Varda und Mekas: Der Sammler und die Sammlerin

In Agnès Vardas TV-Serie „Agnès de ci de là Varda“ kommt es in der zweiten Episode zu einem Aufeinandertreffen zwischen der gewohnt liebenswert erzählenden Filmemacherin und Jonas Mekas. Das ganze findet statt auf der Biennale di Venezia, Varda hat sich als Kartoffel verkleidet, was spätestens seit Les glaneurs et la glaneuse, in dem einige herzförmige Kartoffeln aus dem Boden geerntet werden, ihr Markenzeichen wurde, Mekas lässt sich mit ihr fotografieren, legt seine Hand auf ihre Schulter. Sie erzählt, dass sie sich gefreut habe, ihn wiederzusehen. Man kennt sich. Nun ist man mehr oder weniger zusammen gestorben. Zwei Ewige des Kinos. Zwei, die vieles eint. Jonas Mekas und Agnès Varda, der Sammler und die Sammlerin. Beide hatten sich nicht ausschließlich, aber häufig mit etwas befasst, was man autobiografische Formen der Dokumentation nennen könnte, ein Verschmelzen zwischen Leben und Kamera oder auch nur Filme, solche die entstehen während man lebt, weil man lebt. Sie haben derart nicht nur ihr Leben mit der Kamera festgehalten, ja verlängert, sondern sie haben im Blick ihrer Kamera erst begonnen zu leben. Die nahen Bilder, die uns bleiben, sind jene der jeweiligen Wahrnehmung. Ihr Sehen, ihre Stimmen, der gelegentliche Blick in den Spiegel (deutlich häufiger bei Varda), die Freunde, die Orte, die Gedanken und Stimmungen. So dringlich fragt uns dieses Kino jetzt zurück: Was bleibt von einem Leben, einem Kino?

Der Sammler und die Sammlerin, die jedes Bild, so scheint es, behalten haben, um darin das Kino zu finden, um daraus das Kino zu behaupten. Sie haben Tagebücher gedreht und in ihren Narrationen eine unheimliche Nähe zum Zuseher aufbauen können, weil bei ihnen alles sehr direkt, mit offenen Armen nach außen reichend formuliert ist. Manche haben ihnen das vorgeworfen. Raymond Depardon, zum Beispiel, äußerte unlängst, dass Varda es sich einfach machen würde, weil sie den Zusehern immer alles erkläre in ihren Filmen. Mekas hatte nicht zuletzt aufgrund seiner Machtposition innerhalb der Filmkultur einige Feinde und die Unschuld seiner Bolex-Poesie war durchaus strategisch. Was nichts an dem ändert, was im Kino transportiert wird, was dort auf der Leinwand erscheint, in diesen kleinen Filmen, die manchmal alles dafür tun, gar nicht als Filme wahrgenommen zu werden.

Zwei, für die das Kino kein Beruf war, sondern ein Lebensstil. Auf der Website von Jonas Mekas findet man ein Bild der beiden beim Essen. Ein anderes Treffen der beiden fand beim Experimental Film Festival in Knokke-le-Zoute 1963 statt. Dort projizierte Mekas mit einer Bande von Eingeschworenen illegal Jack Smiths Flaming Creatures während der Preisverleihung auf das Gesicht eines Redners. Als die Intervention unterbunden wurde, zeigte man den Film im Hotelzimmer. Varda war dort zusammen mit Jean-Luc Godard und Roman Polanski. Alle wurden dazu verhört. Mekas kommentierte das Screening in der Village Voice: „Having plenty of time to play around at the festival I made one good friend: Varda’s five-year-old daughter. We had a good time together. So the last day of the festival I mentioned it to Varda. I thought she’d be happy. Instead, I noticed that her face became pale. For a moment I couldn’t understand the fear I saw in her face. Only slowly did it dawn on me that she took me for a sex maniac. After all, I am showing that dirty, transvestite movie in my room. And there is the Flaming Barbara with me. Sitney, I was told, got about 20 proposals from fags who were swamping the fest and who couldn’t exactly figure out what’s behind that beard. And there were rumors going on about the nightly orgies taking place in my hotel room…“

Wiederum ein anderes Mal interviewte Mekas Varda. Dabei erwies er ihr zugleich die Ehre, hinterfragte aber vor allem ihre, in seinen Worten „eskapistischeren“ und „kapitalistischeren“ Arbeiten. Letztes Jahr dagegen äußerte er sich äußerst wohlwollend gegenüber Vardas und JRs Visages Villages. Man könnte diese Begegnungen als kleine Anekdoten abtun, die nur deshalb Bedeutung bekommen, weil beide Filmemacher nun verstorben sind. Aber dann ist ihr Kino doch von solcher Natur, dass diese Begegnungen darin angelegt sind, das Anekdotenhafte zum Bedeutsamen werden soll und darf. Das, was am Rand lebt und erscheint, dass was verdrängt wird, bekommt die große Bühne: Ein Sonnenstrahl, ein erster Schnee, eine Erinnerung, die Ausgestossenen der Gesellschaft, Katzen (so viele Katzen), Wolken am Himmel; und auch das, was zwischen Menschen entsteht. Sei es Freundschaft, Liebe oder ein politisches Aufflackern utopischer Möglichkeiten. Der Glaube daran, dass die Kamera, die Welt registrieren kann, um sie reisen muss, weil man Bilder und Töne sammeln muss, um zu leben, weil das Leben erst dann Bedeutung gewinnt.

In einer Welt, in der ein seltsam gleichgeschaltetes, ausuferndes „autobiografisches Dokumentieren“ zum Alltag vieler Menschen gehört, nehmen Varda und Mekas nochmal eine ganz besondere Rolle ein. Statt auf vorgefertigte Bildmuster setzen sie auf Individualität, statt geglätteter Klarheit ist es die Undurchdringbarkeit der Erfahrung, es gibt ein Zusammen-Sein in ihren Filmen statt ein Sich-Abgrenzen, das eigentlich möglich wäre mit diesen romantischen Helden versteckt hinter ihren Linsen. Aber Varda und Mekas zelebrieren das Leben. Ihre disziplinierte, obsessive, lustvolle Praxis war die beste Form kollektivistischer Arbeit zwischen Sehenden und Filmemachern. Das sowjetische Kino hat nie dieses Ideal erreicht. Man sieht durch die Augen einer Kamera, man wird zu ihrem Blick, die Welt kann sich darunter verändern. Weil man lernt mit anderen Augen zu sehen. Varda ging dabei viel bescheidener vor. Mekas poetischer. Zwar umarmten beide digitale Technologien, aber Mekas Schaffen war lange Zeit doch deutlich mehr an das filmische Material gebunden. Varda hat sich dagegen auch in anderen Formen des filmischen Ausdrucks mehr als behaupten können. Dennoch hatte das Filmemachen für beide letztlich mehr mit Wahrnehmung zu tun als mit Technik, mehr mit Flüchtigkeit als mit abgeschlossenen Werken.

Zwei Reisende, die Bilder mitgebracht haben. Sie reisen weiter, wir behalten ihre Bilder.

Das Leben, so schön: Visages Villages von Agnès Varda und JR

Visages Villages von Agnès Varda und JR

Am Anfang dieses Beitrags steht das Gefühl eines inneren Zwiespalts. Schon während der Vorführung von Visages Villages hat sich in meinem Kopf ein Text strukturiert. Es gibt da ein paar Beobachtungen, die mir in den Fingern brennen. Andererseits stellt sich schon auch die Frage, warum man über diesen Film schreiben will. Oder warum man über ihn schreiben sollte. (Patrick hat zuletzt darüber geschrieben, welche Arten von Eindrücke Filme oder auch Bücher hinterlassen können). Es gibt Filme, die sind wie ein reißender Fluss. Man springt in ihn hinein, liefert sich ihm aus und kommt am Ende abgekämpft, am Fuße eines Wasserfalls, nach Luft japsend, gerade noch so mit dem Leben davon. Es gibt auch Filme, die einen in Stasis versetzen, in einen Schwebezustand, der auf andere Weise fesselnd wirkt. Es gibt Filme, die hasst man. Es gibt Filme, da zuckt man mit den Schultern und vergisst sie gleich wieder. Und es gibt Filme wie Visages Villages. Sie berühren, amüsieren, aber sie hinterlassen keine tiefere Empfindung. Dennoch nimmt man lieber den längeren Weg nach Hause, geht eine Straßenbahnstation zu Fuß. Dann ist man daheim, beginnt zu tippen, um nach kurzer Zeit festzustellen, dass das Ganze doch nicht so berauschend war, wie es sich im ersten Moment angefühlt hat.

Visages Villages von Agnès Varda und JR

Ich habe mir einen Haufen Fragen notiert. Und lose Zusammenhänge. Banale Beobachtungen. Im Kino fand ich sie spannender, als jetzt, ein paar Tage später. Die Fragen scheinen mir kaum die Mühe einer längeren Beantwortung würdig. Ich habe mir eine Struktur für meinen Text ausgedacht – noch während des Abspanns –, aber ich werfe sie über Bord. Wenn ich diesen Text je fertigbekommen will, muss ich mich treiben lassen. Haben sich Agnès Varda und JR das auch gedacht, als sie ihren Film gemacht haben?

Klar, Visages Villages liegt eine klare Idee zugrunde. Das ungleiche Paar bereist Frankreich, trifft und filmt Menschen und setzt aus diesen Miniaturen einen Langfilm zusammen. Varda hat Erfahrung mit dieser Form. Sie hat die längste Zeit dieses Milleniums damit verbracht, so zu arbeiten: Les glaneurs et la glaneuse (und das Follow-up Les glaneurs et la glaneuse…deux ans après), Les plages d’Agnès und die Arte-Serie Agnès de ci de là Varda. Nichtsdestotrotz wirkt Visages Villages weniger zielgerichtet als diese Arbeiten. Es ließe sich darüber spekulieren, ob das an JRs Einfluss liegt.

Auf jeden Fall wirkt Visages Villages schon allein deshalb weniger zielstrebig, weil nicht Vardas sanfte Stimme als eine Art Tour-Guide durch den Film führt (am extremsten hat sie diese Rolle in Agnès de ci de là Varda praktiziert), sondern die Filmemacherin im Voice-over eine Art Doppelconférence mit JR hält. Ein Off-Kommentar in Dialogform. Die Beiden sprechen also fortwährend über den Fortschritt ihres Projekts. Sie kommentieren aber nicht durchgängig in Retrospektive, was sie erlebt haben, sondern scheinen zum Teil in der Gegenwart des Films die nächsten Schritte auszuhandeln. Manchmal rutschen diese Gespräche auch in die Bildebene. Dann trifft JR Varda zum Tee, um Pläne zu schmieden. Das ist pure Inszenierung. Und sie ist nicht gut versteckt. Daraus entwickelt sich ein interessantes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Dokument und Fiktion.

Visages Villages von Agnès Varda und JR

Wieder kurz zurück auf die Meta-Ebene. In meinem Kopf hatte ich mir schon wunderbar zurechtgelegt, wie man den Film fein säuberlich in Motive aufteilen könnte. Die verschiedenen Begegnungen könnte man etwa in die Kategorien Menschen, Landschaft und Kunst einteilen und dann eine taxonomische Ordnung der einzelnen Miniaturen vornehmen. Das würde auch gut zu Vardas Leidenschaft des Sammelns passen. Immerhin hat sie selbst zwei Filme nur zu diesem Thema gemacht. Und versucht eine audiovisuelle Taxonomie Frankreichs anzulegen. Ein Sammler nimmt in der Regel etwas mit. Ein Souvenir.

Nun musste ich nach etwas Nachdenken feststellen, dass es sich mit Visages Villages etwas anders verhält. Das Sammeln von Bildern ist dem Film freilich auch inhärent, aber JR fügt dem Film eine weitere Note hinzu. Er lässt etwas zurück. Die absurd hohe Menge an großformatigen Fotomotiven, die er auf Fassaden, Schiffscontainern oder Ruinen hinterlässt, gibt zwar Anlass zum Schmunzeln („JR putting things on walls“ hat Hashtag-Qualitäten), nichtsdestominder unterscheidet sich Schaffensmodus des Zurücklassens drastisch von Vardas liebevoller Entnahme. Brachiales Geben stößt auf zartes Nehmen. Das ist schon interessant.

Nun gut, es ist vermutlich nicht die brillanteste Beobachtung, dass Visages Villages seine Energie zu guten Teilen aus den Widersätzen seines Protagonistenpaars bezieht, in der Rezeption des Films überwiegen aber die Gegenüberstellung der alten Frau und des jungen Mannes oder jene des hippen Instagram-erprobten Stars und der Filmemacherin, deren Hochzeit, wie die ihres Mediums, einige Jahrzehnte zurückliegt. Was einen Film wie Agnès Vardas Mur murs, eine Studie über Street Art in Los Angeles, aber von Visages Villages unterscheidet, ist, dass Varda in ersterem die Bilder sammelt, die schon da waren, während sie in letzterem extra für den Film angefertigt werden. Womöglich liegt die Dynamik also weniger in der Persönlichkeit der Protagonisten, als in ihren Arbeitsweisen. Vielleicht ist auch dieser Schluss banal. Aber es hat mehr als einen kurzen Spaziergang gedauert, bis ich in meinem Denken über den Film darauf gekommen bin. Das ist in der Regel ein gutes Zeichen.