Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Notiz zu Walang alaala ang mga paru-paro von Lav Diaz

Text: Jan-Hendrik Müller

Im Kino wird viel und unablässig getrunken. Sei es als siegreiche Geste der Überlegenheit, aus hedonistischem Exzess, aufgrund eines gebrochenen Herzens oder ‚der alten Zeiten‘ wegen – das Trinken in Filmen ist ein Symbol der Emphase und des Stillstands; aber auch des Vergessens. Die drei Trinker in Lav Diaz’ Walang alaala ang mga paru-paro gehören zur letzteren Kategorie. Von Depression und Nostalgie befallen, sitzen sie jede Nacht rauchend und trinkend um einen kleinen Tisch. Die örtliche Goldmine wurde schon vor einiger Zeit geschlossen und das abgelegene philippinische Dorf erliegt einer Miserabilität, die stellvertretend das Schicksal vieler verlassener Industriestandorte und ihrer verzweifelten Bewohner:innen beschreibt.

Ausgehend von Marthas Besuch, der Tochter des verstorbenen Minenbesitzers, entfaltet sich diese kurze Parabel der Entfremdung. Mit neun Jahren verließen Martha und ihre Familie das Dorf in Richtung Kanada. Einige Jahre später sucht sie ihre damaligen Freunde Willy und Carol dort wieder auf und spricht mit Mang Ferding, dem ehemaligen Sicherheitsbeauftragten der Mine. Doch während Marthas Abwesenheit hat sich viel verändert. Die alten Freunde reagieren wirsch und reserviert auf die immerzu fotografierende Besucherin. Bis auf ein paar Erinnerungen aus dem Fotoalbum teilen Mang Ferding und Martha nur wenig. Er fragt sie sogleich, ob die Mine wieder aufsperrt. Martha ist gegen eine Wiedereröffnung, nicht alles war damals gut. Nachdem der ständig mit Waffen hantierende ältere Mann auch noch Modell stehen muss, schlägt er aus Scham und Verärgerung seinen trinkenden Freunden Santos und Willy vor, die Kanadierin zu kidnappen, um die eigene finanzielle Misere zu beenden.

Mit gewohnt eigenwilligen Einstellungen und der ungeschönten Direktheit des schwarz-weißen Videofilms erfasst Lav Diaz die Widersprüche und Traumata seines von Migration, Ausbeutung und Naturzerstörung geprägten Landes. Schon im ersten Dialog des Films kristallisieren sich die konfliktreichen Gegensätze verlassener Industrieorte heraus: Mine gegen Naturerhalt, Industriearbeit gegen Landwirtschaft, rückwärtsgewandte Nostalgie gegen zukunftswillige Veränderung. Marthas Mobilität stellt dabei die Kehrseite des Elends der Dagebliebenen dar. Die stete Bekundung, das Dorf sei ihre Heimat, widerspricht ihren englischen Antworten auf das Tagalog der Bewohner:innen. Migration produziert eine Entfremdung, die nicht einfach wieder aufgeholt werden kann.

So nehmen Marthas Fotografien eine besonders aggressive und unangenehme Bedeutung an. Sie versucht sich ihrer Erinnerungen zu bemächtigen, merkt dabei jedoch nicht, wie diese eine neue Form der Extraktion darstellen. Wo früher Gold geschürft wurde, entstehen nun die pittoresken Fotografien einer Fremden. Die verzweifelte Schnapsidee der Entführung erscheint in Anbetracht der aufklaffenden Weltendifferenz als konsequente Rache. Die mit Autoritätsverlust und schlechten ‚Brotjobs‘ ausgestatteten, gedemütigten Männer versuchen sich mittels der wahnwitzigen Tat ein letztes Mal zu beweisen. Mit den eigentlich für die Osterprozessionen vorbehaltenen Masken der Moriones (zur Darstellung römischer Soldaten in der Passion Jesu) schleichen die Drei (Willy mit Gewissensbissen) durch das Dickicht, ohne jedoch mit der Macht der Schmetterlinge zu rechnen. Denn diese besitzen als Symbole des Neubeginns keinerlei Erinnerung.