Text: Lukas Foerster
Wie viele Sublimierungsschlaufen benötigt man, um von Tex Avery zu Jean-Claude Biette zu gelangen? Diese Frage, dem Werk Jean-Claude Biettes und vielleicht auch dem Averys angemessen obskur, impliziert einen bestimmten Blick auf Filmgeschichte, die sozusagen auf einen menschlichen Maßstab heruntergeschrumpft wird: Filmgeschichte als ein Gespräch, das die Filmautoren untereinander führen; als ein Gespräch, das das Kino mit sich selbst führt; und in dessen Verlauf das Kino in sich selbst wieder eintreten kann.
Dass das Kino in sich selbst wieder eintritt, das wäre eine Minimaldefinition von Cinephilie. Wer das Kino einfach nur liebt (und es für dieses oder jenes benutzt), braucht die Cinephilie nicht. Erst wer im Kino und mit dem Kino das Kino sucht (und darüber vielleicht den Sinn für seine Nützlichkeit aus den Augen verliert), wird mit Cinephilie geschlagen. Streng genommen ist die Minimaldefinition zu minimal – vermutlich kann das Kino gar nicht nicht in sich selbst eintreten. In den hyperreflexiven Tex-Avery-Cartoons, zum Beispiel, tut es das Kino ganz besonders vehement. Und doch ergibt es nicht viel Sinn, Avery als einen cinephilen Filmemacher zu bezeichnen.
Worin besteht also der Unterschied? In einer Kontaktunterbrechung. Cinephilie ist, wenn das Kino in das Kino wieder eintritt – aber nicht sofort. Zuerst einmal gilt es, und diese Erkenntnis setzt sich vielleicht wirklich zum ersten Mal im Paris der späten 1950er und 1960er Jahre durch (aber vielleicht sind das auch küchensoziologische Klischees; wir wissen, scheint mir, nicht mehr viel darüber, wie vor den 1950er Jahren über das Kino nachgedacht und gesprochen wurde), nach dem Kino mit Freunden zu reden, Zeitschriften zu gründen und vollzuschreiben, angemessen großformatige Obsessionen zu entwickeln und so weiter. All das soll dann, wenn das Kino doch wieder weitergeht, irgendwie auf die Filme zurückwirken. Dass es dabei nicht um eine simple Gleichsetzung – Film = Leben – gehen kann, zeigt, auf ganz undogmatische Art, in einem den subjektiven Ernst der Sache doch nie verhehlenden Plauderton, Pierre Léons Dokumentarfilm Biette. Rührend, wie da Männer und Frauen fortgeschrittenen Alters sich an die eigenen, in der Gegenwart keineswegs komplett ausgeblichenen Obsessionen der Jugend – an ihre eigenen und die Jean-Claude Biettes, der gleichzeitig einer von ihnen war und doch ein bisschen anders; vielleicht noch ein wenig obsessiver – erinnern. Mit ein paar Jahrzehnten Abstand tritt umso deutlicher zutage, wie nichtselbstverständlich und in gewisser Weise objektlos diese cinephilen Obsessionen waren (und sind), wie wenig sie sich der geteilten Erfahrung einzelner Filme und wie sehr sie sich außerfilmischen Gruppendynamiken verdanken, und auch dem individuellen Widerstand gegen solche Gruppendynamiken. Ein einzelner Name, zum Beispiel „Antonioni“, kann im Zuge des Erinnerns immer noch ein leises, privates Lachen triggern. Mit Filmen wie L’Avventura oder L’Eclisse hat das ganz bestimmt überhaupt nichts zu tun.
Was man nach zahllosen Endlosdebatten über Hitchcock versus Hawks, Antonioni versus Cottafavi, Plansequenz versus Montage, nach fiebrig durchsoffenen Nächten, nach Selbst- und Fremdverkomplizierungen, nach geschlossenen und zerstörten Freundschaften im Zeichen des Kinos jedenfalls ganz bestimmt nicht will: bloßes Zitatkino drehen, die Wiederkehr des ewig gleichen. Und möglicherweise will man auch nicht, lese ich in Biettes Text „Die Einsamkeit des Zuschauers“, jenes „absolute Kino“ anfertigen, für das in diesem Aufsatz Wim Wenders und Claude Lelouch stehen. Bei Wenders und Lelouch, so lese ich das, ist das manifeste filmische Bild nicht zu trennen von all den anderen Bildern, die es evoziert. Es erhält kein Eigengewicht, schwimmt in dem Strom mit, den eine verallgemeinerte, „internationalisierte“ (hier wird das Argument in meinen Augen ein wenig fragwürdig) Medienmaschinerie vorgibt. Mit dem Wissen geschlagen, dass es ein Kinobild neben – und vor allem: nach – vielen anderen ist, möchte es lediglich „noch ein bisschen mehr Kino“ sein.
Ich denke, wenn ich diese Sätze lese, weniger an Lelouch und Wenders, als an einen Film wie Le fabuleux destin d’Amélie Poulain von Jean-Pierre Jeunet (den Biette selbst vielleicht mit milderen Augen gesehen haben mag, zwei Jahre vor seinem Tod). Das Wissen um ihr eigenes Epigonentum lässt Jeunets Bilder umso heller, umso ‚filmischer‘ leuchten. Der Film sonnt sich im Reichtum einer filmischen Vergangenheit, die gar nicht mehr zum schnöden Zitat vereindeutigt werden muss. Jeunet nutzt seine Cinephilie, die man ihm natürlich trotzdem nicht autoritär absprechen sollte, vielmehr im Sinne eines Farbfilter, der jedes beliebige Objekt zu veredeln vermag.
Das ist schon etwas anderes, als das Bild einer Ente an die Wand zu hängen. Eben so kommt bei Biette Tex Avery ins Spiel: in Le champignon des Carpathes hängt in Tonie Marshalls Wohnung ein Entenbild im Treppenhaus. Darauf angesprochen, meint sie: „Eine Hommage an Tex Avery“. Eine Hommage, die ohne diesen Satz nicht als solche zu erkennen wäre. Die streng genommen erst durch diesen Satz zur Hommage wird. Und die auch genau das bleibt: eine Hommage, ein schneller Gruß an die Geschichte des Kinos, aus dem erst einmal nichts weiter folgt. Wir sind schließlich nicht mehr im Mittelalter, als eine Hommage ein Zeichen der Treue eines Untergegebenen gegenüber seinem Lehnsherren darstellte.
Wieso bin ich an dieser kurzen Szene hängen geblieben? Weil sie eine von sehr wenigen in Biettes Werk ist, in der das Kino direkt Erwähnung findet. Ansonsten sparen die Filme die Kunstform, der sie selbst angehören, fast schon systematisch aus. Fast könnte man sagen: Seine Filme handeln von allem, außer vom Kino. Biettes Werk beschäftigt sich zwar durchaus obsessiv mit der Produktion von Kunst, aber eben nicht mit der Produktion von Filmkunst. Das Theater ist das Zentrum, manchmal ein (auch im wörtlichen Sinne) seltsam unbesetzt, unbewohnt wirkender Sehnsuchtsort der Biette’schen Kinowelt; die Literatur ein ständiger Unruhe verbreitender Unterstrom; Musik und Kunst haben in den Filmen feste Positionen als höchstpersönliche Obsessionen (die aber oft ins Off des Bildes oder der Handlung verschoben werden). Wo aber ist in Biettes Filmen der Ort des Kinos?
„Kino, Kino, was reimt sich auf Kino?“, heißt es an anderer Stelle in Le champignon des Carpathes. Viel mehr fällt den Figuren zum Thema in Biettes Filmen im Allgemeinen nicht ein. Das Kino ist nicht einmal interessant genug, als dass man dafür Desinteresse heucheln müsste. Gelegentlich zappt sich jemand durchs Fernsehprogramm und bleibt dabei auch an Kinobildern hängen. Einmal, ich weiß nicht mehr in welchem Film, habe ich, wie ich glaube, James Camerons Terminator erkannt.
Das Kino als Zufallsflimmern, das im Zuge seines Eingangs in die mediale Verwertungskette keine Spuren hinterlässt? So ganz nehme ich den Filmen ihren desillusionierten Gestus nicht ab. Der Furor der distinktionswütigen, charmant verbiesterten Pariser Cinephilie (ich beschäftige mich gerade zufällig auch wieder mit der Münchner Gruppe, die in manchem ähnlich, in anderem ganz verschieden tickt; in einem anderen Leben würde ich gerne vergleichende ethnografische Studien der Cinephilie anstellen) ist, glaube ich, trotz allem bei Biette nicht ganz abwesend. Seinen fauligen, aber auch verlockenden und alles in allem hochkomischen Atem verspürt man zum Beispiel, wenn Pierre Léon in Le complexe de Toulon die sechs (nein, genauer, und das ist natürlich außerordentlich wichtig: vier plus zwei) wichtigsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts aufzählt.
Überhaupt liegt der Gedanke nahe, dass Biette mithilfe anderer Künste über das Kino spricht. Insbesondere das Theater ist in seinen Filmen oft als eine (wenn auch keineswegs ungebrochene) Utopie des Kinos erkennbar; als eine Utopie eines cinephilen Kinos vielleicht, wie es sich empirisch nie recht, oder stets nur allzu kurz, realisieren hat lassen. Ein im sozialen Miteinander erarbeiteter Reflexionsraum, allen materiellen Zwängen zumindest im Akt der Aufführung enthoben. Eben ein – im fast monomanisch konzentrierten ersten Langfilm wird explizit, was später wieder eher in alle Richtungen auseinander driftet – ‚Theater der Materien‘.
Wieder bin ich mir nicht sicher: Der Versuch, einem Gedanken eine sichtbare Form zu geben … ist das im Theater wirklich leichter als im Kino? Oder ist es vielleicht nur einfacher, im Kino zu zeigen, wie es im Theater funktioniert? Aber erst einmal zurück zur Ente. Auch in Saltimbank hängt in einem Wohnzimmer das Bild einer solchen an der Wand. Ein anderes Bild einer anderen Ente allerdings. Ist das wieder Tex Avery? Oder vielleicht eher Chuck Jones? Wer meint, das würde keinen Unterschied machen, dem hätte man schnell die kalte Schulter gezeigt im cinephilen Paris der 1960er Jahre. Vielleicht bleibt das Kino in Biettes Filmen ja ein blinder Fleck, damit es den Ballast solcher Unterscheidungen nicht mit sich herumschleppen muss.
Wichtig erscheint mir außerdem: Was in Biettes Filmen an der Wand hängt, sind nicht Filme, sondern Bilder. Das Kino muss durch eine andere Kunst hindurchgehen, durch die Malerei, bevor es wieder in das Kino eintreten kann. Vielleicht ist das Kino schlicht das Medium, das solche Übersetzungen, Anwandlungen, Wiedereintritte ermöglicht. In Loin de Manhattan sehen wir die Bilder, die der Maler René Dimanche malt, nicht. Aber treten wir nicht in eben diese Bilder (wieder) ein, wenn Dimanche und seine Muse am Ende des Films in Sanddünen, beziehungsweise einem Rosengarten entschwinden? Treten wir möglicherweise gar in die Bilder jener „verlorenen Jahre“ ein, in denen Dimanche nicht gemalt hat? Haben wir es nicht überhaupt in Biettes Filmen ständig mit Wiedereintritten, Wiederbegegnungen zu tun, die sich der (beruhigenden) Mechanik eines Déjà-vu verweigern? In Trois ponts sur la rivière zum Beispiel, wenn zwei Menschen in ihre eigene Liebesgeschichte wieder einsteigen und sich in ihr verlaufen wie in einer fremden Stadt, in der die Mysterien der Weltgeschichte ganz kafkaesk von einem schweigenden Historiker bewacht werden. Ein schöner Text Ronny Günls auf dieser Seite weist in Le Complexe de Toulon eine ganze Reihe solcher (Wieder-)Eintritte nach: der Geschichte in die Filmgeschichte, eines Schauspielers in seine Rolle und so weiter.
Aber ich will keine Gesamtdeutung anbieten; mir scheint auch gar nicht, dass die Filme nach einer solchen verlangen. Schon gar nicht von mir. Lieber noch einmal zurück zum Anfang: Wie viele Sublimierungsschlaufen benötigt man, um von Tex Avery zu Jean-Claude Biette zu gelangen? Oder auch: Wie oft muss das Kino wieder in sich selbst eintreten, bevor Averys vor Dauergeilheit sabbernder, Schlüsselreize weiblicher Sexualität unmittelbar in Körperslapstick übersetzender Big Bad Wolf sich in Howard Vernon verwandelt, wie er, als untotes Phantom seiner eigenen Oper, in gleich mehreren Biette-Filmen höchst private Obsessionen mit den Mitteln des Theaters durchzuarbeiten versucht? Auch Vernon verhält sich zu seinen Mitmenschen letztlich wie zu Objekten, die ihm zur Bedürfnisbefriedigung und zu nichts anderem dienen. Aber eben: zur ästhetisch sublimierten Befriedigung ästhetisch sublimierter Bedürfnisse. Zudem liegt seine Ophelia gerade im Krankenhaus, und soll mithilfe eines Zauberpilzes geheilt werden. „Hamlet wird früher oder später aufgeführt werden“ – das ist Vernons letztes Wort in Le champignon des Carpathes. Ganz verschwunden ist das wölfische Grinsen trotz allem noch nicht von seinem Gesicht.