Reihe Teil 8- Die fabelhafte Welt der Amélie- Audrey Tautou

Als nächstes also Die fabelhafte Welt der Amélie aus dem Jahr 2001
Viele unserer bisherigen „Helden“ oder „Antihelden“ haben sich eine eigene Realität geschaffen, gegen bestehende Ordnungen rebelliert, waren Außenseiter in der Gesellschaft-viele von ihnen gar Verbrecher. Doch niemand treibt es so weit wie Amélie Poulain, gespielt von Audrey Tautou im modernen französischen Klassiker. Die schüchterne Arbeiterin in einem Pariser Café erschafft sich regelmäßig ihre eigene Fantasiewelt; sie betreibt also eine Realitätsflucht, die der ihres „Erschaffers“ Jean-Pierre Jeunet genauso nahe liegen dürfte, wie der des Publikums, dem sie ein paar Mal vielsagend zulächelt. Eigentlich lebt Amélie bis zum Ende des Films überhaupt nicht in der realen Welt.
Der Unterschied bei ihr liegt darin, dass sich die ganze Geschichte darum dreht, ist es doch das Portrait einer Träumerin, die dringend an sich selbst denken muss; mehr noch liegt der Unterschied in der Rezeption und in der Inszenierung. Doch eines nach dem anderen:
Sympathie baut sich schnell auf für diesen hübschen und doch unauffälligen Hauptcharakter, einem Schutzengel für die Menschen in ihrer Umgebung. Sie ist
Kreativ
Schüchtern
Einsam
Verträumt
Verloren
Wenn sie das Leben all der Menschen in ihrer Umgebung umkrempelt und verbessert oder Schuften die gerechte Strafe erteilt, dann fühlt man mit ihr, weil um sich ein Hauch von Gerechtigkeit weht. Natürlich beginnen wir uns um sie zu kümmern; sie ist die Unschuld und sie hat etwas Besseres verdient, denn sie bringt uns zum Lachen, zum Weinen und zum Träumen. In einer unvergesslichen Szene hilft sie einem blinden Mann über die Straße und erzählt ihm voller Inbrunst anschaulichst von seiner Umgebung, bis sie den entzückten Mann an der U-Bahn Station stehenlässt. 
Wie kann dieses aufgeweckte, gutherzige Mädchen (das ist sie mehr als eine Frau) so einsam sein? Es ist wieder so weit: Wir identifizieren uns mit ihr. Dabei könnte die Charakterzeichnung-einmal bloßgestellt- einfacher nicht sein. Eine Angst (in diesem Fall Kontaktangst), die der Held mit zahlreichen Hindernissen überwinden muss, um Glück zu finden. Das klassische Muster von Hitchcock’s Vertigo (Höhenangst) über Nolan‘s Batman Begins (Angst vor, ja, Fledermäusen) bis hin zu Hooper’s The King’s Speech (Angst vor öffentlichem Reden). 
James Stewart hat Höhenangst-Vertigo
Dabei fällt auf, dass wohl ganz Montmartre besetzt ist von neurotischen Seelen, die trauernd auf eine Erleuchtung warten. Das ist die Traumwelt, die Jeunet für uns erschaffen hat und sie liegt so nahe. Jeunet ist ein Meister dieser Traumwelten und dieser Film kam 2001 nicht aus dem heiteren Himmel. Mit Die Stadt der verlorenen Kinder oder Delicatessen hatte er schon ähnliche, wenn auch weltfremdere und düsterere Welten erschaffen.
Die Stadt der verlorenen Kinder
Vieles ist sein Casting und seine Inszenierung. Tautou ist ein wahrer Glücksgriff gewesen. (Zumal bedenkt werden muss, dass eigentlich die wunderbare Emily Watson schon feststand in der Rolle.); sie strahlt Natürlichkeit, Traurigkeit und Hoffnung aus. Dinge, die somit nicht mehr erzählt werden müssen, die man als Zuseher sofort aufsaugt, wenn Jeunet sie in einer seiner zahlreichen Naheinstellungen präsentiert. Alles ist in Grün und Rot und Gelb; Madame Poulain verschwindet mit ihrem gleichfarbigen Kostüm förmlich im Szenenbild. Das unterstreicht natürlich ihre Unauffälligkeit, ihr sogar bildlich festgehaltenes „Auflösen“ in der Umgebung, aber vielmehr  sorgt es für Harmonie in unseren Augen. Wir werden indirekt auch in diese Welt gezogen und verlieben uns in Amélie, weil es praktisch nur „beauty-shots“ von ihr gibt. Die Symmetrie in Form und Farben ist beachtenswert und ist zumeist nur aus asiatischen Filmen, wie zum Beispiel dem virtuosen Oldboy von Park-Chan Wook zu sehen. 
Oldboy
Die Musik von Yann Tiersen hat daran natürlich auch einen nicht unerheblichen Anteil. Jeunet lässt uns auch zu ihr, wenn sie nicht in ihrer Traumwelt ist. Wir sind bei Amélie, wenn sie weint und wenn sie wütend ist. Wir spüren förmlich ihre Angst. Ein offensichtlicher Faktor in diesem Annäherungsprozess an die Hauptperson ist auch das Präsentieren ihrer Kindheit. In vorherigen Beiträgen habe ich oft darauf hingewiesen, dass es keine Hintergrundgeschichten für Identifikation braucht. Nun könnte man meinen, dass Amélie mich das Gegenteil lehrt, aber dem ist leicht zu widersprechen. Jeunet’s von Kreativität und Ironie sprudelnder Blick auf das Leben dieser Hauptperson bricht nämlich mit den gängigen Mustern, er ist fast eine Parodie auf diese. Dies ist am deutlichsten erkennbar, wenn die Mutter von Amélie stirbt, als sich eine Frau in den Selbstmord stürzt und unglücklich auf ihr landet. Diese Schicksalsschläge und die damit verbundene Charakterbildung liegen immer in der Hand des Regisseurs. Scorsese zum Beispiel wählt gerne einen fast surrealistischen Ansatz mit ein oder zwei Szenen aus der Kindheit, um einen Einblick zu gewähren, er erzählt nicht zu Ende, aber er gewährt einen Blick tief genug, um zu verstehen (In neueren Beispielen: The Aviator oder The Departed).
Als Gegenstück zu Heath Ledger in The Dark Knight, bei dem die Person des Schauspielers mit in die Rolle spielte, ist bei Amélie zu beobachten, dass ihre Person in das wahre Leben spielt. Es ist wohl davon auszugehen, dass Audrey Tautou ähnlich einem Bond-Darsteller das ganze Leben diese Rolle mit sich tragen wird. Zu perfekt passt ihr Gesicht auf diese Geschichte. Mehr noch hat dieser Film einen ganzen Lebensstil beeinflusst; es ist eine Ode an die Kreativität, an die kleinen Freuden des Lebens, einer Generation, die wieder lernen will Briefe zu schreiben. Die Geschichten von um die Welt reisenden Gartenzwergen ist ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Film Einzug in unsere Kultur gefunden hat. Nicht nur, gab es Nachahmer in aller Welt, sondern auch im Film Up in the Air von Jason Reitman gibt es direkte Anspielungen darauf. Die Drehorte sind zu Touristenattraktionen geworden, angeblich sind sogar die Mieten in Montmartre unmittelbar nach Veröffentlichung des Films gestiegen. Und bei allen Farben und Klängen und wilden Kamerafahrten und wundervollen Ideen hat man diesem Erfolg hauptsächlich seinem Charakter zu verdanken.
Die fabelhafte Welt der Amélie ist kein Film, der sich unbedingt nahe an der Realität bewegt; es ist ein Fest für Träumer und dadurch wird er automatisch zur selbstreflexiven Aufarbeitung des Kinos und seines Wesens. Die ursprüngliche Faszination an Bildern, an ihrer Sogwirkung wird hier gefeiert. Das Gefühl, wenn man als Kind das Kino verlassen hat und immer noch im Film lebte. Ich selbst ging (zweifelsohne) mit einem Laserschwert durchs Einkaufszentrum, schoss mit Pfeil und Bogen vom Rücksitz aus Mama’s Auto und schlief nachts in einem Bunker ein. Es gibt nicht viele Filme, die dieses Gefühl wieder lebendig werden lassen. Einer davon ist allerdings gerade im Kino: Hugo von Martin Scorsese. Ansehen!
Als nächstes Bill Murray und Lost in Translation.

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