Tsai Ming-liang Retro: Madame Butterfly

Stilistisch auf völlig anderem Terrain als seine anderen Filme bewegt sich dieser zweigeteilte Kurzfilm von Tsai Ming-liang. Vielmehr gleicht „Madame Butterfly“, der als ein Projekt zum 150. Geburtstag von Giacomo Puccini entstand, einer Cinéma-Verité Übung in Schlichtheit, die es dennoch vermag, Gefühl zu tragen. Mit der gleichnamigen Oper des italienischen Komponisten verbindet den Film womöglich das Motiv des Wartens einer alleingelassenen Frau. Es geht um eine Frau am Bahnhof in Kuala Lumpur, sie möchte ein Ticket kaufen, hat aber zu wenig Geld. Was ihr eigentlich fehlt, ist ihr Liebhaber, der nicht erscheint am Bahnhof, der ihr nicht hilft, der nicht da ist, den sie anruft, auf den sie vergebens wartet. Offensichtlich wurde die Schauspielerin Perly Chua, die man unter anderem aus „I don’t want to sleep alone“ kennt in ein reales Setting geworfen, mit dem sie agieren musste. Mit einer Videokamera folgt ihr der Regisseur und keiner weiß, was passieren wird. Menschen starren verwundert in die Kamera, sie agieren anders mit der Schauspielerin als man erwarten kann. Aus dieser performativen Drehmethode entsteht eine Dynamik, die man unter anderem auch bei einigen Walker-Filmen von Tsai Ming-liang beobachten kann. Die Interaktion der Umwelt mit dem Film wird zu einem Faszinosum. Dabei kann man sich nie sicher sein, ob der Regisseur doch einige Statisten inszeniert hat. Er selbst gab in einem Gespräch zur Walker-Reihe zumindest bekannt, dass er keinerlei dokumentarischen Anspruch an diese Filme stelle.

In einer Szene möchte die Frau für ihr Ticket bezahlen. Sie legt ihr Geld auf den Tisch und stellt fest, dass es zu wenig ist. Dem Ticketverkäufer würde das aber reichen, ein Mann der die Situation mitbekommt, bietet ihr an für das wenige restliche Geld aufzukommen. Aber Perly Chua scheint einem unsichtbaren Script zu folgen. Sie sagt, dass sie nicht fahren könne, weil sie nicht genug Geld habe, weil ihr Mann es ihr bringen würde. Ob diese Situation gescriptet ist oder ob das Verhalten der Menschen überraschend kam, bleibt unklar. Jedenfalls impliziert dieses Verhalten, dass die Frau eigentlich gar kein Ticket möchte. Dadurch wird ihr Verlangen nach dem abwesenden Mann verstärkt. Die Situationen werden in ihrer voller Banalität und Präsenz eingefangen. Es gibt keine Dramatisierungen oder aufgedrückte Nuancen, sondern alles entsteht im Flow der Longtake-Kunst.

Madame Butterfly

Damit ist „Madame Butterfly“ trotz seiner scheinbaren Unterschiedlichkeit zum restlichen Oeuvre des Regisseurs Ausdruck seiner Fähigkeiten. Gerade dadurch, dass die ästhetische Schönheit einer dokumentarischen Banalität weicht, wird der Blick auf den Kern des Filmschaffens von Tsai Ming-liang frei. Seine Gefühle speisen sich nämlich keineswegs aus einer Manipulation der Welt, sondern aus ihrer Betrachtung. Statt unseren Blick zu lenken, lenkt er ihn ins Schweifen. Unsere Augen vollziehen die Schwenks, sie werden überfahren, um zu leuchten. Wir sind es, die seine Geschichten füllen mit unseren Gefühlen. Er gibt uns simple Situationen, die wir so oder anders kennen und lässt uns daran teilhaben. Nicht im Sinne einer Agitation, die uns handeln lässt, sondern in Form einer Initiierung unserer eigenen Erinnerungen und Gefühle. Er zwingt einen förmlich dazu, den Kopf beim Schauen auszuschalten und sich der eigenen Melancholie, Nostalgie und Gefühlswelt hinzugeben. Dadurch wird er zum Filmemacher des Bedauerns. Man beginnt sich selbst zu bedauern. Damit meine ich, dass man sich selbst auflöst und nur noch zwischen Augen/Ohren und Gefühl existiert. In seinen anderen Filmen wird der Effekt durch seine außerordentliche Bildgestaltung, seine poetische Lichtsetzung und sein aufregendes Sound-Design nur mehr verstärkt, sodass die Tränen seiner Figuren von der Leinwand auf uns tropfen.

Die Begeisterung für die ausgebleichte Videoästhetik ist dem Filmemacher jedenfalls nicht verloren gegangen. Und so folgt er seiner Protagonistin hektisch über den belebten Bahnhof in einer zunächst ewigscheinenden Irrbewegung gleich eines inneren Labyrinths ohne Ausweg. In gewisser Weise ist dieser Film bereits ein Walker-Film, er könnte aber auch als Spin-Off von „I don’t want to sleep alone“ verstanden werden oder nicht. Später, der klaren Zweiteilung folgend liegt die Frau auf einem Bett. Schatten und Sonne tanzen auf ihrer Haut und den Laken. Die Handkamera fängt die Schönheit ein, will aber nicht jene stilisierten in die Leinwand gemeißelten Bilder provozieren, die man so häufig bei Tsai Ming-liang sieht. Dennoch erzählt er wieder von Einsamkeit und Isolation. Die Frau streckt ihre Hand aus und verbleibt in einer Position des puren Longings.

Tsai Ming-liang Retro: Rebels of the Neon God

“Rebels of the Neon God” ist ein Kleinganoven Neonlicht-Märchen, das die Geschichte um Tsai Ming-liangs Antoine Doinel, Lee Kang-shen/Hsaio-kang weiter treibt und dabei einen jugendhaften Charme irgendwo zwischen Martin Scorsese und „Chungking Express“ von Wong Kar-wai versprüht. Die Auseinandersetzung mit einer entfremdeten Jugend markiert den ersten Schritt des Regisseurs hin zu einem sinnlichen Formalismus, der seine späteren Werke prägen wird. Fast als ein Portrait der Jugend an sich mag man dieses ziellose Herumhängen zwischen den Spielautomaten (Neon Gods) betrachten, eine Gleichgültigkeit entfaltet sich, die Hsiao-kang dazu verleitet einen etwa gleichaltrigen Rebell zu stalken. Das alles führt in Gewalt. Es ist daher auch keine Besonderheit, dass Lee Kang-sheng in einem Bild, vor einem Poster von James Dean zu sehen ist. Zwar hat Nick Pinkerton, als er die Nicholas Ray Züge bei Tsai Ming-liang unter die Lupe nahm zurecht davon gesprochen, dass Hsiao-kang mehr dem Sal Mineo Charakter aus „Rebel without a cause“ entspricht als jenem von Dean, aber dennoch trifft der Kern des Films jenes leidende durch das Leben Torkeln, für das James Dean noch heute steht.

So hängen die Zigaretten aus den offenen Mündern, die Lederjacken werden zurechtgerückt und Blicke voller Neugier, Scham und Verachtung werden geworfen. Der Regisseur selbst betrachtet seine Figuren aber als Humanist und damit geht er auf derselben Linie wie sein offensichtliches Vorbild François Truffaut. Er umarmt die Schwächen und Brutalitäten seiner Figuren, er blickt auf ein Außenseiterdasein als Sympathisant. Die Vergleiche, die zwischen Tsai Ming-liang und Michelangelo Antonioni (auch von mir) bemüht werden, sind daher größtenteils haltlos. Denn dort wo Antonioni den Blick seiner Figuren übernimmt, ihre Entfremdung als Teil seiner filmischen und ihrer Weltsicht umsetzt und die Bilder als innere Bilder (fast gleich eines durchgehenden POVs) seiner Figuren auf die Leinwand malt, da ist Tsai Ming-liang ein dritter Beobachter von menschlichen Umgebungen, der portraitiert statt eindringt und dessen Entfremdung nie in seinen Bildern von Menschen ankommt, da dort immer Sinnlichkeit und Gefühl herrscht. Einzig in der fremden Architektur finden sich Parallelen, allerdings ist der Blick von Tsai Ming-liang auf seine Stadt immer ein allgemeiner, während der von Antonioni von seinen spezifischen Figuren ausgeht.Das bedeutet nicht, dass die städtische Entfremdung bei Tsai Ming-liang nicht auch von seinen Charakteren erlebt wird. Allerdings schreibt er in seine Filme das Bild einer Entfremdung auf der Haut seiner Figuren ein, während Antonioni die nackte Entfremdung zeigt.

Rebels of the Neon God

Auffällig ist, dass es ein komponiertes musikalisches Thema gibt. Verwendet Tsai Ming-liang sonst gar keine („The River“), diegetische („I don’t want to sleep alone“) oder verfremdete („The Hole“) Musik, so probiert er sich hier an einem klassischen Stimmungsscore. Dieser trägt viel zur Neon-Fuck-You Stimmung dieser Pop-Poesie bei. Sein Drehbuch wirkt deutlich forcierter. Die Szenen sind alle wie ein Teil einer großen Idee, fast ein moralischer Impetus unterliegt dem Märchen voller Kleinkriminalität. Die Ellipsen anderer Filme des Regisseurs gibt es hier kaum. Einzig in der Beziehung zu seinen Eltern, die ja über zahlreiche Filme weiter erforscht wird, findet er zu der Tiefe, die man von ihm gewohnt ist. Die Eltern selbst leben in einer Mischung aus Wut, Angst, Verzweiflung und Zuneigung zu ihrem Sohn. Wie auch in „The River“ und „What time is it there?” wird der buddhistische Glaube in ein absurdes Extrem geführt. Diesmal glaubt die Mutter, dass ihr Sohn ein wiedergeborener Prinz ist. In einer stillen Autofahrt mit Vater und Sohn wird eine Nähe erzählt, die mit Worten nicht möglich wäre.

Zwischen alldem leuchten die Neonlichter und poetische Scooterboys driften durch urbane Gassen, das Wasser hängt in der feuchten Luft, dringt selbstverständlich auch in Wohnungen ein, fast losgelöst vom Leben bewegt sich hier eine Ästhetik durch eine Welt, die frisch und jugendlich wirkt, aber schon jene melancholischen Narben verzeichnet, die sich immer tiefer in die Wahrnehmung von Tsai Ming-liang einprägen werden. Seine Perspektivwechsel tragen die Atmosphäre auf höhere Ebenen. So bleibt er eine Weile bei der jungen Frau, die eine Beziehung zum Kleinganoven hat. Sie arbeitet an einer Eislaufstrecke, wirkt ziellos und ein wenig nymphoman. Bei ihr vollzieht sich die jugendliche Irritation in einer sexuellen Lust, die sich durch den ganzen Film zieht. Bei Hsiao-kang ist diese Lust selbst bezüglich des Geschlechts unentschieden. Es ist eine Neugier in diesem Film, die abgelassen werden muss und dazu werden unterschiedlichste Kanäle gefunden. Keiner aber führt zu Glück oder Erfüllung. „Rebels of the Neon God“ lässt einen dieses Verlangen nachempfinden, weil er sich nicht über seine jugendlichen Protagonisten stellt, sondern mit ihnen schwimmt.

Tsai Ming-liang Retro: The Skywalk is Gone

Der Kurzfilm „The Skywalk is Gone“ erzählt schon in seinem Titel vom verlorenen Verlangen, das dieser Kurzfilm beschreibt. Wenn es einen Brückenfilm gibt, dann ist es dieser Film, der zeitlich zwischen „What time is it there?“ und „The Wayward Cloud“ angesiedelt ist, also eine Brücke zwischen den beiden Filmen schlägt. Er tut dies, indem er das Fehlen einer Brücke thematisiert.

Dabei kehrt Shiang-chyi, die wir zuletzt schlafend und einsam in Paris gesehen hatten zurück nach Taipeh. Doch der Skywalk, auf dem sie den Uhrenverkäufer Hsiao-kang kennenlernte, existiert nicht mehr. Stattdessen steht sie verloren vor der Modernität riesiger Bildschirme und Werbetafeln. Tsai Ming-laing framed sie fast wie seinen langsam gehenden Mönch aus der Walker-Reihe als ein Individuum, das nicht mit der Welt mitgeht, sondern nur wie zufällig in ihr steht. Es vollzieht sich eine entfremdete Reise durch eine anders gewordene Stadt voller kleiner Momente und Absurditäten für die junge Frau. Dabei steht die Urbanisierung und Modernisierung von Taipeh im Zentrum. Wie so vieles bei Tsai Ming-liang basiert auch diese scheinbar symbolische Geschichte schlicht auf wahren Gegebenheiten, da der Skywalk nach dem Dreh von „What time is it there?“ tatsächlich abgerissen wurde. Die Bewohner der Stadt müssen sich inzwischen mit der Rationierung von Wasser herumschlagen, so auch Hsiao-kang, der vergeblich auf Wasser aus dem Wasserhahn wartet. Alles wird geregelt und normiert. Einmal begeht Shiang-chyi den Fehler, die Straße an einer nicht vorgesehenen Stelle zu überqueren. Zusammen mit einer anderen Frau und dem mysteriösen Koffer, der in der Trilogie immer wieder auftaucht, wird sie von einem Polizisten angehalten. Dabei verliert sie ihren Ausweis lange nachdem sie ihre Identität nicht wiedergefunden hat. Man hat das Gefühl, dass diese Frau nicht nur nach sich selbst sucht, sondern auch nach ihrem Verlangen. Die Schwierigkeiten mit dem Gefühl in der verschwindenden Stadt, an deren Horizont schon wieder eine Anarchie wartet, die sich nicht wie in „The Hole“ als Taiwan Fever, sondern als anhaltende Dürre entpuppen wird, sind omnipräsent.

The Skywalk is Gone

Den wirklich tragischen Moment hebt sich der Film aber auf, denn später werden die beiden Protagonisten aneinander vorbeigehen. Hier erreicht die Art of Almost von Tsai Ming-liang einen überraschend wenig subtilen, aber dramatischen Höhepunkt. Hsiao-kang bleibt lange stehen nachdem er und Shiang-chyi auf einer Treppe im Untergrund aneinander vorrübergingen. Die Treppe erinnert an jene aus „The Journey to the West“, die sich der Walker-Mönch herunterkämpft unter den verwunderten Blicken der passierenden Menschen. Es ist eine Treppe, die zwei getrennte Welten anzeigt. Hsaio-kang scheint sich nicht sicher nachdem Shiang-chyi an ihm vorbeiläuft.Er steht, passiv und schüchtern wie man ihn kennt, hat er sie erkannt? Alles, was diese Figuren gesucht haben, haben sie nicht erkannt, als sie es gefunden hatten. Später wird er seine Karriere in der Pornoindustrie beginnen und eine eigenartige Wolke schiebt sich am Himmel vorwärts, sie wird wie wir wissen kein Wasser bringen. Wenn die großen Bildschirme auf den Hochhäusern das Kino ersetzen, wenn Idealbilder von Frauen statt „Dragon Inn“ über die Leinwände des städtischen Lebens huschen, dann wird klar, dass hier nicht nur die Brücke, sondern auch die Zeit selbst verschwunden ist. Jene Zeit, die in der Lage ist, Gefühle zu tragen. Das spannende daran ist, dass nicht jeder Zuseher wissen kann oder erkennen kann, was die junge Frau eigentlich sucht. Es vollzieht sich also eine ziellose Suche vor den Augen jener Zuseher, eine Drifterbewegung, die verstärkt wird von jenen scheinbar so unpassenden Popsongs vergangener Zeiten, die wie so oft in den Filmen von Tsai Ming-liang zu hören sind.

The Skywalk is Gone

Dennoch sei gesagt, dass sich „The Skywalk is Gone“ trotz seiner formalen Stärke, die sich in einer greifbaren Stimmung städtischer Verirrung manifestiert einige Probleme bezüglich seiner Rolle im Gesamtwerk des Regisseurs aufweist. Zum einen raubt er den beiden Geschwisterfilmen und auch vielen anderen Filmen rund um Hsiao-kang einiges von ihrer elliptischen Kraft. Die plötzliche Klarheit bezüglich der Figuren schmerzt. Aus persönlicher Sicht habe ich immer genossen, nicht zu wissen, ob die Figuren auch wirklich die Figuren aus den vorherigen Filmen waren. Die kleinen Hinweise und Momente habe ich als deutlich eleganter wahrgenommen als diese klare Überbrückung einer Zeit, die sonst ausgereizt oder ausgelassen wird bei Tsai Ming-liang. Außerdem treten hier die bemüht-narrativen Züge hervor, die auch in dem einen oder anderen Frühwerk durchscheinen. Statt einer Meditation über Figurenkonstellationen und ihre Umwelt findet man sich dann plötzlich in einer relativ klassischen Langzeitfiktion irgendwo bei Satyajit Ray oder François Truffaut wieder. Das ist keineswegs schlimm, aber es zeigt sich, dass sich in der Wahrnehmung eines Regisseurs bei einer derart geballten Sichtung seiner Werke Risse auftun können, die man anders kaum bemerken würde.

Tsai Ming-liang Retro: Goodbye, Dragon Inn

Am Anfang des Films steht eine Sequenz nicht unähnlich jener von Leos Carax in “Holy Motors”. Durch einen Vorhang späht jemand in den Kinosaal, in dem King Hus „Dragon Inn“ zu sehen ist. Einige wenige schemenhafte Gestalten geistern durch das fast leere Kino. Da sind eine hinkende Ticketabreißerin auf der Suche nach dem Projektionisten, ein älterer Herr mit einem kleinen Jungen, eine aufgetakelte junge Frau, ein steifer Herr und ein verirrter Japaner, der auf der Suche nach einem homosexuellen Kick zwischen Toilette und Kinosaal pendelt. Die Gestalten sind größtenteils stumm, denn das Kino spricht. Der Soundtrack des Films sorgt für die Stimmung des Films. Etwas scheint übergeblieben zu sein, aus dieser längst vergessenen Zeit des Kinos. Tsai Ming-liang erzählt in „Goodbye, Dragon Inn“, den man fast als Spin-Off von „What time is it there?“ bezeichnen könnte, von einem weiteren Geist: Diesmal ist es nicht sein Vater, sondern das Kino (seines Vaters). Anders als Carax verlässt Tsai Ming-liang das Kino mit seinen Bildern nicht. Einzig der Regen dringt von außen in die abgeschlossene Welt der toten Bilder auf der Leinwand.

Goodbye Dragon Inn

In einer der schönsten Einstellungen der Dekade führt Tsai Ming-liang den melancholischen Filmvorführer, der von seinem Lee Kang-sheng (in Tony Leung-Mood) verkörpert wird ein. Eine Einstellung irgendwo zwischen Jean Cocteau und Charles Laughton zeigt ihn in einem Gang links oben auf der Leinwand, während in der Mitte des Bildes schwebende Fetzen von der Decke hängen wie die nicht-greifbaren Geister einer vergangenen Zeit. Später wird der Vorführer dem Japaner sagen, dass es Geister gibt im Kino: „This theater is haunted.“ Und man beginnt sich zu fragen, ob es sich dabei um die Mitarbeiter, die Besucher oder alles zusammen hält. Es ist spannend, dass der Regisseur ausgerechnet die heute aussterbende Gattung des Filmvorführers mit dieser Konnotation belegt. Er ist es doch, der die Bilder wirklich berühren kann. Ein Fluch liegt auf dem Kino, ein Fluch, der dem Kino nichts von seiner Schönheit nimmt. Die Bilder dringen durch ein Gitter und beleuchten das Gesicht der Ticketverkäuferin Chen Shiang-chyi. Wir alle waren schon in „Goodbye, Dragon Inn“, in fast leeren Kinosälen alleine mit unserer Erinnerung und Wünschen. In diesem Film bezieht sich die Sehnsucht auf das Sehen selbst.

Eine ähnlich absurd-unheimliche Stimmung wählte auch Lisandro Alonso in seinem „Fantasma“. Dort lässt er seinen Hauptdarsteller Argentino Vargas in eine merkwürdige Premiere ihres gemeinsamen Films „Los Muertos“ gehen. Bei Alonso sind es seine eigenen Bilder, die würdevoll und doch verloren über die Leinwand eines unheimlichen Kinos laufen, wogegen Tsai Ming-liang die historischen Bilder des asiatischen Kinos verwendet. Bei Alonso doppelt sich der Blick des Zuschauenden, als er sich-nicht wesentlich jünger-auf der Leinwand erkennt (Hier mein Essay zum Thema des Spiegels auf der Leinwand), bei Tsai Ming-liang scheinen diese Bilder schon fast ein Eigenleben zu führen. Miao Tien und Shih Chun allerdings sitzen im Kino. Sie spielten auch in „Dragon Inn“. Sie sehen anders aus und betrachten ihre eigene Vergangenheit vor sich. In diesem Moment wird die Zeit sich ihrer selbst bewusst und die Sterblichkeit des Kinos/der Erinnerung wird klar. Wenn sich niemand dafür interessiert, gibt es auch keine Bilder. Sind diese beiden Männer die Geister des Kinos? Vor kurzem habe ich einige Fotos des Life-Magazins von Cannes Festspielen der 60er Jahre gesehen. Auf einem war eine Schauspielerin zu sehen, die offenbar sehr beliebt war. Zig Fotografen versammelten sich aufgeregt um sie und lechzten nach ihren Posen am Strand. Doch unter dem Foto stand, dass der Name der Schauspielerin verlorenen gegangen sei. Nur im Gedächtnis des Bildes kann ihr Ruhm und ihre Bedeutung gespeichert werden, nicht aber in Kultur und Gesellschaft. „Goodbye, Dragon Inn“ erzählt von der verlorenen Zeit des Kinos, nicht des Films. Am Ende wird dieses geschlossen, the last picture show, eine Einsamkeit im Regen, dieses Kino ist ein Mensch wie jeder andere in der Großstadt von Tsai Ming-liang: Verloren, einsam, entfremdet und in seiner absurden Existenz bedroht.

Tsai Ming-liang Retro: I don’t want to sleep alone

“I don’t want to sleep alone” ist ein Film voller magischer Momente. Einmal sitzt ein Schmetterling auf der Schulter von Lee Kang-sheng, der angelnd in einem Ruinengebäude voller Wasser sitzt. Der Schmetterling und der Schauspieler tauschen einen langen Blick aus, dann hebt das Wesen ab und fliegt durch das totale Bild, in das Tsai Ming-liang schneidet. Er fällt auf das Wasser, erhebt sich nochmal, fällt wieder. Ein junger Migrantenarbeiter aus Bangladesch kommt voller Sehnsucht ins Bild und betrachtet Lee Kang-shen wie der Schmetterling vor ihm. Langsam geht er nach vorne und setzt sich neben den Angler. In der Making-Of-Dokumentation „Sleeping on Dark Waters“, die ebenfalls im Programm der Wiener Festwochen im Stadtkino zu sehen ist, kann man sehen wie die Illusion des Schmetterlingsmoments erzeugt wird. Aber selbst in der Offenlegung seiner Illusionen findet Tsai Ming-liang noch Poesie.

Lee Kang-shen spielt zwei Rollen in „I don’t want to sleep alone“, denn neben dem wortkargen Streuner, stellt er auch einen Patienten im Koma dar, der von zwei Frauen gepflegt wird. Es gibt also zum einen jenen Mann, der ohne wirklichen Grund zusammengeschlagen wird, um dann von dem sinnlichen Arbeiter auf wechselnden Matratzen gepflegt zu werden und jene des dahinsiechenden Mannes, der sich nicht mehr bewegen kann und der dennoch begehrt wird, neben dessen Bett Opernmusik erklingt aus einem Ghettoblaster (der Film ist einer von sieben Projekten des New Crowned Hope, das in Wien zum 250. Geburtstag von Mozart gestartet wurde, kein Wunder also, dass das Klänge aus der Zauberflöte zu hören sind). Die beiden Geschichten beginnen sich zu überlagern, genau wie die Vergangenheit, die Gegenwart und die Begierde. Eine flirrende Traumwelt inmitten einer sozialen Realität: Was Tsai Ming-liang hier inszeniert ist eine Dreiecksgeschichte, die keine zeitlichen, sexuellen oder narrativen Grenzen kennt. Wortkarg und hypnotisch vollziehen sich die Bilder, lange Blicke, die sich selten treffen, kurze Momente des sexuellen Ausbruchs und anschließende Stille und Einsamkeit. Häufig ein Schnitt, der den Zuseher scheinbar weg vom Geschehen führt. Doch dann sieht man, dass die Handlung weitergeht, sie hat sich nur an den Rand des Bildes gedrängt, in den Hintergrund. So erfährt man nicht nur eine neue Perspektive, sondern auch ein neuerliches Verlangen scheinbarer Randfiguren, die ansonsten in der urbanen Wüste mit ihren vom Verfall bedrohten Brachgebieten völlig verloren wären. Die Kamera schenkt ihnen einen Moment Zärtlichkeit.

I don't want to sleep alone

Tsai Ming-liang macht ein Kino des Unsichtbaren zwischen den Figuren. Er malt ein Gefühl in seine Bilder. Wie die Verbindungen zwischen den Figuren erklärbar sind, spielt hier eine äußerst geringe Rolle. Es schlagen zwei Herzen (nicht mehr schnell, aber sie schlagen) in diesem Film und es ist sicher nicht irrelevant, dass „I don’t want to sleep alone“ eine Rückkehr des Regisseurs in seine Heimat Malaysia bedeutet. Sein Blick auf die Grausamkeiten der Zustände dort mag ein wütender und politischer sein, einer der die sozialen Ungerechtigkeiten einer Gesellschaft zeigt, nicht kommentiert. Die Fremdheit, die er in seiner eigenen Existenz als Migrant erlebt, vollzieht er auch in seinen Filmen. Daher ist die Stille seiner Figuren auch immerzu ein Kommentar, eine Haltung zum Leben. Allerdings vollziehen sich im Nebel und im Smog der verpesteten Luft auch Momente der Zufriedenheit, sie geben ein mystisches Versteck, eine Entfremdung, die nicht das Gefühl stoppt. Anders also wie in Michelangelo Antonionis „Il deserto rosso“ wird die Entfremdung von der Umwelt nicht automatisch zu einer Entfremdung gegenüber den Mitmenschen. Zwar sind alle Figuren in ihrem eigenen Gefängnis, aber sie finden sich in Momenten, in denen sie sich durch die Zeit treiben lassen wie in der letzten Szene, ein Traumbild oder eine Weltwahrnehmung, Wunsch oder Realität, es spielt keine Rolle, denn alles fließt.

Einmal treffen sich die Blicke der beiden Figuren von Lee Kang-shen. Es könne der Traum des Komas oder der Albtraum des bei Bewusstsein seienden Mannes sein, eine dunkle Vorahnung, die Bewegung ersticken wird, eine Verlangsamung, die immer entscheidender wird im Kino von Tsai Ming-liang. Die Schönheit nicht des Augenblicks, sondern des verweilenden Blicks lässt etwas im Bild selbst entstehen, das man nicht greifen, aber sehr wohl erfühlen kann. Wenn man im Kino noch träumen will, dann ist dieser Film eine Matratze, auf der man nie alleine schläft.

Tsai Ming-liang Retro: The Hole

Der Regen aus Akira Kurosawas “Rashomon” erscheint in dieser emotionalen Dürre, die sich zwischen Albert Camus’ „La Peste“ und einem Pop-Musical abspielt, wie ein harmloser Schauer. In „The Hole“ lässt Tsai Ming-liang abstrakte Ideen mit naturalistischer Bildsprache kollidieren. Da hängen dann Füße von der Decke, Männer kriechen in dunkle Löcher und zwischendurch gibt es wie auch in „The Wayward Cloud“ Musicaleinlagen.

Es geht um zwei Verbliebene in Zeiten einer Epidemie, dem sogenannten Taiwan Fever. Eigentlich hat die Regierung einen Evakuierungsbefehl ausgesprochen, aber ein Mann und eine Frau bleiben unbeeindruckt in ihren Wohnungen, die sich direkt übereinander befinden. Eines Tages inspiziert ein Handwerker die Wohnung des Mannes, um das Leck zu finden, das weite Teile des ganzen Hauses (wie man das so kennt von Tsai Ming-liang) überflutet. Dabei bohrt er ein kleines Loch in den Boden und verbindet dadurch die beiden Wohnungen. Lee Kang-shen, der den Mann spielt, ist fasziniert von diesem Loch. Er schaut hinein, übergibt sich darüber und drückt seine Zigarette darüber aus. Dadurch entsteht eine Beziehung.

The Hole

Wie so oft im Oeuvre des Regisseurs findet diese Beziehung innerhalb einer räumlichen Konstellation statt, die den Raum mal als Distanz, mal als Nähe bestehen lässt. In „The Hole“ wagt er sich in einem abstrakten Symbolismus, der nicht immer eindeutig ist, aber doch auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden kann. Der gesellschaftliche Aspekt der Epidemie, die von Kakerlaken übertragen wird, wird durch die zeitliche Verortung des Films an der Jahrtausendwende verstärkt. Das Interesse von „The Hole“ gilt auch einer post-industriellen Hybridgesellschaft Taiwans. Das Taiwan Fever scheint fast ein psychologisches Problem zu sein. Menschen beginnen auf dem Boden zu kriechen und sich in dunklen Löchern zu verstecken, die Häuser zerfallen und die Überlebenden werden alleine in ihrer Einsamkeit gelassen.

In langen Einstellungen wird die städtische Wohnung zu einem Gefängnis. Der donnernde Regen verstärkt dieses Gefühl. Neben dem schwachen Licht, gibt es in „The Hole“ vor allem Dunkelheit. Die Neonlichter der Stadt erreichen hier keine der Figuren. Im Minimalismus öffnen sich-wie Tsai Ming-liang auch selbst gesagt hat-immer wieder Möglichkeiten für die Sensationen des Lebens. Sei es ein Lichtstrahl oder eine ungewöhnliche Bewegung, alles bekommt hier eine Bedeutung. Der Film fokussiert sich wieder auf die Existenz selbst: Schlafen, Essen, Toilette. Das ist das Terrain des Regisseurs, auf dem sich ein dramatisches Gefühl abspielt, das über die bloße Mechanik der Vorgänge hinausgeht. Hier, so scheint man uns zu sagen, sind wir.

Doch „The Hole“ ist in vielerlei Hinsicht ein versöhnlicher Film. Zum einen ist er auch eine Ode an die Songs von Grace Chang, die vor allem in den 1950er Jahren in Hongkong-Muscials große Beliebtheit in Asien erlangte. Wie ein kontrastierendes Element wird hier ein gewisser Kitsch in die stille Verlorenheit geworfen. Die Schauspieler gehen in den Nummern over-the-top, wenn auch nicht so übertrieben wie in „The Wayward Cloud“. Zum anderen steht am Ende so etwas wie eine Vereinigung, eine Berührung. Ausgerechnet aus einem Loch kommt also die Wärme.