Loneliest in a lonely sea: ENOCH ARDEN von D.W. Griffith

von Patrick Holzapfel

Annie, the ship I sail in passes here
(He named the day) get you a seaman’s glass,
Spy out my face, and laugh at all your fears.’

In Enoch Arden geht es um Annie, Enoch und Philip. Die beiden Männer lieben Annie. Sie wählt Enoch. Als es der Familie schlechter geht, entscheidet sich Enoch an einer Schiffsexpedition nach China teilzunehmen. Auf der Reise verunglückt sein Schiff und er strandet auf einer verlassenen Insel, wo er Jahre wartet. Annie beugt sich in der Zwischenzeit den zärtlichen Avancen von Philip und er nimmt die Vaterrolle an und ersetzt Enoch. Nach Jahren kehrt Enoch doch zurück und findet seine Frau und seine Kinder in einem neuen Familienglück. Er wagt es nicht, den wiedergewonnen Frieden seiner Annie zu zerstören, schleicht sich davon und stirbt schließlich.

Griffiths Gefühl fortschreitender, erbarmungsloser Zeit liegt nicht wie im narrativen Poem von Tennyson am zeitversetzten Fortlaufen der Geschehnisse, sondern an der durch Parallelmontage erzeugten Gleichzeitigkeit. Das Poetische offenbart sich im Film weniger in den einzelnen Einstellungen, sondern in dem, was sie verbindet oder trennt. Die Zeit, der Raum, die Blicke zwischen den Bildern. Darin liegt etwas Unbeschriebenes, kaum Fassbares, aber dennoch Fühlbares. So kommt die Erzählung von Tennyson auf Enoch zurück als der Leser schon längst von Philip und Annie weiß. Im Film dagegen existiert Enoch über die räumliche Trennung hinweg auch jenseits der Gedanken von Annie. Bis heute hat man das im Kino vielmals, aber niemals besser gesehen.

Der Schiffbruch in der Montagekunst von Griffith

Annie mit zwei ihrer Kinder an der Hand am Ufer mit Fernrohr. Sie blickt erwartungsfroh in die Ferne. Es ist windig. Nach einiger Zeit senkt sich ihr Haupt und
SCHNITT:
Titel: The Storm – Enoch at the mercy of the breakers on a tropic shore
SCHNITT:
Im Wasser kämpfende Männer, die ihre Arme nach oben recken, jemand klammert sich an einen Felsen und
SCHNITT:
Annie steht am Strand und wendet sich vom Meer ab. Auch vor ihr Felsen, aber keine Männer. Sie lässt sich niedergeschlagen auf einen Stein sinken und blickt auf das Wasser und
SCHNITT:
Ein im Wasser treibender Mann, er liegt fast bewegungslos in der tödlichen Gischt und
SCHNITT:
Annie jetzt von schräg vorne, in sich gekehrt, traurig. Plötzlich schreit sie auf. Reißt ihre Hände in die Höhe und schreit hinaus aufs Meer. Sie ist am linken Bildrand, ihr Blick geht ins Off. Sie ist verzweifelt, aber aus jenem Off kommen ihre Kinder gerannt, die sie in die Arme nimmt. Sie blickt zum Himmel und
SCHNITT:
Männer werden an einen Strand gespült. Sie sind völlig erschöpft und bewegen sich auf die Kamera zu. Immer wieder fallen sie. Hinter ihnen treiben Reste des Schiffes und
SCHNITT:
Enoch kommt am Strand an. Zwischen Palmen. Er berührt kraftlos ihre Blätter. Zwei weitere Männer sind bei ihm. Sein Blick geht zum Himmel. Auch er schaut in Richtung des linken Bildrands und streckt seine Arme aus. Verzweifelt geht er zu Boden und
SCHNITT:
Seine Frau Annie sitzt nun am rechten Bildrand am Felsen mit den zwei Kindern. Die Kamera ist hinter ihr, man sieht das Meer. Annie umarmt ihre Kinder.
SCHWARZBLENDE.

Der Schiffbruch in der Wortkunst von Alfred, Lord Tennyson:

She when the day, that Enoch mention’d, came,
Borrow’d a glass, but all in vain: perhaps
She could not fix the glass to suit her eye;
Perhaps her eye was dim, hand tremulous;
She saw him not: and while he stood on deck
Waving, the moment and the vessel past.

Ev’n to the last dip of the vanishing sail
She watch’d it, and departed weeping for him;
Then, tho‘ she mourn’d his absence as his grave,
Set her sad will no less to chime with his,
But throve not in her trade, not being bred
To barter, nor compensating the want
By shrewdness, neither capable of lies,
Nor asking overmuch and taking less,
And still foreboding ‚what would Enoch say?‘
For more than once, in days of difficulty
And pressure, had she sold her wares for less
Than what she gave in buying what she sold:
She fail’d and sadden’d knowing it; and thus,
Expectant of that news that never came,
Gain’d for here own a scanty sustenance,
And lived a life of silent melancholy.

Less lucky her home-voyage: at first indeed
Thro‘ many a fair sea-circle, day by day,
Scarce-rocking, her full-busted figure-head
Stared o’er the ripple feathering from her bows:
Then follow’d calms, and then winds variable,
Then baffling, a long course of them; and last
Storm, such as drove her under moonless heavens
Till hard upon the cry of ‚breakers‘ came
The crash of ruin, and the loss of all
But Enoch and two others. Half the night,
Buoy’d upon floating tackle and broken spars,
These drifted, stranding on an isle at morn
Rich, but loneliest in a lonely sea.

SOPHIA DE MELLO BREYNER ANDRESEN von João César Monteiro

von Patrick Holzapfel

Die Bilder fließen über, flüchtig,
und wir stehn nackt vor allem, was lebendig ist.
Kann irgendeine Gegenwart
das Drängen in uns stillen, das unendliche,
Alles zu sein, zu blühn in jeder Blume?

Schlicht Sophia nennen sie in Portugal eine ihrer großen Mutterstimmen, die Dichterin Sophia de Mello Breyner Andresen. Ihr Werk erstreckt sich in erstaunlicher Konkretheit wie Fühler zwischen Lebendigkeit und Vergänglichkeit. Bei João César Monteiro würde niemand auf die Idee kommen, nur seinen Vornamen zu nennen. Zu ausgewählt und unberechenbar sein Auftreten, zu gefährlich und provokativ sein Kino. Beide treffen sich jedoch in ihrem Bewusstsein für Moral und Metaphysik von Sprache sowie in ihrer Prägung durch aristokratische Erziehung, die Sophia zu einer Flucht ans Meer bewegte und Monteiro in die Gosse brachte. Vielmehr noch finden sich die beiden in einer Poesie der Wahrnehmung.

Sophia de Mello Breyner Andresen war der erste Kurzfilm von Monteiro, mehr oder weniger eine Auftragsarbeit. Er wurde nicht müde zu betonen, dass er keinen blassen Schimmer davon hatte, wie man einen Film machen würde. Später würde er behaupten, dass der Film ihm gezeigt hätte, dass man Gedichte nicht verfilmen könne. Sein Film beweist freilich das Gegenteil. Es ist eine Arbeit der Annäherung von Film und Sprache, Worten und Bildern. Der Versuch des Kinos Gedicht zu werden und das Austarieren einer Bildwerdung poetischer Sprache.

Portraits von Autoren erfreuten sich bereits im frühen Kino großer Beliebtheit. Zum Beispiel gibt es im skandinavischen Kino frühe Aufnahmen von Selma Lagerlöf oder Gerhart Hauptmann. Dabei stellt sich seit jeher die Frage wie man die Arbeit oder das Sein Schreibender in Bildern festhalten kann. Ein häufiges Motiv dieser Filme ist der Schreibtisch und an einem solchen beginnt auch Sophia de Mello Breyner Andresen. Jedoch – und hier begeht dieser Filmemacher unzähliger Skandale einen ersten, beinahe unauffälligen Affront – sitzt Sophia nicht nur dort, sie schreibt, sie arbeitet. Es ist ein heiliger Akt, den Monteiro da filmt. Man kann sich durchaus fragen, ob man diesen Akt des Schreibens, des Denkens so wirklich filmen kann und soll. Später wird er gar das beschriebene Blatt Papier in einer Nahaufnahme zeigen. Wozu diese Nähe, wozu diese Intimität? Womöglich ist sie bereits ein erster Spiegel auf das Schreiben der Sophia, ein Ergebnis ihrer eigenen Direktheit.

Im Vordergrund also die Poetin an einem Tisch. Wie es sich beim Schreiben gehört, gibt es auf dem Tisch nur Früchte und Papier. In einer späteren Einstellung noch eine Zigarette. Viel wichtiger aber für das Bild und die Poetin ist das Fenster im Hintergrund. Es lässt einen Blick aufs Meer zu, ein Segelboot erscheint wie erträumt am Horizont. Dieses Fenster erscheint beinahe abstrakt, wie die Inspiration selbst. Ist sie filmbar?

In der Folge unterschiedliche, und in ihrer Nähe zur Dichterin, doch homogene Ansätze einer filmischen Annäherung an die Poesie: zum einen Gedichte als Text im Bild. Gleich zu Beginn konfrontiert uns Monteiro, in dessen Werk Sprache und Literatur immer eine überragende Rolle spielte – man denke nur an seine Robert-Walser-Verfilmung Branca de Neve – mit einem Gedicht von Jorge de Sena. Zum anderen Bilder, die man beinahe als Visualisierung der Gedichte von Sophia verstehen könnte, obwohl es sich gleichzeitig um dokumentarische Aufnahmen von ihrer Familie beim Baden handelt. Ein Bootsausflug untermalt mit klassischer Musik, immer wieder das Meer, die Felsen, Reflektionen des Wassers auf den Felsen, ein Tauchgang. Später hören wir dann gar ein Gedicht von Sophia aus dem Off zu diesen Bildern. In ihrem Gedicht Biographie schreibt Sophia: „Ich habe mich gesucht im Licht, im Meer, im Wind.“ Wer sich im Licht sucht, möchte man meinen, ist im Kino. Immer wieder kehrt Monteiro zu den Motiven der Poetin zurück: Das Meer, der Strand, am Himmel kreisende Vögel. Er zeigt nicht nur diese Bilder, er wiederholt sie auch, lässt sie wiederkehren, arbeitet letztendlich in der Montage mit sprachlichen Mitteln.

Die Kinowerdung der Sophia bei Monteiro setzt sich fort im Akt des Lesens. Sophia, die auch für ihre Kindererzählungen berühmt ist, liest einem ihrer Söhne vor. Sie liest vom Meer, einer Beziehung zum Meer. Monteiros Kamera ruckelt immer wieder leicht. Man bemerkt das Amateurhafte, das er in einem Text zum Film (etymologisch korrekt) mit Liebe übersetzte.

Der Sohn ermahnt Sophia nach dem Vorlesen. Sie solle nicht so aufgesetzt lesen, lieber natürlicher. Die Natürlichkeit hängt für Sophia an etwas anderem. Sie sagt, dass es ihr in der Poesie um eine Beziehung zur Realität gehe. Sie entdecke diese Präsenz des Realen in einer Frucht. Ganz ohne Fantasie, ganz ohne Imagination. Monteiro nimmt diese Definition der Poesie mit seinem Kino auf. Plötzlich sehen wir beobachtende Bilder von der Straße. Er filmt nicht einfach die Worte von Sophia, er versucht sie in das Kino zu übersetzen. Seine ganz eigene Hinwendung zur Realität. Immer mehr löst sich der Film in seiner Montage vor uns auf. Monteiro wirft uns in ein Meer aus gleichzeitigen Worten und Eindrücken. Dort, wo Sophia in ihren Gedichten eine Verbindung mit den Dingen beschwört, sucht sie Monteiro zwischen Bildern und Worten. Das liegt letztlich auch daran, dass er in seinem ersten Film beweisen will, dass er weiß, was das Kino ist.

Er gibt Sophia Raum für die Philosophie ihrer Poesie. Sie spricht darüber, dass die Poesie eine Moral wäre, es gehe um die Suche nach Gerechtigkeit. Die Würde des Seins, das Überleben als Tier und die Suche nach Freiheit seien Themen der Poesie. Sie suche nach einer Nacktheit und absoluter Gegenwärtigkeit vor dem Leben. Dazu gehört auch, alles so anzusehen, als würde man es das erste Mal sehen. In den Worten des großen japanischen Filmemachers Kenji Mizoguchi, als würde man sich vor jeder neuen Einstellung die Augen waschen. Die Gedanken zur Poesie werden im Film zu Gedanken über die Wahrnehmung und dadurch auch zu Gedanken über das Kino.

Dieser Ruf nach Direktheit und Realität wird im Kino von Monteiro zu einer Art Verunreinigung der Kraft der Sprache. Denn Sophia sagt ihre Sätze nicht im luftleeren Raum oder auf einem Blatt Papier. Ihre Kinder versammeln sich um sie, korrigieren sie, machen Scherze. Schließich lässt der Filmemacher den Nachwuchs auch etwas über die Mutter erzählen. Dadurch wird Sophia de Mello Breyner Andresen auch ein Film über die Liebe einer Mutter, und zeigt darüber hinaus, was eine Hinwendung zur Realität für Film bedeuten kann. So schwimmt Monteiro mit seinem Portrait im Herzen des Lebens und jenseits des Lebens bis Sophia am Ende ihren Namen schreibt. Ein Name, der zum Titel, zum Film, zur Sprache des Films wird. Eine Sprache, die beständig daran scheitert Poesie zu werden, weil die Nacktheit vor dem Leben im Schreiben eine andere ist als im Filmen.

EDITORIAL

Wir beschäftigen uns nicht mit Poesie, weil es dazu einen Anlass bräuchte. Wir beschäftigen uns mit ihr, weil Poesie ein Anlass ist.

Poesie, ein Wort. Schneller gesagt als beschrieben. Poesie, die gerade das Ungreifbare auszudrücken versucht. Poesie, die womöglich vom Rest spricht, der überschießt, der in ein Außerhalb und Außergewöhnliches deutet. Oder doch Poesie, die ein für die jeweilige Kunst Exklusives anzeigt, ein Geheimnis tief in der Essenz verborgen. Poesie, die dann doch wieder das ganz Spürbare und Wirkliche zu betonen trachtet. Jean Cocteau, einer der zahlreichen Poeten und Filmemacher, deren Gedanken zu den Überlappungen, Parallelen und Unterschieden von Film und Poesie wir hier nur andeuten können, sprach von der Poesie als etwas, dass alle Künste transzendiert und daher das Kino als Kunst auszeichnet. Es können immer nur Vorschläge sein, Ansätze, Konstruktionen. Wir wissen nicht was genau das Poetische im oder am Kino ist, wir glauben aber fest daran, dass das Kino Poesie sein kann.

In der Geschichte filmischer Diskurse wurde immer wieder auf die Poesie des Films als Film, um einen Ausdruck von Gregory J. Markopolous zu gebrauchen, verwiesen. Eine Poesie also, die allein durch die Mittel des Kinos als solche sicht- und hörbar wird. Nicht irgendwelche Anleihen an geschriebener oder gesungene Poesie. Dieser puristische Ansatz hat seine Notwendigkeit, jedoch übersieht er oft, dass sich das Kino sehr oft vor allem über seine Ränder definiert, über seine Annäherung an all die Dinge, die das Kino nie völlig sein kann. Es sind Grenzbewegung zwischen Sprache und Bild, Musik und Malerei, die letztlich immer wieder ganz besonders stark auf das Kino zurückverweisen und dieses auch im Jahr 2019 als genuine Kunst ausweisen.

In unserer ersten Ausgabe befassen wir uns mit unterschiedlichen Begegnungen von Kino und Poesie: Verfilmte Gedichte, Kinosprache, Poetinnen im Film, poetische Ausbrüche und ihre Kontexte, kinoschaffende Poeten oder poetische Annäherungen an das Kino.