Text: Simon Wiener
Au pays noir (1905) wird eröffnet durch eine kurze Einstellung eines im Stollen liegenden bärtigen Arbeiters, gerade im Begriff, seinen Hammer zu senken. In allen folgenden Einstellungen wird er zu sehen sein, was mir aber erst beim wiederholten Anschauen aufgefallen ist; eher im Hintergrund eilt er denn durch die Kulissen, huscht durch das Bergwerk, grüßt seine Vorgesetzten, setzt sich zur Mittagspause; einer unter Dutzenden. Die Kulissen und tableaux vivants dieses Films erzählen so viel gleichzeitig, dass uns gezwungenermassen auch einiges entgeht, oder: wir übernehmen dessen Schnitt gleich selbst, instinktiv; springen hin und her in seinen überbordenden Bildern.
Darin die Arbeitenden: hinter ihnen der Stollen der Kohlegrube, ihnen aber vornübergestülpt jener der Kamera; hämmernd nicht nur in den Fels, sondern auch in diesen anderen Stollen, den des Bildes; uns, Publikum, die wir in Sicherheit hinter der durchsichtigen Wand gemütlich im Stuhl hängen, bearbeitend, behämmernd, damit wir uns ihnen widmen, unseren Schnitt an ihnen (und nicht anderen) ausrichten, an Einzelnem hängenbleiben. Wir, die wir ebenfalls Fels, sind von sich da Abmühenden, Schauspielenden zu bebauen, zu gewinnen. Wie Widerhaken bohren sich in uns Felsen da Einzelschicksale der Arbeiterinnen und Arbeiter; dasjenige des Bärtigen etwa, der uns in den ersten Sekunden begegnet, und dessen Sohn oder Freund nach der Mittagspause einer Schlagwetterexplosion zum Opfer fällt, oder dasjenige eines Knaben, der sich mit seiner Mutter am Eingang der Grube herumtreibt, um liegengebliebene Kohlereste einzusammeln; oder wiederum jenes des der Kulisse aufgemalten Pferdes, vom Wassereinbruch verschüttet, hilflos die Glieder nach oben gerichtet.
Das Bild als Stollen zwischen Kamera- und Augenlinsen, Filme als «Bergbau» im Sinne eines zu gewinnenden, eigentlich aber unbeweglichen, verharrenden Publikums; und wie sich im Bergbau die Kraft tausender Hände, zehntausend einzelner Schläge kumuliert, so ergreift uns ein Film nur, wenn wir uns der Berührung all seiner einzelnen Elemente, seiner Widerhaken, auch im Einzelnen hingeben. Wurde uns diese Arbeit der Hingabe im späteren, populären Film von Großaufnahmen und Zuspitzungen dann abgenommen, so bleibt sie im frühen Film noch ganz uns überlassen; andererseits bleibt uns so auch die Möglichkeit, den Film gewissermaßen selbst mitzuverfassen. Die Gesichter und Gestalten, an denen wir in Au pays noir hängen bleiben, suchen wir uns selbst aus, oder: bestimmte Gesichter verhaken sich in uns. Die apokalyptische Schlussszene etwa zeigt auf einmal: den Minenbesitzer, den Arzt, mehrere tote Arbeiter, mehrere Gendarmen, den bärtigen Mann des Beginns mit Frau und Kindern, hinzutretende Dorfleute. Unvermittelt bricht er ab, gerade als ein weiterer verschütteter Arbeiter geborgen wird; allzu schnell, so die Hoffnung des Films, sollen die Gräben, die er in uns gebohrt hat, nicht verschwinden.