Dossier Beckermann: My Super Sweet Thirteen (Zorros Bar Mizwa)

Zorros Bar Mizwa von Ruth Beckermann

Nachdem sich Ruth Beckermann in ihrem filmischen Oeuvre intensiv mit Veränderungen im Wiener Stadtbild und der Wiener Gesellschaft auseinandergesetzt hat – ein Blick zurück, der immer auch die Gegenwart im Auge hatte –, ist die Gewichtung in Zorros Bar Mizwa eine andere. Der Film fragt nicht (explizit) nach der Vergangenheit, interessiert sich kaum für Anekdoten und (Lebens-)Geschichten, wie es für frühere Filme von Beckermann typisch war (allen voran dem großen Interviewporträt Wien retour, das eine oral history des Jüdischen und Roten Wiens der Zwischenkriegszeit aufzeichnet), stattdessen wagt Beckermann eine Bestandsaufnahme der Gegenwart, die sich weniger an vergangenen, denn an zukünftigen Entwicklungen orientiert. Der Film begleitet drei Jungen und ein Mädchen auf dem Weg zu ihrer Bar Mizwa bzw. Bat Mizwa, dem Übergang ins religiöse Erwachsenenleben im Judentum. Dieses Ereignis wird durch ein Zeremoniell im örtlichen Gotteshaus und einer anschließenden Feier mit Familie, Freunden und der Gemeinde zelebriert.

Zorros Bar Mizwa ist ein Film über jüdisches Brauchtum und ein Blick ins Innere der jüdischen Gemeinde Wiens. Es handelt sich bei diesem Blick jedoch keineswegs um ein nostalgisches Zurückerinnern an eine Zeit als die Ausübung jüdischer Religion hierzulande noch weniger exotisch wirkte, sondern um die Befragung einer neuen Generation, die an ihrer Religion festhält und sie für ihre Bedürfnisse adaptiert. Während die Festlichkeiten bei Moishy streng orthodox abgewickelt werden, interpretiert sie Sharon sehr viel freier und lädt zu einer großen „Zorro“-Themenparty – seine Familie, so die Mutter, sei immerhin sephardischer Herkunft, wodurch eine spanische Ausrichtung der Feier gerechtfertigt sei. Der Film lässt in der Konfrontation dieser unterschiedlichen Auslegungen die Frage offen, wie sich die strenge Orthodoxie, die als Reaktion auf die Geschichte des Judentums im 20. Jahrhundert gewertet werden kann, zur Säkularisierung religiöser Praktiken, wie sie für westeuropäische Gesellschaften typisch ist, verhält. Zumal die unmittelbare geographische und kulturelle Umwelt den säkularen Tendenzen, die den Spektakelwert über religiöse Besinnlichkeit stellen, keine ähnlich ausgeprägte orthodoxe Gegenposition entgegenzusetzen hat. In der sozialen Stellung und ethnischen Herkunft unterscheiden sich die vier Protagonisten ebenfalls: Tom ist Sohn einer israelischen Mutter und eines österreichischen Vaters, Sharons Familie stammt aus Georgien, Sophie wächst in einem bilingualen Haushalt auf. Wohl jede der vier Familien wäre in der Lage Stoff für einen Film wie Die papierene Brücke zu liefern. Auch Zorros Bar Mizwa bleibt letztlich nicht unbehelligt von den Sedimentschichten der Vergangenheit, wenngleich Beckermann zu selten, auf das Leben außerhalb der soziokulturellen Blase verweist, in der es sich der Film bequem gemacht hat.

Zorros Bar Mizwa von Ruth Beckermann

Zorros Bar Mizwa ist keine reine Milieustudie oder Reportage über lebendiges jüdisches Brauchtum in Österreich. Neben den vier Kindern steht noch eine weitere Figur im Zentrum des Films. André Wanne ist auf das Filmen von Hochzeiten, Bar Mizwas und anderen jüdischen Feierlichkeiten spezialisiert. Er war Ausgangspunkt für Beckermanns Recherchen zum Film und über seine Arbeit nähert sie sich den Familien. Neben dem Festhalten der Ereignisse zu Erinnerungszwecken fertigt André auf Anfrage auch kleine spielfilmartige Clips an, in denen die Feiernden sich durch eine Art Rahmenerzählung präsentieren. Für Tom fertigt André einen Film über Wien für seine israelischen Verwandten an, mit Sharon produziert er einen Zorro-Imagefilm mit dem Jungen in der Hauptrolle. Beckermann interessiert sich neben der religiösen Praxis zu gleichen Teilen für ihre Medialisierung. Andrés Filmchen und deren Entstehungsprozess stehen gleichberechtigt neben den Vorbereitungen für die vier Feste. Er dient Beckermann zudem als wichtiger Gesprächspartner, den kaum ein anderer hat einen besseren Überblick über die unterschiedlichen Ausprägungen des Judaismus in Wien und kommt deren unterschiedlichen Interpretationen religiösen Lebens näher. Was er nicht imstande ist zu leisten, ist eine Reflexion seiner eigenen Praxis des Bilderschaffens. Diese Aufgabe nimmt ihm Beckermann kurzerhand ab: ein nicht zu unterschätzender Aspekt von Zorros Bar Mizwa ist die Offenlegung und Kritik an Produktion und Konsum zeitgenössischer Bildmedien.

Beckermann beschränkt sich dabei auf eine amüsierte Zurschaustellung von Andrés eher unbeholfenen Versuchen als Spielfilmregisseur und der Einbindung seiner Clips in den Film, die wohl für eine dramaturgische Auflockerung sorgen sollen, aber nicht viel mehr als peinlich-berührtes Fremdschämen hervorrufen. Man wünscht sich eine Diskussion ikonoklastischer Tendenzen in den abrahamitischen Religionen oder eine Thematisierung der damals in den Kinderschuhen steckenden sozialen Medien, die in den Folgejahren zu einer wahren Bilderflut an Selbst- und Fremddokumentationen des Alltagslebens führen sollte. Auf all das verzichtet Beckermann zugunsten einer erzählerischen Leichtigkeit, die sich mit aller Kraft gegen die gewaltigen Schatten der (jüdischen) Geschichte des 20. Jahrhunderts stemmt. Zorros Bar Mizwa ist letztendlich der Versuch Judentum im 21. Jahrhundert zu denken, zu leben und zu dokumentieren. Dementsprechend ist Zorros Bar Mizwa ein schwieriger Film, der sich womöglich doch nicht so einfach einfach ins Gesamtwerk Beckermanns einordnen lässt, wie der erste Absatz das vermuten lässt.

Dossier Beckermann: A Morning Stroll (Homemade)

Homemad(e) von Ruth Beckermann

ich – eine Fehlerquelle?

bin ich eine fabrik für fehlerloses
oder ein lokführer der in irgendein verdeben führt
höchstens verlocke ich leute gedichte anzuhören
produziere tränenflüssigkeit texte und allerlei dreck
schau ins narrenkastl
verlier was
vergiss was
sag etwas unbedacht
die perfekten werd ich schon nicht zufriedenstellen
zeit mich mit meinen fehlern auszusöhnen

(Elfriede Gerstl)

Homemad(e) von Ruth Beckermann

Ruth Beckermann zählt vor rund fünfzehn Jahren sechs Gastronomielokale in der Marc Aurel-Straße im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Nur ein kleines Geschäft verwies auf die Vergangenheit dieser Straße, die einstmals Zentrum der Wiener Textilbranche war (Straßennamen wie die angrenzende Tuchlauben erinnern noch heute daran). Die Marc Aurel-Straße hat sich seither weiter gewandelt und zum nördlichen Ausläufer des sogenannten „Bermuda-Dreiecks“, einer Ansammlung von Bars und Nachtlokalen, entwickelt. Würde man heute einen Film über diese Straße drehen, käme man nicht umhin das charmant-uncharmant heruntergekommene Retorten-Irish Pub Dick Macks, das wahrscheinlich beste französische Restaurant Wiens Le Salzgries oder die obskure Pizzeria del Popolo, die sich bei Einbruch der Nacht durch billigen Schnapspreise und laute Radiomusik zu einem Hotspot für Nachtschwärmer verwandelt, in Szene zu setzen. Das Café Salzgries oder Adi Dofts Textilladen, die beiden Hauptschauplätze des Films, sind hingegen heute Geschichte.

Ruth Beckermann schließt mit Homemad(e) an „die große Reise“ ihres letzten Films an, die sie in Ein flüchtiger Zug nach dem Orient auf den Spuren der Kaiserin Sisi nach Ägypten geführt hat. Sie setzt damit den rhythmischen Wechsel in ihrem Filmschaffen fort, der sie mal zur Erkundung der Fremde, mal zur Untersuchung ihrer unmittelbaren Umwelt bewegt. Diese Bewegung ist an eine Wechselwirkung gekoppelt, denn in der Fremde begibt sich Beckermann auf die Suche nach der eigenen Identität, während sie sich zuhause eher für das Vermischte und Fremde vor der eigenen Haustüre interessiert. Man könnte vielleicht auch sagen, dass sich diese beiden Bewegungen gar nicht so genau voneinander abgrenzen lassen. Ähnlich verhält es sich in ihren Filmen mit der Zeit: Die Vergangenheit wird immer auf ihre Auswirkungen in der Gegenwart hin befragt, die Gegenwart offenbart die Sedimentschichten der Vergangenheit, in jedem Fall wird eine äußerst komplizierte Verzahnung deutlich. Homemad(e) wirkt so zunächst als nostalgisches Festklammern an die Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit und entpuppt sich schließlich als Kommentar zu den großen gesellschaftlichen Veränderungen im Österreich der 90er und den daraus resultierenden politischen Verwerfungen (die bis heute nicht überwunden sind).

Am Anfang steht ein radikaler Schnitt. Beckermann verlässt die bunten und lauten Basare Kairos und dringt in einen Mikrokosmos ein, der sich bei genauerem Hinsehen als ebenso sonderbar entpuppt wie die ägyptische Großstadt. Einzig die Schauplätze sind andere: das Café Salzgries ist zentrale Anlaufstelle für das gesellschaftliche Leben des Viertels, fast wie am Basar wird hier debattiert und verhandelt. Beckermann interessiert sich zunächst vor allem für die Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, die Veränderungen der Straße, der Stadt und der Bevölkerung. Wie die gesamte Innenstadt Wiens hat sich auch dieses Viertel vom Wohnbezirk zum Geschäfts- und Tourismusviertel gewandelt und nicht ohne Wehmut erzählen die Stammgäste des Cafés und die Geschäftsleute der Straße von den alten Zeiten. Zugleich ist diese Annäherung an die Vergangenheit aber Momentaufnahme einer Gegenwart, die heute ebenfalls Vergangenheit ist. Beckermann ist Chronistin eines vergangenen, vielleicht sogar verlorenen Wiens und Österreichs. Wie auch Wien retour ist Homemad(e) ein Dokument, dass Orte und Kulturen zeigt und Menschen zu Wort kommen lässt, die schon bald aus dem Stadtbild verschwunden sein werden (oder es schon sind): die Innenstadt vor ihrer Verwandlung zum Freiluftmuseum, die mittlerweile fast abgeschlossen ist; das jüdisch-wienerische Idiom; das Kaffeehaus als soziale Institution.

Homemad(e) von Ruth Beckermann

Zweifelsfrei ist Homemad(e) ein Liebesgeständnis an eine Straße, die Zuhause geworden ist, ein tief persönlicher, aber auch geschichtsträchtiger Ort, der je nach Blickwinkel unterschiedliche Seiten zum Vorschein bringt, wie ein schillernder Kristall, der verschiedenartig angeblickt und bewundert werden kann. Die größte Leistung des Films ist möglicherweise das Multiperspektivische seiner Erzählung(en), die stets persönliche Schicksale, globale Geschichtsverläufe und zukünftige Entwicklungen miteinander verwebt. Dazu braucht es keine langen, akademischen Erklärungen zur Verzahnung von Geschichte und Geschichten, es genügt der Verweis auf die nahe Synagoge und die dortige Polizeipräsenz (das alle jüdischen Institutionen in Österreich und Deutschland bis heute Polizeischutz bedürfen ist ein beschämender und irritierender Befund für unsere Gesellschaft), den angrenzenden Morzinplatz, wo einstmals die Gestapo ihr Hauptquartier hatte, den römischen Kaiser, der im damaligen Militärlager Vindobona verstarb und der Straße seinen Namen gibt – ein Film als Kristall und als Sedimentanhäufung.

Die Filmemacherin arbeitet sich scheinbar mühelos durch diese Sedimentschichten, mit gewohnter Leichtigkeit und in ständiger Interaktion mit ihren Gesprächspartnern navigiert sie zwischen Gegenwart und Vergangenheit, abstrahiert mal auf das „große Ganze“ und führt an anderer Stelle auf persönliche Erzählungen zurück. Schlussendlich ordnet sich der Film nahtlos in das restliche Oeuvre Beckermanns ein, ganz ohne Verklärung und Nostalgie widmet er sich dann der politischen Gegenwart, der Angelobung der schwarz-blauen Regierung Schüssel, dem Höhepunkt einer politischen Entwicklung, deren Ausgang Beckermann bereits Ende der 80er in Die papierene Brücke dokumentierte, als sie eine Wahlkampfveranstaltung von Kurt Waldheim filmte. In diesen letzten Momenten wird deutlich, dass die Marc Aurel-Straße, der persische Hotelier, der jüdische Textilhändler, die freigeistigen Kulturschaffenden nicht zufällig Thema von Beckermanns Film waren. Die Faszination von Homemad(e) ist nicht auf das Lokalkolorit dieses Stadtviertels zurückzuführen, nicht auf die pointierten Erzählungen der Protagonisten, nicht auf die Unmittelbarkeit der Homemovie-Ästhetik, nicht auf die persönliche Note, die für emotionale Aufladung sorgt. Das sind alles nur Mosaikstücke, die in ihrem Zusammenspiel ein monumentales Bild zeichnen, das weit über die Grenzen des Viertels und die persönlichen Befindlichkeiten der Filmemacherin hinausgeht und dessen Bedeutung(en) facettenreich und wandelbar ist. Es ist gar nicht abzusehen – und das ist eine seltene Qualität –, welche neuen Sichtweisen der Film in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren offenbaren wird.

Dossier Beckermann: Orientalismus (Ein flüchtiger Zug nach dem Orient)

Ein flüchtiger Zug nach dem Orient von Ruth Beckermann

Ein flüchtiger Zug nach dem Orient von Ruth Beckermann

„Ich will zu Schiff die Meere durchkreuzen, ein weiblicher Fliegender Holländer, bis ich einmal versunken und verschwunden bin.“ (Elisabeth von Österreich)

Es existieren keine Fotografien oder Porträts der vorletzten österreichischen Kaiserin Elisabeth, auch Sisi genannt, die nach ihrem einunddreißigsten Lebensjahr angefertigt wurden. Was heute für eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens undenkbar scheint, geht auf eine bewusste Entscheidung der Kaiserin zurück. Das Bild ihrer legendären Schönheit sollte bewahrt bleiben, und nicht ihr Altern für die Nachwelt dokumentiert werden. Die zweite Lebenshälfte der Kaiserin ist durch ihre zunehmende Abschottung von der Öffentlichkeit geprägt und durch ihre fluchtartigen Reisen, die sie quer durch Europa geführt haben. Eine Rekonstruktion dieser Zeit gestaltet sich schwierig, da Sisi es vermieden hat aufzufallen und grundsätzlich inkognito reiste. Spärliche schriftliche Aufzeichnungen wie die Reisetagebücher der Kaiserin und ihrer Begleiter müssen genügen, um sich ein Bild von den Unternehmungen und vom Seelenleben Sisis zu machen. In einer ironischen Wendung des Schicksals hat diese spärliche Quellenlage den Mythos und das Interesse an der öffentlichkeitsscheuen Kaiserin erst recht befeuert.

Das Leben Sisis wurde filmisch unzählige Male aufgearbeitet – am publikumswirksamsten durch die Sissi-Trilogie mit Romy Schneider – doch meist handeln diese Filme von ihrer Jugendzeit. Ruth Beckermann interessiert sich in Ein flüchtiger Zug nach dem Orient hingegen für jene Jahre, in denen sich Sisi aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte und macht sich auf eine (filmische) Spurensuche. In gewisser Weise sieht sie in der Kaiserin eine Art Seelenverwandte. Beide Frauen haben durch Reise versucht ihre eigene Geschichte und ihr eigenes Selbst zu finden, Sisi flüchtete vor dem strengen Protokoll am Hof und familiären Tragödien, Beckermann versucht die prägende Tragödie des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten und ihre eigene Familiengeschichte zu entwirren. Auf den Spuren von Elisabeths Orientreise begibt sich die Filmemacherin nach Kairo und versucht dort der Stadt, ihren Bewohnern und auch der Kaiserin näherzukommen. In langen, unaufgeregten Travelings filmt sie die belebten Straßen Kairos, die Basare, Hotels und Gärten. Beckermann macht dabei nicht den Versuch konkrete Orte wiederzufinden, sondern nimmt das Kairo der späten 90er bewusst als einen anderen Ort wahr, als jene britische Kolonialstadt, die Sisi damals besuchte. Sie erschließt die Gassen und Plätze für sich selbst, versucht die Stimmung der Stadt einzufangen. Welche Wirkung mag das arabische Flair auf die Kaiserin gehabt haben? Ist es eine ähnliche Wirkung, wie Beckermann sie über hundert Jahre später spürt?

Ein flüchtiger Zug nach dem Orient von Ruth Beckermann

Während also die Filmbilder ein Porträt der Stadt in der Gegenwart zeichnen, dringt Beckermann im von ihr selbst eingesprochenen Kommentar in die Vergangenheit ein. Dieses Auseinanderdriften von Bild und Ton in Gegenwart und Vergangenheit ist eine wiederkehrende Strategie in Beckermanns Filmen: Man denke nur an den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann in Die Geträumten, der von Schauspielern ins Jetzt geholt wird, oder an die Erinnerungen aus dem Krieg, die in Jenseits des Krieges ganz ohne den Einsatz von Archivmaterial präsentiert werden. Beckermann fungiert dabei nicht als Chronistin Sisis, sondern eher als Kartographin ihrer Gefühlswelt. Mithilfe von Briefen, Tagebüchern, Gedichten, Erfahrungsberichten und Reiseaufzeichnungen versucht sie die Antriebe, Wünsche und Sorgen der Kaiserin zu erforschen. Immer klarer wird die Faszination, die Sisi auf Beckermann ausübt und der sie auf den Grund gehen will. Ein flüchtiger Zug nach dem Orient ist zweifellos ein sehr persönliches Projekt für die Filmemacherin, obwohl der Film auf den ersten Blick weniger mit ihrer eigenen Identität oder Geschichte zu tun hat, als beispielsweise Die papierene Brücke oder Nach Jerusalem. In einer doppelten Bewegung versucht sie diese andere, längst tote, Frau zu verstehen, aber auch sich fernab der Heimat selbst näherzukommen. Ihre eigene Reise soll nicht Sisis Reisen in den Orient nachzeichnen, sondern sie unternimmt den Versuch ein Gefühl zu evozieren, was Sisi zu und auf diesen Reisen bewegt haben könnte – deshalb bleibt der Film über seine Bilder stets in der Gegenwart verankert. Schließlich hinterfragt Beckermann, warum es denn überhaupt eine solche Reise in die Fremde braucht, um sich selbst zu finden. In der Praxis des Selbstfindungstrips erkennt sie das gefährliche, (neo-)kolonialistische Spiel mit dem Exotischen. Zwar hat sie den europäischen Kontinent hinter sich gelassen, aber nicht die westlichen Projektionen auf die Fremde. Mit ihrer Flucht vor den Konventionen des Hoflebens in die verruchte Wildheit des Orients, reproduzierte Sisi gängige Vorstellungen und Konstruktionen über das Land und seine Menschen. Selbstkritisch erkennt auch Beckermann ihren Film als Spiel mit dem Orientalismus, die vielleicht entscheidende Erkenntnis ihrer Spurensuche ist also die Feststellung, dass man seiner eigenen Identität und Vergangenheit, und somit auch seiner kulturellen Sozialisierung, nicht entfliehen kann.

Dossier Beckermann: Am Anfang der Krieg (Jenseits des Krieges)

Jenseits des Krieges von Ruth Beckermann

Jenseits des Krieges ist in der offiziellen Filmographie der österreichischen Filmemacherin Ruth Beckermann als ihr siebenter Film angeführt. Zwanzig Jahre lang war Beckermann zu diesem Zeitpunkt bereits dabei die soziale und politische Geschichte Österreichs zu erforschen. Grob lässt sich Beckermanns Werk in drei Interessensfelder gliedern, die ineinander fließen: Judentum, Politik, Familie. Der Zweite Weltkrieg als einschneidendes Ereignis des 20. Jahrhunderts bringt diese drei Bereiche zusammen, weshalb er Beckermann in vielen Filmen als Ausgangspunkt dient. Ihre eigene (jüdische) Identität, ihre Familiengeschichte ist eng mit dem Krieg und dem Holocaust verknüpft, gleichzeitig ist Politik, und das machen ihre Filme deutlich, als gesellschaftliche Praxis bis heute stark durch die NS-Zeit, den Krieg und ihre Folgen geprägt. Beckermann interessiert sich dabei weniger für historische Quellenforschung, als für die Interaktion von Damals und Heute. Die historische Analyse wird immer an die Gegenwart rückgebunden, dementsprechend oft handeln ihre Filme von Rückkehr und Vergangenheitsbewältigung, sowie von Projektionen von Geschichtsverläufen auf das aktuelle politische Geschehen.

Dieser Text steht am Anfang einer geplanten Reihe zum Werk von Ruth Beckermann. Womöglich wäre es angebrachter gewesen dieses Projekt mit einem Text zu Die papierne Brücke zu beginnen, Beckermanns filmischer Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte; oder aber chronologisch vorzugehen und ihre früheste Arbeit Arena besetzt an den Anfang zu stellen; ihr vielleicht poetischster Film (und einer meiner persönlichen Favoriten) Wien retour versammelt in den Erzählungen des Juden, Sozialisten und Rückkehrers Franz West mehrere zentrale Motive ihres Filmschaffens und hätte sich ebenfalls als Einstieg angeboten. Mit Jenseits des Krieges habe ich jedoch einen Film gewählt, der weniger paradigmatisch ist, einen Film, der sehr kleinteilig die Geschichte und die Volksseele Österreichs zu rekonstruieren versucht, und der nicht zuletzt vor allem durch seine formale Reduktion und Kompromisslosigkeit hervorsticht. Ausgehend von diesem mikrokosmischen Film möchte ich mich in den nächsten Wochen und Monaten weiter mit dem Werk Ruth Beckermanns beschäftigen, die für mich in ihrer filmischen Haltung, in der Klarheit ihrer Argumentationsführung und in der Konsequenz ihrer Werke zu den zentralen Gestalten der österreichischen Filmwelt zählt.

Jenseits des Krieges von Ruth Beckermann

„Da sind sie wieder, die Männer, die ich vor zehn Jahren während des Waldheim-Wahlkampfes drehte. Ich kann sie nicht mehr hören. Ich will ihnen nicht das Wort geben.“

1995 findet in Wien eine Ausstellung zu den Kriegsverbrechen der Wehrmacht statt. Mit einiger Verspätung hatte in den Achtzigern, befeuert durch die Waldheim-Affäre, die Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich Fahrt aufgenommen. Ruth Beckermann war damals schon als Filmemacherin aktiv, hatte sich zur Zeit der Proteste gegen Waldheim unter die Demonstranten begeben und Material gefilmt, dass sie zum Teil für Die papierne Brücke verwendete. Diese Aufnahmen zeigen Ewiggestrige, die sich gegen eine Aufarbeitung der Vergangenheit und gegen jede Form von Kritik an Waldheim stellen – der Schluss liegt nahe, dass sie selbst etwas zu verbergen haben. Knapp zehn Jahre später bietet die obengenannte Ausstellung Gelegenheit sich eingehender mit dem Verhältnis der Österreicher zu ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Die papierne Brücke hat gezeigt, dass der Antisemitismus in Österreich weiterhin lodert und dass eine umfassende Entnazifizierung (wenn überhaupt) nur auf dem Papier stattgefunden hat. In Jenseits des Krieges geht Beckermann einen Schritt weiter, konfrontiert noch einmal „die Männer, die ich vor zehn Jahren während des Waldheim-Walkampfes drehte“ und befragt sie nach ihren Erfahrungen, versucht zu erörtern, weshalb eine Aufarbeitung der Vergangenheit nicht in deren Interesse liegt.

Spartanisch macht sich Beckermann ans Werk. In den Ausstellungsräumen selbst trifft sie auf die Besucher, sucht nach Zeitzeugen und befragt sie vor laufender Kamera. Nie entfernt sich die Kamera von den Menschen, ein paar Mal schwenkt sie zwischen unterschiedlichen Gesprächspartnern, die Ausstellungsobjekte sieht man nur fragmentarisch und unscharf im Hintergrund. Die gealterten, eingefallenen Gesichter der Weltkriegsveteranen erscheinen meist in Großaufnahmen, wie man sie aus Fernsehreportagen kennt; das grelle Museumslicht und das harte Weiß der Wände lässt die Bilder oftmals schlampig und verschwommen wirken; auf technische Brillanz wird hier bewusst zugunsten von Unmittelbarkeit verzichtet. Über ein Monat drehte Beckermann im Herbst 1995 in den Ausstellungsräumen, für den Film konzentrierte sie ihr Material auf knapp zwei Stunden, die ganz ohne Übergänge, ohne (Ab-)Lenkung und ohne Kommentar auskommen. Der Film ist ein kompromissloses Kondensat von Bitterkeit, Trauer und Ambivalenz und dabei vielschichtiger und weniger einseitig, als man das angesichts der oben zitierten Produktionsnotiz vermuten würde. Neben den Alt-Nazis und Apologeten der Wehrmacht trifft Beckermann auch auf jüdische Kriegsopfer, auf ehemalige Soldaten, die sich ihrer Mitschuld sehr wohl bewusst sind und auf solche, die sich nach fünfzig Jahren mit Grauen fragen, wie es damals dazu kommen konnte, und wie man das verhindern hätte können, aber glaubhaft vermitteln, dass ihnen bis heute die Antwort auf diese Fragen fehlt. Wenn es in Die papierne Brücke noch so schien, als wäre die Welt einfach in unverbesserliche Ewiggestrige und reuige Aufgeklärte aufzuteilen, so zeichnet Jenseits des Krieges ein ganz anderes Bild.

Jenseits des Krieges von Ruth Beckermann

„Zwischen Verhör und Mitleid. Ich muss mir den kalten Blick bewahren. Wie filmt man Feinde?“

Formal-ästhetisch und dramaturgisch macht Beckermann keinen Unterschied zwischen den Rechtfertigungen der Einen und den Selbstvorwürfen der Anderen. Auch deshalb lassen sich manche dieser Interviews nur schwer einer der beiden Kategorien zuordnen. Im ersten Moment klingt manches wie ein Schuldgeständnis und endet in einer Beteuerung nichts gewusst und gesehen zu haben. Diese altbekannten Ausreden erregen die Gemüter, nicht nur des Zusehers, sondern auch die der anderen Besucher. Vor allem die Ausflüchte auf die Verbrechen der Roten Armee, die gegen jene der Deutschen Wehrmacht aufgewogen werden, und die Beteuerungen des eigenen Unwissens stoßen anderen Besuchern oft sauer auf, die dazwischen gehen und Beckermanns Gesprächspartner ihrerseits zur Rede stellen. Die Interviews entwickeln sich dann zu Streitgesprächen und erzählen von einer tiefen Zerrissenheit im Inneren der österreichischen Gesellschaft. In diesen Momenten wird am stärksten deutlich, dass es eine mehrheitsfähige Masse gibt, die sich nicht mit Verdrängung und Verweigerung zufrieden gibt. In diesen Momenten schöpft man Hoffnung, dass kritische Reflexion eine Chance hat und große Teile der Bevölkerung ihr langes, peinigendes Schweigen beenden wollen. Oft, so scheint es, kommt mit Beckermann ins Gespräch, wer sich nach Katharsis sehnt – die Filmemacherin als Therapeutin –, zum Teil geht es ihren Gesprächspartnern lediglich um Selbstinszenierung. Es ist dennoch so wichtig, dass sie einen objektiven, kalten Blick bewahrt, dass sie verständnisvoll zuhört, wenn aufgebrachte Töchter das Ansehen ihrer Väter beschmutzt sehen, wenn alte Männer unter Tränen von ihren grausamen Erfahrungen berichten, oder wenn ehemalige Frontsoldaten alle Verantwortung auf die Hinterlandstruppen abschieben. Sie alle tragen dazu bei, ein Mosaik aus individuellen Erzählungen zusammenzusetzen: offensichtlich war nicht die Mehrheit der Wehrmachtssoldaten an Kriegsverbrechen aktiv beteiligt; offensichtlich ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Kriegsverbrechen von den Soldaten nicht bemerkt wurden; offensichtlich können fünfzig Jahre Selbstbetrug und Verdrängung dazu führen, dass man sich tatsächlich keiner Schuld bewusst ist; offensichtlich ist die Überwindung des Kollektivtraumas NS-Zeit noch weit entfernt.