Über uns

„Eine ganze Welt öffnet sich diesem Erstaunen, dieser Bewunderung, Erkenntnis, Liebe und wird vom Blick aufgesogen.“ (Jean Epstein)

Saltimbank von Jean-Claude Biette

Sein letzter Film, Saltimbank, den Jean-Claude Biette ein Jahr vor seinem Tod drehte, ist Frieda Grafe gewidmet, die ein Jahr zuvor verstarb. Vom Einfluss, den Grafe auf Biette hinterließ, handelt dieser Film nicht. Eher versteht sich dieser kleiner Hinweis zu Beginn des Films als Verbeugung vor der Vergangenheit, und damit nicht mal vor der Geschichte des Kinos, sondern vor dem, was durch das Kino belebt wurde. Das konnte auch Grafe sehen, beschreiben und der Nachwelt hinterlassen. Biette bewegt sich in diesem Film wieder auf bekannten Wegen, auch wenn er diese manchmal verlässt, aber nur als würde er stets um denselben Häuserblock spazieren und hin wieder die Straßenseite wechseln: Wieder in Paris, das mit Autos, Baustellen und Lokalen vollgestellt ist. Wieder ein kleines Theater im Probenbetrieb, das um seine Zukunft bangt. Bruno Saltim (Jean-Christoph Bouvet), der aus einer kleinen adligen Familie stammt, die sich einmal wöchentlich beim bürgerlichen Sonntags-Déjeuner trifft, betreibt das Theater aus Liebhaberei. Das Geld kommt von seinem Bruder Frédéric, der das Familienerbe mit der Saltimbank verwaltete, aber in der Kultur keinen finanziellen Reiz mehr sieht. Weder Racines Esther noch Čechovs Onkel Vania, für die sich der Intendant Hans Kalender (Frédéric Norbert), ein Regisseur, eine Regisseurin und ein geteilter Assistent verantwortlich zeigen, scheinen hier zu großen Bühnenerfolgen zu werden. Es mangelt aber nicht nur am Geld oder am Publikum, sondern auch an den richtigen Schauspielern. Als geeignete Esther taucht auf einmal Vanessa (Jeanne Balibar), eine alte Bekannte der Saltimfamilie, auf, die aber lieber als Kostümbildnerin arbeiten will als auf der Bühne zu stehen. So liefert sie ein Paar Schuhe an ein genauso kleines Berliner Theater für eine Inszenierung von Schillers Maria Stuart, wo sie Johannes Kreisler (Hanns Zischler) begegnete, der ihr ein Marlene Dietrich-Zitat an einer Wand seines Oblomow-Theaters zeigt. Ein ruhendes, ein sterbendes Theater. Zurück in Paris werden die Proben unterbrochen: Saltim hat die Theaterklassiker durch Volkstheaters abgesetzt.

Die Grammatik von Biettes Filmsprache besteht im besten Sinne nur aus Nebensätzen. Gerade in Saltimbank lässt sich jede Figur, jedes Zitat, jedes Bild nur durch die aneinandergereihten szenische Hinzufügungen begreifen. Gleichzeitig begegnet nahezu in jeder Szene eine Person einer anderen, mit der sie zuvor noch nicht sprach, sodass am Ende alle miteinander redeten und sich so immer mehr Dahingesagtes überlagert. Aufzählungen kennt Biettes Kino kaum. Zudem wechselt der Film unentwegt seine Orte, ohne aber eine wirkliche Handlung zu durchlaufen. Der Nebensatz, der den kontinuierlichen Lesefluss behindert, ist verwandt mit der Klammer, der Parenthese oder auch der Fußnote. Alles Hilfsmittel, um einen Gedanken, dem vermeintlich Wesentlichen zu entführen, ihn zu zerstreuen. Ihre jeweilige Verwendung kennt eine meist eigensinnig gebrauchte Hierarchie. Die Fußnote liegt vielleicht am fernsten, aber ihre Bedeutung wiegt am schwersten. Manche glauben, sie wäre am zuverlässigsten. Es dauert nicht lange, bis sich beim Sehen von Saltimbank oder anderen Filmen von Biette ein Andeutungsdruck bemerkbar macht, dem man durch eigene Lektüren befriedigen und den Fußnoten nachgehen will. Davon nichts wissen zu wollen, mag angenehm sein, lässt aber das Personenkarussell weniger aufregend aussehen. Alles zu wissen, würde wahrscheinlich den ganzen Zirkus stattdessen zum Erliegen bringen. So bewegt man sich besser mit dem Rhythmus der Sprache, wie in den Versen von Racine, der seinen Inhalt trägt. In dieser Hinsicht mag die Übersetzerin des Theaters, Florence (Michèle Moretti), die heimliche Hauptfigur von Saltimbank sein. Hans ist von ihrer Arbeit abhängig und Bruno schätzt ihre Meinung über alles. Allerdings kann sie Gesten und Stille nicht übersetzen. Sie reichen über einen abgegrenzten Sprachraum hinaus, der nur bestimmte Bedeutungen kennt. Angeblich sei die deutsche Sprache im Gegensatz zur Französischen direkt und damit leer von hintergründigen Anspielungen, was sie zwar von der kartesischen Rhythmik befreit, wie man am Beispiel Schillers hört, aber trotzdem nichts verständlicher macht.

Mit stummen Gesten kennen sich die Clowns gut aus. Was Biette mit Saltimbank vorstellt, ist das, was Theater alles war. Seine unterschiedlichen Formen – die aufklärerische französische Comédie, das Jahrmarktstheater, das bürgerliche deutsche Hoftheater, das Moskauer Kunsttheater bis zum postsozialistischen Off-Theater – weisen alle auf eine lange, umbruchsreiche Geschichte zurück. Rettend für das Kino möchte man dasselbe beanspruchen. Aber das Kino bleibt seiner Form treu (die dem Jahrmarkt entspringt), es braucht nämlich nicht viele Worte – Gesten und Blicke reichen schon. Diese entdeckt Biette erst mit diesem letzten Film in seiner letzten Einstellung, als Jeanne Balibar in den Spiegel blickt und Esthers Gebet spricht. Die Worte werden hier selbst zu einer Geste, die sich sowohl an die Vergangenheit wie die Zukunft, nur nicht die Gegenwart, richtet.

Même tu leur promis de ta bouche sacrée,
Une postérité d’éternelle durée.

Auch du versprachst im Mund der Heiligkeit,
die Nachwelt bis in alle Ewigkeit.

Sowohl auf der Bühne, auf der Leinwand oder im Bistro ist nur das zu sehen, was gerade auf den Plan, auf die Karte gesetzt wird; Biette schreibt „mettre en plan“. Der Traum vom eigenen Theater, Kino oder Bistro, hätte man nur genug Geld, verspricht, von den Plänen der anderen unabhängig werden zu können. Auch wenn sich Bruno seinen Traum bald nicht mehr leisten kann, lebt er im Augenblick ein seltenes Glück, für das es kaum mehr braucht. Nur als Schauspieler oder Zuschauer kann man sich davon wenig kaufen.