Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Nebel bei Dickens: Raum, Zeit und der bleierne Geist

von Marius Hrdy

Meine erste bildhafte Assoziation ist der epochale Beginn von Bleak House, einem Fortsetzungsroman von Charles Dickens. Dickens führt in die langsam mahlenden Mühlen der Rechtsbürokratie durch den dichten und undurchsichtigen Londoner Nebel um Lincoln’s Inn Hall ein und durchmisst damit gleichzeitig die Topographie sowohl politisch und geographisch: „Fog everywhere. Fog up the river, where it flows among green aits and meadows; fog down the river, where it rolls defiled among the tiers of shipping and the waterside pollutions of a great (and dirty) city….“) Mit bilddeutenden Mitteln beschreibt er die Stadt und düstere Umgebung seines Londons der 1820er und allmählich richtet er die Stimmung vom Ungewissen des Außen auf das klaustrophobische Innen.

Dickens Ausdruck wenn er eine Szene beschreibt ist wie der eines Malers, eine Szenenauflösung wie in einem Gefühl durch die Stadt wandelnd und schließlich bei seinem Protagonisten- der Rechtsinstitution ankommend: „Am rauesten ist der Nachmittag; da ist der Nebel am dicksten, die Straße am schmutzigsten in der Nähe jenes dickschädligen steinernen Hindernisses, das so recht eine passende Zier für die Schwelle der dickschädligen alten Korporation – des »Tempels« – ist.“ Dabei ist das durchaus impressionistisch, an Monet’s Nebelbilder wie Londres, le Parlement. Trouée de soleil dans le brouillard, erinnernd. Der Nebel in seiner schmutzigen Ausformung- der Ruß der wild wuchernden Industrie- werden spürbar in jeder Ritze der Syntax. Dickens erschafft so ein Gefühlsbild der mühsamen Bewegung, des gesellschaftlichen Stillstands. In der Doppelbödigkeit der Rechtssysteme der Courts of Law entgegen der Courts of Equity, eine Art Schiedsgericht/Schlichtungsstelle, liegt eine Zwiedeutung der Natur des britischen Rechtssystem zugrunde, das der ungeschriebenen Verfassung geschuldet ist.

Dazu eine Erklärung: Der Lord Chancellor war pro forma das Gewissen des Königs um durch Rechtsbilligkeit Gerechtigkeit zu erreichen. Die Courts of Chancery waren ein eigenes Rechtssystem, in dem ein durch at law gesprochenes Urteil direkt durch den König in equity gemildert werden konnte, um die Strenge einzelner gerichtlicher Entscheidungen auszugleichen. Dabei ging es meistens um Erbschaften, Eigentumssachen, Schuldenverfahren und Eherecht. Als Anwaltsangestellter in einer Anwaltskammer hatte Dickens täglichen Umgang mit Rechtsangelegenheiten. Aus dieser Erfahrung bezeichnet er in Bleak House die endlos ausgedehnten Verfahren in den Courts of Chancery auch mit der „Länge der Eiszeit“. Dies hatte technische Gründe: Eine Klage vor dem Common Law -Gericht konnte nicht gleichzeitig mit dem der Courts of Chancery laufen, was jahrzehntelange Prozesse mit sich zog, im Schnitt dauerte ein Prozess zwölf Jahre. Mitunter überlebten die Fälle oft ihre eigenen Kläger. Erst 1833 wurden mit den Judicature Acts die beiden Systeme miteinander verbunden (actions in law and equity (1) ).

Dickens beschreibt hier wie lächerlich dieses System ist: Die Prozesse dienen vornehmlich den Bürokraten, um ihre Bedeutung zu behalten, diese in die Länge zu ziehen und sich derweil an den Kosten zu bereichern. Die gesellschaftliche Dimension wird hierbei gänzlich ausgeblendet. Rechtsanwälte nehmen das ganze Geld, Verfahrensteilnehmer werden endlos angehört und Entscheidungen vertagt. Vieles in Bleak House ist Einführung von Charakteren, sinnlose Gespräche und Auftritte von Vertretern, die mit dem Fall Jarndyce vs. Jarndyce irgendwie oder im Entferntesten verstrickt sind, fast schon wie eine Parade von Schaulustigen, die auch dabei sein wollen.

Das alles erlebt man lesend mit wie im Purgatorium, wie ein Gefangener auf dem Fährweg über dem Styx, mit dem Versprechen auf Erlösung, aber in der Mitte des Flusses auf ewig mit den Wellen kämpfend, weil man die Überfahrt ins Totenreich nicht bezahlen kann. Nicht tot, nicht lebendig. Der Nebel ist bei Dickens ein Geisteszustand, die prismenhafte Spiegelungen und Streuungen jeglichen übergebliebenen Lichts reflektieren den emotionalen Haushalt, das drückende Opak unterbricht alle funktionierenden Nervenwege. Die Metapher ist Ausdruck eines Sittenbildes und die Taktilität des Nebels schlägt sich auch im Körperlichen nieder, dessen Metamorphose zu schwarzem Rauch und Ruß durch das Einatmen des Menschen körperlich verinnerlicht werden. Der Mensch und seine Muskeln gewöhnen sich an die Umgebung. So wird der Nebel selbst Teil des Menschen, der jeden Gedanken und jedes eigenständige Bewusstsein lähmt.

Mit dem Nebelbegriff erforscht Dickens die Zonen der Liminalität. Licht und Schatten und das Spiel in deren Übergängen sind omnipräsent, das Umherirren in unbedeutenden Zonen, geschichtslosen Zeiten ist Mainstream. Dickens setzt durch diese Konstruktion die Undurchdringlichkeit des Nebels mit der Undurchdringlichkeit der Gesellschaftsordnung gleich. Legt man diese Stimmung auf die Gegenwart um, blühen parallele Assoziationen: Das Bild der Umbewertung von Wert und Wichtigkeit, der erodierte Respekt vor einer die Gesellschaft ordnenden Autorität, die bewusste Diffusität der herrschenden Klassen um Machtstrukturen zu erhalten. Den Ursprung dieser Diskussion nimmt die Lähmung durch die Austeritätspolitik als Resultat der durch Immobilienschulden getriebenen Weltwirtschaftskrise 2008, die weiterhin eine schlafwandelnde Gesellschaft wie ewig unter dem Einfluss eines Antidepressivums erzeugt. Keine Spitzen mehr, kein American Dream, nur mehr gleichmäßiges Untertanentum. Die Suche nach Erneuerung, in der die Grammatik von Sprache nichts mehr zu beschreiben vermag, da Infragestellung wichtiger ist als Lösungsutopien für eine „bessere“ Welt zu finden, die auf Qualität aufbaut. Die konkreten Vergleiche mit Dickens sind frappant: Die Subsysteme der Rechtssprechung, die Aushöhlung und ad-hoc Reinterpretation der Bedeutung von Recht wie zum Beispiel bei einer präsidentiellen Executive Order in den USA, Kriegsspiele die mit dem roten Tuch des Terrorismus ihre Rechtfertigung finden und so internationales Recht umgehen. Das moderne Menschenbild ist fatalistisch und bipolar. Die Pressefreiheit, die nur mehr als Zier gedacht wird, da das „Essenzielle“ des „Volkes“ wichtiger ist; ja was ist eigentlich das Essenzielle? Schon vergessen.

Darüber stülpt sich eine Glasglocke der Trance und in ihr rundherum schwebt der Nebel des Ungewissen. Eine Linke die sich nur damit beschäftigt, exklusiv zu sein, eine neue Biedermeierei für den Rückzug in das Private, Ballsäle voll, das Silberputzen auf der untergehenden Titanic als Primat sehend. Draussen noch immer Nebel. Die Strategie der Nachahmung leerer Hüllen ohne Bedeutung, das „als ob“ als Ideal. Im häuslichen kann man keine Revolution starten. Demonstrationen werden immer mehr zu choreographierten Theaterstücken, bedienen sich der Bildpolitik des Effekts jedoch ist die Übergabe der Gewaltzonen nicht mehr in einer generellen Öffentlichkeit zu sehen, abgestumpft in die „erlaubten“ Zonen gedrängt, in der nun das Private über allem steht. Individuelle Selbstverwirklichung, die Anbetung des Berühmten als Ausflucht aus der eigenen Depression, die Introspektion zur Maxime erhoben. Ohne der Bereitung von Möglichkeiten einer ganzheitlich gedachten Entwicklung bleibt der Mensch Einzelkind. In der Auflösung der Sicherheiten bedeutet was genau Mensch sein? Die Lokalität, die Nation? Nation ist der Lösungsansatz von Kleinmut. Was macht die Bürgerinnen eigentlich aus, was heisst es in dieser diffusen Welt, Mensch zu sein? Was sehe ich im Dickicht treiben, Lichter stehen im dumpfen Fahl, erhellend gerade nötig um den Atem zu erkennen. Schwer liegt mir die Luft am Herzen, bald sind wir da…der Bug deutet die Richtung. Es wird dunkel, der Geist wiegt Blei…im Wanken wohnt die Ruh.

Als Coda und Denkanstoß Alberto Toscano zum Thema Raum und Widerstand in einem Interview hier: “To try to articulate a critical social and political theory in a period marked by imperialist wars, and mortgage-debt driven financial crises – but also by catastrophic anthropogenic climate change and mass migration – is ultimately impossible without truly attending to spatiality.” (2) Und weiter: “We could also think of the ways in which opacity, secrecy, and the clandestine might also become, in different spaces and times, resources for opposition to abasement and domination”.

—–

Originaltext aus: Charles Dickens, Bleak House, Kapitel 1.

Fog everywhere. Fog up the river, where it flows among green aits and meadows; fog down the river, where it rolls deified among the tiers of shipping and the waterside pollutions of a great (and dirty) city. Fog on the Essex marshes, fog on the Kentish heights. Fog creeping into the cabooses of collier-brigs; fog lying out on the yards and hovering in the rigging of great ships; fog drooping on the gunwales of barges and small boats. Fog in the eyes and throats of ancient Greenwich pensioners, wheezing by the firesides of their wards; fog in the stem and bowl of the afternoon pipe of the wrathful skipper, down in his close cabin; fog cruelly pinching the toes and fingers of his shivering little ‘prentice boy on deck. Chance people on the bridges peeping over the parapets into a nether sky of fog, with fog all round them, as if they were up in a balloon and hanging in the misty clouds.
Gas looming through the fog in diverse places in the streets, much as the sun may, from the spongey fields, be seen to loom by husbandman and ploughboy. Most of the shops lighted two hours before their time — as the gas seems to know, for it has a haggard and unwilling look.
The raw afternoon is rawest, and the dense fog is densest, and the muddy streets are muddiest near that leaden-headed old obstruction, appropriate ornament for the threshold of a leaden-headed old corporation, Temple Bar. And hard by Temple Bar, in Lincoln’s Inn Hall, at the very heart of the fog, sits the Lord High Chancellor in his High Court of Chancery.

(1) Charles Dickens: Bleak House. Edited with an introduction and notes by Stephen Gill. Oxford University Press. May 2008. (Ersterscheinung in 20 Fortsetzungen: März 1852- September 1853)

(2) Stephen Connolly, Matthew Gibson, Patrick Brian Smith: Visualising Spatial Injustice Q&A (Part One: Alberto Toscano). In: Mediapolis, A Journal of Cities and Culture. July 2018