Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Maigret und der Regen

von Rai­ner Kienböck

„Am Sonn­tag – es war der 4. April – hat­te es um drei Uhr nach­mit­tags in Strö­men zu reg­nen begon­nen.“ Das ist der zwei­te Satz in Le char­re­tier de la «Pro­vi­dence» (Der Treid­ler der Pro­vi­dence), dem vier­ten Band in der Rei­he von Geor­ges Sime­nons Mai­gret-Roma­nen. Es ist nur ein will­kür­lich gewähl­ter Satz, ein Detail, aus einem der Kri­mi­nal­ro­ma­ne rund um den Pari­ser Kom­mis­sar Jules Mai­gret. Eben­so gut hät­te man aus einem ande­ren der ins­ge­samt 75 Roma­ne und 38 Erzäh­lun­gen zitie­ren kön­nen. Die Wahr­schein­lich­keit wäre dabei nicht gering, eine ande­re Stel­le zu erwi­schen, in der Kom­mis­sar Mai­gret den Samt­kra­gen sei­nes Man­tels hoch­klappt, um einem Wol­ken­guss zu trot­zen; oder in sei­nem Büro am Quai des Orfè­v­res Holz in den guss­ei­ser­nen Ofen legt, um sich nach einem lan­gen Außen­ein­satz zu wär­men; oder in irgend­ei­ner Hafen­stadt an der Atlan­tik­küs­te im dich­ten Nebel einen Ver­däch­tig­ten beschat­tet. Es wäre tat­säch­lich kei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung, eine Col­la­ge mit sol­chen Text­stel­len zusam­men­zu­stel­len. Kein Wun­der, bei einem Autor, der sich an ande­rer Stel­le (in Le prix d’un hom­me um genau zu sein) fol­gen­der­ma­ßen geäu­ßert hat: „Ich habe mein Leben lang den Nebel geliebt, weil er die Stadt oder das Land, die Flüs­se oder das Meer geheim­nis­voll umhüllt.“

Kurz­um, es ist nicht über­mä­ßig viel Asso­zia­ti­ons­ga­be von­nö­ten, um Sime­nons Kri­mi­nal­kom­mis­sar mit Regen, Nebel und Schlecht­wet­ter in Ver­bin­dung zu brin­gen. Man fin­det Ver­wei­se auf die­sen Zusam­men­hang in zahl­lo­sen Tex­ten über das Werk Sime­nons, ob in Stan­ley G. Eskins Bio­gra­phie über den Autor (Sime­non. A Cri­ti­cal Bio­gra­phy), oder in Patrick Marn­hams bio­gra­phi­schem Mach­werk The Man Who Wasn’t Mai­gret, oder im Nach­wort zur kürz­lich erschie­ne­nen deut­schen Erst­aus­ga­be des Pro­to-Mai­grets La mai­son de l’inquiétude. Dort beschreibt Dani­el Kam­pa – der frü­he­re Lei­ter des Mai­gret-Pro­gramms bei Dio­ge­nes, und nach Grün­dung sei­nes eige­nen Ver­lags nun­meh­ri­ger Rech­te­inha­ber und Ver­le­ger Sime­nons im deutsch­spra­chi­gen Raum – die Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Roman­fi­gur. Kam­pas Text, ein fei­nes Stück phi­lo­lo­gi­scher Detek­tiv­ar­beit, ist aber nicht nur des­halb inter­es­sant, weil er die The­se bestä­tigt, dass Mai­gret eine Figur des Regens und des Nebels ist, son­dern auch, weil er impli­zit eine Erklä­rung dafür mitliefert.

Die (von Sime­non selbst ver­brei­te­te) Legen­de besagt, dass er die Figur des Kom­mis­sars Mai­gret wäh­rend eines Auf­ent­halts im nie­der­län­di­schen Küs­ten­ort Delf­zi­jl erfun­den hät­te (aus die­sem Grund gibt es dort eine Mai­gret-Sta­tue). Ende 1929 war er mit sei­nem Boot auf den Kanä­len Frank­reichs, Bel­gi­ens und der Nie­der­lan­de unter­wegs. Auf­grund eines Lecks muss­te er in Delf­zi­jl eine län­ge­re Pau­se für Repa­ra­tu­ren machen. Wäh­rend er dort in einem Café saß, wäre ihm die Idee für den bul­li­gen Poli­zei­kom­mis­sar mit Pfei­fe, Melo­ne und dicken Man­tel gekom­men. So sei der ers­te, offi­zi­el­le Mai­gret-Roman Pietr-le-Let­ton entstanden.

Nun muss man wis­sen, dass es Sime­non mit bio­gra­phi­schen Details sei­nes Lebens nicht immer so genau nimmt. Wenn man sich – wie es sei­ne diver­sen Bio­gra­phen getan haben – durch die tau­sen­den Sei­ten auto­bio­gra­phi­scher und semi-auto­bio­gra­phi­scher Schrif­ten wühlt, stößt man auf zahl­lo­se Wider­sprü­che. Minu­ti­ös schil­dert Kam­pa im oben genann­ten Nach­wort, war­um Sime­nons eige­ne Geschich­te nicht stim­men kann. Pietr-le-Let­ton sei ver­mut­lich in Paris ent­stan­den und die Figur des Mai­gret war nicht das Ergeb­nis eines Geis­tes­blit­zes, son­dern wur­de von Sime­non in mühe­vol­ler Klein­ar­beit kon­stru­iert: Vor­gän­ger Mai­grets, die sei­nen Namen oder zen­tra­le Merk­ma­le mit ihm tei­len, kom­men schon in zahl­rei­chen frü­he­ren, noch unter Pseud­onym ver­öf­fent­lich­ten Roma­nen vor.

Das nie­der­län­di­sche Delf­zi­jl kann somit nicht wirk­lich als Geburts­ort Mai­grets bezeich­net wer­den. Aber die geo­gra­phi­sche Rich­tung stimmt. Mai­gret ist eine Figur des Nor­dens. Ent­stan­den auf lan­gen Fahr­ten durch die Kanä­le des nörd­li­chen Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pas, ent­stammt er einer (Par­al­lel-) Welt, wie sie Sime­non in sei­nen Wer­ken so leben­dig beschreibt. Er kommt aus Orten wie dem Canal laté­ral à la Mar­ne, dem Schau­platz von Le char­re­tier de la «Pro­vi­dence», oder des Arden­nen­grenz­städt­chens Givet an der Maas aus Chez les Fla­mands oder den Hafen­knei­pen von Delf­zi­jl aus Un crime en hol­lan­de.

In die­sen Milieus ist Mai­gret zuhau­se, wäh­rend er im Spei­se­saal des Nobel­ho­tels Maje­s­tic (ein zen­tra­ler Schau­platz in Pietr-le-Let­ton) oder den mon­dä­nen Vil­len und Casi­nos an der Côte d’Azur (wie sie bei­spiels­wei­se in Liber­ty Bar vor­kom­men) immer ein wenig fehl am Platz wirkt. Mai­gret ist eher eine Figur, die in einem Hin­ter­hof eines her­un­ter­ge­kom­me­nen Wohn­hau­ses einen Ver­däch­ti­gen beschat­tet, sich im Nie­sel­re­gen zunächst sto­isch die Pfei­fe stopft und dann zu rau­chen beginnt, bis der Pfei­fen­qualm sich mit dem Nebel ver­mengt. Mai­gret und sei­ne Pfei­fe haben etwas Gemäch­li­ches. Wie, wenn man auf der Veran­da sitzt, und in den Regen stiert.

Die Figur war von Anfang an so gezeich­net. Bereits in Pietr-le-Let­ton fin­det man alle oben beschrie­be­nen Cha­rak­te­ris­ti­ka. Der Fall führt den Kom­mis­sar unter ande­rem in die Nor­man­die – stun­den­lan­ge Obser­va­tio­nen in nord­fran­zö­si­schem Dau­er­re­gen inklu­si­ve („Jetzt schwapp­te bei jedem Schritt schmut­zi­ges Was­ser aus sei­nen Schu­hen, sein Hut war defor­miert, Man­tel und Jacke waren klitsch­nass“). Nicht dass das Wet­ter in Paris signi­fi­kant bes­ser wäre – aber dort war­tet immer­hin das wär­men­de Ragout sei­ner Ehe­frau und die woh­li­ge Hit­ze des Kano­nen­ofens in sei­nem Büro auf ihn.

Sime­non war immer davon über­zeugt, dass Mai­gret eine idea­le Film­fi­gur abge­ben wür­de. Die zahl­rei­chen Adap­tio­nen der Mai­gret-Roma­ne zeu­gen davon – er selbst war jedoch mit kaum einer davon zufrie­den. Die lan­ge Rei­he der Mai­gret-Ver­fil­mun­gen erreich­te früh ihren Zenit. Kurz nach Erschei­nen der ers­ten Roma­ne, wur­de Sime­non von sei­nem Freund Jean Renoir kon­tak­tiert, der die Film­rech­te für La nuit du car­re­four erwer­ben woll­te. Sime­non wil­lig­te ein. Es folg­te ein lan­ges Pro­duk­ti­ons­cha­os an des­sen Ende ein Film steht, der nie in der von Renoir inten­dier­ten Form das Licht der Welt gezeigt wer­den konn­te, son­dern so zer­stü­ckelt ins Kino kam, dass der Groß­teil des Publi­kums nicht der Hand­lung fol­gen konn­te. Nach die­ser unschö­nen Erfah­rung war Sime­non Hal­tung der Film­in­dus­trie gegen­über, bis zu sei­nem Lebens­en­de ablehnend.
Dabei wuss­te das End­re­sul­tat durch­aus zu gefal­len. Jeans Bru­der Pierre schlüpf­te in die Rol­le des Kom­mis­sars und mach­te sei­nen Job so gut, dass er bis zuletzt Sime­nons Lieb­ling­s­i­te­ra­ti­on der Figur blieb. Nicht ein­mal als spä­ter Schau­spiel­grö­ßen wie Michel Simon oder Sime­nons Freund Jean Gabin Mai­gret spiel­ten, rück­te er von sei­nem Urteil ab. Gabin und Simon muss­ten sich mit den Plät­zen zwei und drei in Sime­nons Mai­gret-Hier­ar­chie zufrie­den­ge­ben. Nicht nur die Inter­pre­ta­ti­on der Figur Mai­grets ist in Renoirs La nuit du car­re­four bril­lant. Auch die in Nebel und Regen getauch­te Land­schaft der Île-de-France trifft den Geist der Mai­gret-Roma­ne per­fekt. „Ein Film wie der wei­nen­de Nebel einer unwirk­li­chen Nacht“, wur­de es schon vor eini­gen Jah­ren auf Jugend ohne Film formuliert.

In Renoir hat Sime­non in jedem Fall einen Regis­seur gefun­den, der eini­ge essen­ti­el­le Eigen­schaf­ten mit ihm teilt: ein schar­fer Blick für Lebens­um­stän­de und Milieus, eine grund­le­gen­de Sym­pa­thie für den „klei­nen Mann“ und ein Stil, der eher nüch­tern beschreibt als barock aus­schmückt. Im Lau­fe der Jah­re woll­te Renoir wie­der­holt ande­re Sime­non-Adap­tio­nen umset­zen – kei­nes die­ser Pro­jek­te konn­te je umge­setzt werden.

Eine wei­te­re Ver­fil­mung eines Sime­non-Romans konn­te der Autor selbst nicht mit­er­le­ben. Als Béla Tarr sich 2007 an L’homme de Lond­res ver­such­te, war Sime­non bereits seit fast 20 Jah­ren tot. Der Nebel ist in A Lon­do­ni fér­fi ein ent­schei­den­des Stil­ele­ment und trägt wesent­lich zur Atmo­sphä­re des Films bei. Aber nicht nur das, er ist ein Akteur, der wie wil­lent­lich die Hand­lun­gen ein­zel­ner Figu­ren ver­schlei­ert und auf­deckt. In A Lon­do­ni fér­fi sind das zu Sehen­de und das Ver­bor­ge­ne eben­bür­tig. Der Nebel steht genau für die­se Ambi­va­lenz von Sicht­bar­keit und Ver­bor­gen­heit. Mai­gret navi­giert in den Roma­nen Sime­nons eben­falls in die­ser Zone. A Lon­do­ni fér­fi ist somit womög­lich der essen­ti­el­le Mai­gret-Film, obwohl Mai­gret dar­in gar nicht vorkommt.

Es ist aus die­ser War­te betrach­tet nur fol­ge­rich­tig, dass der gro­ße Show­down von Tarrs Film im Ver­bor­ge­nen statt­fin­det, hin­ter einer geschlos­se­nen Tür. Nur Kampf­ge­räu­sche drin­gen nach außen. Über 70 Jah­re zuvor hat­te sich Hen­ri Deco­in bei sei­ner Ver­fil­mung des Romans noch weni­ger radi­kal für eine halb aus­ge­leuch­te­te Sze­ne­rie und eine ori­en­tie­rungs­lo­se Kame­ra ent­schie­den, um die Sze­ne ein­zu­fan­gen. In bei­den Fäl­len ist es aber gar nicht so ent­schei­dend, was sicht­bar ist. Genau­so, wie es in den Roma­nen Mai­grets in den sel­tens­ten Fäl­len dar­um geht, mög­lichst prag­ma­tisch einen Plot zu erzäh­len. Es geht auch in kei­ner Wei­se dar­um, Gräu­el, Hor­ror oder Action ein­zu­fan­gen. Das Lesen die­ser Bücher – und in den bes­ten Fäl­len schaf­fen die Ver­fil­mun­gen des Mate­ri­als einen ähn­li­chen Effekt – gleicht der Stim­mung eines ver­reg­ne­ten Herbst­ta­ges. Alles wird lang­sa­mer, genüg­sa­mer, nüchterner.