine verkommen darf, die Planmäßigkeit über alles stellt, sie fordert Raum für Kontingenz im Produktionsprozess. Die mit Hilfe einer Kerze einem leeren Blatt Papier entlockte Geheimschrift-Abschiedsbotschaft von Kagayamas Mentor lautet passenderweise: „Stay foolish.“

Filmfest Hamburg 2015: The Assassin von Hou Hsiao-Hsien

Vor einiger Zeit durfte ich einen Programmtext zu einer Hou Hsiao-Hsien Retrospektive schreiben. Das Lektorat hat mir dabei meinen letzten Satz gestrichen, mit der Begründung, dass dieser zu poetisch sei und man lieber Klarheit wolle. Wenn man sich die Filme von Hou ansieht und insbesondere The Assassin, der ihm dieses Jahr in Cannes den Preis für die Beste Regie einbrachte, dann kann man mir schlicht nicht erzählen, dass es menschlich ist, nicht in lyrische Formulierungen zu fallen. Die Erfahrungen, die man mit Hou macht, sind jenseits nüchterner Beschreibungen. Dennoch werde ich mich zusammenreißen.

Acht Jahre sind vergangen seit Hous letztem Langfilm, Le voyage du ballon rouge. „Vergangen“ ist auch ein gutes Stichwort für das Kino des Taiwanesen…

Es ist schwer, wenn man nicht schwärmen darf. Wie soll ich mich halten? Ich gebe nach zwei Zeilen auf.

The Assassin

Gegen Ende des Films stehen zwei Frauen auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Nebel dringt aus der Schlucht zum Himmel, man fühlt sich erinnert an das titelgebende und im Vergleich irgendwie billig wirkende Wolkenphänomen bei Hous Freund Olivier Assayas in dessen Clouds of Sils Maria. In seinen bisherigen Arbeiten konnte man durchaus davon sprechen, dass Hou das Vergehen von Zeit wie den Wind filmt, ein Wind, in dem sich Erinnerungen und die Gegenwart umschlingen zu einer bloßen Präsenz. In The Assassin nimmt Hou das wörtlich. Es ist – und ich verweise da gerne auf diesen Text von Serge Daney – der vielleicht dritte Film nach The Wind von Victor Sjöström und Trop tôt/Trop tard von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, der den Wind filmt. Wir sehen den Wind in den Blättern der Bäume, den Gewändern, den seidenbehangenden Räumen, in die Vorhänge wie von anmutiger Geisterhand zitternd geschoben werden, Seide, die vor Bildern weht, die unseren Blick selbst zum Wind macht und schließlich die Kamera, die Kamera des größten Kameramanns unserer Zeit, Mark Lee Ping Bin, die wieder hypnotisch und in einer derart scharfen Klarheit, dass man glaubt, zum ersten Mal zu sehen, zwischen den Figuren schwenkt, nicht wirklich auf der Suche, sondern bereits mittendrin. In 35mm und im alten Academy Ratio, das mehr Platz für den Wind außerhalb des Bildes lässt, filmt dieser auch die beiden Frauen auf dem Gipfel, der kein wirklicher Gipfel ist, sondern eine Zwischenebene. Muss man wissen, wer diese Frauen sind? Vielleicht später, zunächst muss man die bloße Erhabenheit und Dynamik dieses Bildes erfassen, das wie fast jede Einstellung des Films zu viel ist, zu viel für meine Augen. Die eine Frau steht schon von Beginn an dort, sie steht auf einem Felsen, es ist eine Unmöglichkeit, dass sie dort steht und wer die übermenschlichen Bewegungen des übersinnlichen wuxia-Genres hier und da vermisst, hat nicht hingesehen. Sie ist die Meisterin. Nennen wir es so. Ganz in weiß gehüllt, wie eine Erscheinung, thront sie über einem Abgrund, den wir nur durch die aufziehenden Wolken erahnen können, Wolken, die gelenkt scheinen. Hinter dem Felsen erscheint die Protagonistin, ein schweigender Schatten, der wie ein Licht in schwarz durch die Bilder schwebt und deren inneres Leben Hou in jedes einzelne Bild zu legen scheint: Die titelgebende Nie Yinniang gespielt von Hous Muse Qi Shu.

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Wie habe ich das gemeint, mit dem inneren Leben und dessen Verhältnis zur Bildsprache Hous? Pier Paolo Pasolini, ein Mann, der Hou sehr beeinflusst hat, hat einmal einen Text geschrieben über die freie indirekte Rede im Film. Dabei geht es – sehr vereinfacht – um die Möglichkeiten eines Filmemachers, durch den Stil etwas über das Innenleben von Figuren auszudrücken. So hängt etwa die Wahl des Objektivs in Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni am nervösen Seelenleben der Protagonistin. Und wie zeigt sich das jetzt in The Assassin, ein Film, der meiner Meinung nach beständig von einem solchen inneren Konflikt erzählt? Nicht alleine in der Schönheit der Bilder, sondern auch in diesem harrenden Schwebezustand, diesem zögernden Warten und der Antizipation der Gewalt, die Hou viel mehr interessiert als die tatsächlichen Kampfszenen, die er fast im Stil eines Robert Bressons nur in ihrer Essenz zeigt. Nie Yinniang hängt ebenfalls in dieser Antizipation, sie ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe, ihrer Emotion und ihrem eigenen Urteilsvermögen. Der Film beginnt in drei Vignetten in den Farben schwarz und weiß (wie Godard einst über Bresson geschrieben hat) und erzählt vom Töten und Nicht-Töten-Können der Protagonistin. Zunächst wandelt sie tänzerisch in einem Wald mit nackten Bäumen, um einen Mann mit tödlicher Eleganz zur Strecke zu bringen. Der Martial Arts Aspekt ist hier eher eine Drohung, ein Versprechen, als ein ästhetisches Vergnügen. Wie seine Hauptfigur, so will auch der Film diese Kämpfe umgehen, sie minimalisieren… Nie Yinniang will auch nur das Nötige tun, sie ist wie der Wind, wie der Film. In der zweiten Vignette kann sie einen König nicht töten, weil dieser gerade mit seinem Kind spielt. Sie lässt ihn am Leben. Es ist als würde plötzlich die Schönheit der Welt zwischen ihr und der Gewalt stehen. Diese Dinge sind Hou offensichtlich wichtiger als wuxia Verweise, die in diesem China des 9. Jahrhunderts inspiriert von der chuangi Literatur eher einen Rahmen bilden. Hou geht es in diesem Genre um zwei Dinge: Die Moral und die Frage wie sich die Geschichte in eine Gegenwärtigkeit übersetzen lässt.

Nie Yinniang, das schwarze Licht (solche Formulierungen könnte man streichen, aber wer, der den Film kennt, würde nicht sagen, dass man die Protagonistin so beschreiben muss?), die sich oben auf dem Berg unter die Meisterin auf dem Felsen stellt, wird für ihr Versagen bestraft. Sie soll ihren Cousin Tian Ji’an töten, dem sie einst versprochen war. Von diesem Augenblick an folgen wir ihr und mit ihr dem Leben des Cousins mit seiner Familie und seinen politischen Entscheidungen, wir können uns nicht wirklich nähern, weil wir tödlich sind. Es ist eine derartige Konzentration in den Bildern, in denen das Beiläufige und Zwingende zu einer absoluten Notwendigkeit verschmelzen. Es ist eine Notwendigkeit, die jedes Bild mit Leben füllt und es dennoch über dasselbige hebt. Dabei entsteht das Bild einer Zeit vor unseren Augen. Zeit wird erfahrbar, weil wir den Wind spüren, weil wir die Töne hören (Hou drehte zwar in mandarin, aber angeblich in einer völlig befremdlichen Syntax, die selbst für jene, die diese Sprache beherrschen, nicht verständlich ist, aber genau darum geht es auch nicht, es geht darum diesen Rhythmus zu hören und in ihm zu verschwinden während man sich gleichzeitig einer unendlichen Distanz bewusst sein muss) und weil wir die Materialität der Orte, Kleider und Menschen fühlen. Hou hat wie in City of Sadness, The Puppetmaster oder Flowers of Shanghai eine Möglichkeit gefunden, dass die Re-Präsentation einer Zeit gleich einem Wind durch unsere Augen weht. Es ist zugleich Erinnerung, Präsenz und alles dazwischen. Es geht nicht um die Informationen der Geschichte, sondern um das Leben in und wegen der Geschichte. Immer wieder sehen wir das einfache Leben, Kinder, die spielen, ein Gespräch, Arbeit. In diesen Bildern treffen sich die Moral und die Vergegenwärtigung. Die Moral ist der Zweifel, ob man im Angesicht dieses Lebens töten kann und die Vergegenwärtigung ist die akkurate Beiläufigkeit einer Distanz, die wie ein schüchterner Beobachter nicht eingreifen will in diese Welt, sondern sie schlicht sehen und hören will.

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Zum Sehen und Hören gibt es einiges zu sagen. Wir sind zurück am nebeligen Abgrund. Immer wieder tauchen diese Aufnahmen auf, in denen Hou Landschaften wie Körper zelebriert. Etwas lebt in ihnen und sie sind ein Spiegel der Zeit, des Innenlebens einer Geschichte und einer Figur, der Zeit und Geschichte dieser Figur. In ihnen liegt die ganze Präsenz dieser Vergänglichkeit, die ihr Ebenbild einzig in den melancholischen Augen der Figuren findet. Nein, es gibt nichts konkreteres in diesem Film, weil es konkreter gar nicht geht. Dabei wird The Assassin keineswegs von derselben Dekadenz heimngesucht wie Flowers of Shanghai. Vielmehr ist es eine Abkehr, ein Untertauchen in diesen massiven Bildern von Perfektion. Man kann sagen, dass Hou, der im Vergleich zum anderen großen Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, Edward Yang, immer als ein Filmemacher der Natur und Ländlichkeit galt, hier zum ersten Mal tatsächlich mit der Landschaft atmet statt sie im Stil seiner frühen Arbeiten, als pastoralen Hintergrund einer Erinnerung zu verwenden. In dieser Ländlichkeit erfährt The Assassin die Meisterschaft eines Filmemachers, der es geschafft hat eine eigene Sprache nicht nur zu finden, sondern zu meistern. Das ist aber auch gefährlich. Die Perfektion der Bildsprache ist derart hoch, dass dem Film trotz seiner fragmentarischen Ezählweise, in der wichtige Ereignisse zum Teil im Off geschehen oder nur ganz kurz an einem vorbeihuschen wie die Schleier im Wind, manchmal an Kantigkeit fehlt. Statt der jugendlichen Desorientierung, die sich auf die Bildsprache von Goodbye South Goodbye oder Millenium Mambo übertrug, gibt es hier eine überzeugte Zerbrechlichkeit. Alles ist perfekt. Wie könnte man das kritisieren? Man kann nicht. In dieser Hinsicht erinnert mich der Film an ¡Vivan las Antipodas! von Victor Kossakovsky. Ein Film, über den der Filmemacher sagte, dass es nicht (mehr) um Realismus ginge, sondern um etwas Größeres. Hou scheint hier auch an etwas Größerem interessiert zu sein als bisher.

Außer der Natur gibt es Räume, die verwinkelt sind mit Farben, die Fieber haben. Immer wieder filmt Mark Lee Ping Bin durch Seidentücher und erzielt hypnotische Effekte mit Kerzen vor seinen Linsen…es brennt in unseren Augen, der Schleier der Zeit, der Hauch der Unsicherheit. In einer der unfassbarsten Sequenzen, die ich je im Kino gesehen habe, unterhält sich der Cousin mit seiner Konkubine während die Kamera hinter den Vorhängen ganz zart bewegt lauert. Wir wissen lange nicht, ob es ein Point-of-View-Shot der Auftragsmörderin ist oder nicht. Es ist ein Spiel mit Blicken und der Distanz, die sich mal vor uns schiebt und dann wieder verschwindet. Hier liegt die Sehnsucht nach einem anderem Leben und der Horror der drohenden Gewalt derart greifbar vor uns, dass wir nicht anders können, als sie gemeinsam in ihrer Gleichzeitigkeit oder gar gelöst von Zeit oder gar mit der Zeit verwoben zu begreifen, obwohl wir das niemals könnten. Wir spüren diese Welt und die Unsicherheit einer Figur, die wir erst später als eine Silhouette, als fremden Eindringling in ihrem eigenen eigentlichen Leben erkennen. Sie erscheint wie der Nebel aus der Schlucht. Man blinzelt und sie ist da, man blinzelt und sie ist weg. Sie wäre wohl am liebsten ganz da oder ganz weg.

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Der Ton ist das leise Flüstern aus der Schlucht, aus der dieser Nebel dringt. Jedes Geräusch ist klar und voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Manche Sachen hören wir nicht, weil wir sie nur sehen können, andere Sachen sehen wir nicht, weil wir sie nur hören können. Es ist eine Abstraktion, die etwas entstehen lässt, was man vielleicht mit „Gefühl für die Umgebung“ umschreiben könnte. Für die Musik war wieder Lim Giong zuständig. Vor allem ein beständiges Trommeln ist beeindruckend. Zweimal hören wir es ganz klar und laut bevor ein Schnitt in einen Innenraum es in ein Trommeln aus der Distanz transformiert. Abstände werden uns bewusst, zeitlich und räumlich. Auf einer Zither spielt eine Frau in einer Mischung aus Aggresivität, hinbgabe und vollkommener Zärtlichkeit ein Lied. Dazu singt sie von einem Vogel, der nicht singen konnte bis er seine eigene Reflektion sah und dann so lange vom Leid sang bis er starb. Im Film sehen wir so manche Reflektion. Einmal in einem See, dann in den Lichtern von Kerzen und schließlich in diesem Leben, dass Nie Yinniang nicht haben konnte, jene Frau, die nicht töten konnte, weil sie sich selbst nie gesehen hat oder weil sie sich immerzu gesehen hat und deshalb so lange töten musste, bis sie den Gesang des Lebens hörte. Ein anderes Mal sehen wir einen Tanz, der mit uns tanzt und/oder mit Farben.

Nie Yinniang gesteht ihrer Meisterin am Abgrund stehend, dass sie den Cousin und seine Familie nicht töten konnte. Sie liefert ein politisches Argument (kein emotionales). Sie wird als schwach bezeichnet. Inzwischen verdeckt der Nebel den gesamten Bildhintergrund. Ist das Magie? Dann verschwindet sie im Wald. Ein harter Schnitt, von denen es ein paar in The Assassin gibt, wirft uns mitten in einen Kampf zwischen ihr und ihrer Meisterin. Doch Nie Yinniang kehrt sich ab, sie erstickt diesen Kampf erneut. Sie hat kaum etwas gesagt, wir haben sie kaum gesehen, sie ist nur ein Schatten und genau deshalb das Licht dieses Films, der vielleicht letztlich auf einer Suche nach einer zeitlosen Moral und deren Gegenwärtigkeit erfolgreich ist, in dem er sich von der Welt abkehrt und in eine unfassbare Reinheit taucht, die wiederum vom Wind wie ein flimmernder Schimmer am Leben gehalten wird, sei es durch die Vergangenheit oder Gegenwart. Irgendwie habe ich nur ein Bild des Films beschrieben. Und weil das vielleicht zu poetisch klingt, ende ich mit einem Zitat des Filmemachers: „Hollywood-style films are popular all around the world nowadays, and they need a strict story structure. If the story is not told that way, not continuous enough, the audience will have difficulty following along. But that’s only one of the many ways of telling a story: there are hugely different ways of filmmaking in world cinema. Only because of the huge impact of Hollywood, young people want to imitate that style. Actually, almost all filmmakers want to imitate the style of Hollywood. But I don’t see it that way. A good film is when you continue your imagination [of it] after seeing it.”

Origin of Symmetry: Afternoon von Tsai Ming-liang

In einer anmaßenden Unbeholfenheit schafft Tsai Ming-liang in diesem Filmdialog/Dialogfilm eine derart beruhigende und erwärmende Stimmung, dass man ihm, im Gespräch mit seiner – selbst sitzend in einer Halbtotale hypnotisierenden – Muse Lee Kang-sheng Stunden zuhören könnte. Auf zwei niedrigen Stühlen sitzen die beiden Filmemacher, Schauspieler, Vater/Sohn, Liebender und Geliebter, Pinsel und Farbe, weil Tsai das so möchte, weil er etwas loswerden möchte, ohne dass er die genauen Worte dafür hat. Mehr wird es nicht geben in diesem Film, der strukturell vielleicht mit Corneliu Porumboius Al doilea joc verwandt ist, ohne jedoch dessen Vielschichtigkeit zu besitzen. Stattdessen geht es hier – und das ist schon viel genug geschichtet – um das Verhältnis und die Geschichte zwischen Tsai und seinem Schauspieler, seinem immerwährenden Hauptdarsteller Lee, vielleicht ist Afternoon auch der verlorene Versuch einer Danksagung an den Darsteller, die gerade dadurch glückt, dass sie immer wieder scheitert, die Unsicherheit einer Zufriedenheit und ganz sicher der Stolz eine Zeit des Glücks einfrieren zu können bevor das Glück wieder verschwindet („I tell people that I feel very blissfull. I don’t know if they understand.”).

Es ist keineswegs so, dass der Film jegliche kinematographischen Qualitäten, die das Kino des in Taiwan arbeitenden Filmemachers ausmachen, über Bord werfen würde. Diese Einstellung, der wir über zwei Stunden in vier Takes folgen ist voller modernistischer Kraft und sinnlicher Stille. Mit einer weitwinkligen Aufsicht wurden die zwei Stühle in der Ecke eines Raumes platziert, der wunderbar in das Universum der Ruinen passt, die Tsai sonst so aufsucht (Tsai:„I love ruins“, Lee: „In your films I always play ruins.“), einzig, dass es sich in diesem Fall um sein tatsächlichs Haus in den Bergen handelt. Durch zwei glaslose Fenster ragen Pflanzen und man erahnt das Grün eines tiefen Waldes. Immer wieder kommt Wind auf und untermalt die Suche nach Worten und deren zerbrechlichen Klang. Lee, den Tsai als den vielleicht merkwürdigsten Schauspieler aller Zeiten bezeichnet, weil man nie wisse, ob er spiele oder nicht, macht nicht viel und lässt uns (uns Zuseher hingebungsvoll in der Filmwelt von Tsai/uns Menschen, die mit den Augen im Kino sind) erneut mit der staunenden Liebe einer Unbegreiflichkeit zurück. Seine knappen Antworten und spärlichen Gesten sind von einer verletzten Trockenheit. Immer wieder muss Tsai laut auflachen, durchgehend federt Lee die emotionalen Regungen seines Entdeckers ab. Aus ihm spricht gleichzeitig die Erfahrung aus dem Umgang mit seinem Regisseur sowie das daraus resultierende Vertrauen und die Angst.

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Zwei Dinge sollten unbedingt klargemacht werden: Zum einen ist Afternoon keineswegs ein hochkomplexer Film. Es ist die schlichte Einfachheit und Gefahr eines Moments und das Vertrauen in die Komplexität dieser Simplizität. Jedes Wort, dass man als Schreibender darüber verliert, mag vielleicht so antizipiert sein, aber letztlich handelt es sich einfach nur um ein Gespräch dessen poetische, theoretische und philosohpische Tragweite nicht unbedingt (aber auch) aus der Kraft der Kamera geweckt wird, sondern aus dem Dialog selbst entsteht sowie den schweigenden Augenblicken, den kleinen Bewegungen, dem Lachen und Lächeln zweier Menschen, die uns berühren. Das wunderbare ist nur, dass uns Tsai in dieses Gespräch eingeladen hat. Zum anderen handelt es sich – wie vielleicht sonst nur bei Où gît votre sourire enfoui? von Pedro Costa – um einen versteckten Liebesfilm, der hinter dem Schatten einer gemeinsamen Arbeit entsteht. Nein, Afternoon ist kein großes Outing der beiden – auch wenn Tsai sagt, dass er im Film zum ersten Mal öffentlich über seine Homosexualität spricht – es ist vielmehr ein Film über das unerwiderte Begehren, der über die Liebe jenseits jeglicher sexueller Verbindungen zwischen den beiden erzählt. So handelt Afternoon auch von der Unmöglichkeit zwischen Künstler und Muse, der Unmöglichkeit des wirklichen Berührens, die hier eine Beständigkeit bewirkt, dessen Druck man in jedem Bild des Werks von Tsai sehen kann, eine Konzentration zwischen Schatten und Licht, die im Unbegreifbaren von Lee liegt, der Seite von Lee, die Tsai und auch uns verborgen bleibt. Und das ist zugleich der Inhalt als auch der Reiz dieses Gesprächs. Diese Frage des unerwiderten Begehrens ist auch der große Unterschied zu einem Film wie Jean-Luc Godards Soft&Hard, der die Reflektion auf das eigene Werk in die Beiläufigkeit eines Alltags einbettet während des Gespräch zwischen Tsai und Lee gar nicht erst in einen Alltag fallen kann (selbst wenn sie es wollten), weil es durchgehend voller Unsicherheiten ist und von einer Neugier handelt, die zumindest im Fall von Tsai noch immer auf der Suche ist, rastlos und emotional. Natürlich gilt das auch für Godard, aber im Fall dieser beiden Filme steht eine Art berechnende Selbstironie gegen eine Ehrlichkeit, die sich nicht scheut, den eigenen Stolz zu filmen. Ob das an kulturellen Unterschieden liegt, mögen andere beurteilen.

Natürlich ist Afternoon auch ein Film über die Einsamkeit (Krankheit, Liebe), die Alltäglichkeit (Essen, Krankheit, Spaziergänge) und das Zögern. Tsai baut also auch nach seinem offiziellen Karriereende als Filmemacher an seinem Filmhaus (nur, dass wir dieses Mal in seinem Haus sind und so platt diese Feststellung erscheinung mag, so aussagekräftig ist sie), in dem sich alles immerzu aufeinander beziehen lässt. Zunächst scheint es gar nicht so, dass es ihm darum ginge, seine Dankbarkeit an Lee loszuwerden, denn am Anfang des Gesprächs geht es Tsai um die dauernde Präsenz seiner eigenen Vergänglichkeit, seine Angst vor dem Tod. Immer wieder wird er darauf zurückkommen, dass es plötzlich vorbei sein könne. Für manchen Betrachter mag dieses zum Teil unvorbereitete (oder zumindest jederzeit so wirkende) Reden wie der Gipfel einer Willkürlichkeit wirken (wiederholt sagt Tsai, dass man vielleicht nie wieder so miteinander reden könne, woraufhin Lee einmal entgegnet: „We can talk any time“), aber darin drückt sich trotz oder gerade wegen des beständigen Selbstlobs keine Arroganz aus, sondern die Freude einer Zufriedenheit, die geteilt wird. Klar kann man darüber diskutieren, ob ein solcher Film auf Festivals laufen sollte, aber Tsai versteht die Mechanismen der Kunstszene derart gekonnt, dass er mit Afternoon sogar noch einen mutigen Schritt weiter ins Museum geht als gewohnt: Der Künstler zählt hier, nicht sein Film beziehungsweise sein Film existiert nur im Dialog mit dem Künstler. Ich vermag nur spekulieren, wie sinnlos dieses großartige Werk einigen Zuschauern erscheint, die keinen Film von Tsai Ming-liang gesehen haben…mit Afternoon wird Film dann zur „Insider-Art“, von der Jean Renoir geträumt hat. Wir haben vielleicht Lee nicht besser verstanden, aber wir haben das einfache Licht zwischen Künstler und Muse gesehen.