Dinge mit Sinnen in den Filmen von Jacques Tati

Ein Fahrrad allein in Jour de fête

von Ivana Miloš

Die Menschen auf ihren Fahrrädern, weshalb erscheinen sie so rätselhaft? Die Fahrräder, was macht sie so faszinierend im Vergleich zu anderen Transportmitteln, die nicht derart geliebt werden? Vielleicht hat es mit ihrer fortlaufenden Bewegung zu tun, dem unbeirrbaren Drehen dieser beiden Räder – schnell genug, um uns weiter und vorwärts zu bringen und doch gerade langsam genug, um gesehen zu werden bei ihrem Drehen, Drehen, Drehen. Oder hängt es mit dem am Rad klebenden Freiheitsgefühl zusammen, einem Gefühl für Bewegung jenseits der Verbote, des Verkehrs, der Straße, jenseits von allem eigentlich. Oder es geht um diese Frage, die manche Objekte ganz besonders aufwerfen: Lebt es ein eigenes Leben, wenn wir nicht hinschauen? Was auch immer stimmen mag, das Fahrrad ist erfüllt von Magie. Deshalb sollte es kaum überraschen, dass es in der Lage ist, ganz von sich alleine zu fliehen wie in Jacques Tatis wundervollem Jour de fête. Zunächst scheint sich das Fahrrad des Briefträgers, also Tatis, mit einem fahrenden Lastwagen zu verkeilen und so in Bewegung versetzt zu werden – aber dann, nach einer scharfen Kurve, haut es ab mit drehenden Pedalen, eine Landstraße hinab, ganz allein. Einige Ziegen werfen diesem rasenden Rahmen auf zwei Rädern einen fragenden Blick zu. Tati versucht es einzuholen, aber es würde ihm nie gelingen, würde das Fahrrad nicht entscheiden anzuhalten, erneut ganz von sich allein. Selbstredend markiert diese Szene nur einen Beginn von Tatis lebenslanger Faszination für Dinge, die den Menschen entwischen. Dinge, die ihre Fesseln lösen, die ihr eigenes, oftmals haarsträubendes und lächerliches Leben führen. Nur ist das Leben der Dinge auf ewig mit dem ihrer Hersteller verbunden und so kann man nicht anders, als sich beim Beobachten dieses elegant fliehenden Fahrrades an Elizabeth Wests berühmten Spruch zu erinnern: „Der Fortschritt hätte haltmachen sollen, als der Mensch das Fahrrad erfunden hatte.

Aus dem Englischen von Patrick Holzapfel

Knautschmaterialien in Playtime

von Patrick Holzapfel

Kein Material ist geeigneter für einen, der sich über die Welt wundert, als das Knautschmaterial. Was soll das sein, werden manche fragen und ich kann hier nicht mit wissenschaftlichen Antworten dienen, werde aber dennoch versuchen, etwas über diese Stoffe zu verstehen , die man zerdrücken, quetschen, eindullen, kneten oder knautschen kann und die sich dann, sobald man von ihnen ablässt, einem für mich schwer nachvollziehbaren inneren Drängen nachgebend, langsam, mit der unbeirrbaren Bestimmtheit physikalischer Bewegungen zurück in ihre ursprüngliche Form begeben.

Ich erinnere beispielsweise die unendliche Faszination, die mich als Kleinkind überfiel, wenn ich diese perfekt runden, so offensichtlich eindrückbaren Membranen in den Lautsprecherboxen meines, seine Boxen über alles liebenden, Vaters erblickte. Nichts sehnlicher wollte ich, als mit meinen kleinen Fingern in diese weichen, glatten Membranen zu drücken, die sich bewegende Luft unter der samtenen Oberfläche zu spüren, geradezu einzudringen, in die mir unbekannte Welt hinter dem matten Schwarz, aus dem die aufregenden Töne kamen, um dann zu beobachten, wie diese Stoffe zurück in ihre perfekt runden Formen ploppen. Leider stellte sich das Ploppen nicht immer ein und so wurde mir, der ich die ein oder andere Membran zu tief eindrückte, verboten, auch nur noch in die Nähe dieses Knautschmaterials zu krabbeln. Gut, dass es für derlei bisweilen vergessene Freuden einen Filmemacher gibt, der sich weiter gewundert hat, dem es gelang, der Welt noch so zu begegnen, als würde er nicht alles begreifen oder begreifen wollen, sondern so, als wäre er ein Fremder oder tatsächlich ein Kind geblieben. Einer, der etwas Knautschendes aufspürt und dessen Bewegungen dann folgt wie die Katze einer Fliege.

In Playtime verbindet dieser Jacques Tati, von dem hier die Rede ist, die Verwunderung, die manchmal einer Verzauberung, manchmal einem Albtraum gleicht, mit der sogenannten technischen Moderne. Er treibt die Entfremdung des Menschen von den Dingen, die ihn umgeben, auf die Spitze. Da gibt es zum Beispiel einige High-Tech-Sessel in einem Glaszimmer. Tati oder sein Alter Ego traut diesen kleinen Designerobjekten nicht wirklich. Er tastet das, unter Druck nachgebende, Material ab, bevor er sich äußerst zögerlich auf einen der Stühle setzt und sofort bemerkt, dass er tiefer im Sitz einsinkt, als er erwartet hatte. Er steht wieder auf und betrachtet die Spur seines Sitzens, einen runden Abdruck im verformten Sessel, der sich mit einem plötzlichen Ploppen zurück in seine geglättete Form begibt. Tati versucht sich noch an einem anderen Stuhl. Er zerdrückt die Lehne, setzt sich, steht auf und schaut wie das Material zurück in die ursprüngliche Form springt, nur ganz ploppfrei diesmal, ganz still, was der Albernheit dieser Bewegung erst die komische und kosmische Leere überträgt. Die Stille dieses Raumes im Vergleich zur lärmenden Straße, von der aus Tati in Zwischenschnitten in Ton und Bild immer wieder auf diese Interaktion mit den Sesseln blickt, verstärkt diese herrlich sinnlose Bewegung des Knautschmaterials, die letztlich, wenn man für solche Gedanken empfänglich ist, hinterfragt, was wir da eigentlich tun, wenn wir Stühle oder andere Objekte entwerfen, die sich verformen und in Glaszimmern stehen. Man wundert sich und stolpert weiter, immer hoffend, dass irgendwann alles wie von selbst zurück in die ursprüngliche Form springt.

Alles blitze blank in Trafic

von Ronny Günl

Die Autos in Jacques Tatis Trafic müssen glänzen, sonst werden sie übersehen. Ein eifriger Mitarbeiter wedelt beim Aufbau der Karosserienschau jede hartnäckig verbliebene Staubfluse von der Motorhaube. Keine Spur soll verraten, dass dieses Fahrzeug mehr als reines Anschauungsmaterial sein könnte. Den dafür verwendete Wischmopp – man sollte eher Wisch-Mops sagen – will die Kamera für einen Augenblick mit dem zotteligen Havaneser der nervösen PR-Managerin verwechselt haben. Später im Film wiederholt sich die Verwechslung, nur weitaus morbider, als der Pelzmantel der Hippies, die sich einen Streich erlaubten, ebenfalls für das vermeintlich überfahrene Hündchen gehalten wird. Tati streift sich die Hundeattrappe über, eigentlich um den bitteren Scherz aufzulösen, doch die Nerven der Frau liegen nun gänzlich blank. Arme Hunde, man will euch wie Menschen behandeln.

Für einen Moment abgelenkt, nicht nur vom hastigen Vorbeifahren der PR-Dame, sondern vielleicht auch von der polierten Oberfläche ihres Sportwagens, kommt der Wachtmeister auf der Kreuzung ins Taumeln. Unausweichlich folgt der große Crash. Seinen absurden Hergang kann man wohl kaum rekonstruieren. Aber hätte ein bisschen Dreck auf dem Lack schlimmeres verhindert? Schöne Autos schinden Eindruck, lassen sich die Show nicht stehlen. Aber gut geputzt, werden die Boliden letztlich zu Blendern im Sonnenlicht. Der Lack zeigt sich als Reflexionsfläche und die Sicht auf die Fahrbahn wird zum strahlenden Hindernis.

Im Kino sind Autos oft ein wenig zu übermütig unterwegs, knattern gern etwas zu laut. Der Fußgänger und Hundefreund Tati kann seine Abneigung gegenüber dem flotten Verkehr kaum verstecken. Erst als zerdellte und verbeulte Blechteile mit hüpfende Reifen wollen sie ihm gefallen. Eine verspielte Abrechnung, glücklicherweise ohne ernsthaften Schaden.

Unbemerkt fällt beim Ausstellen des Schecks für die Reparatur schließlich ein Tropfen Tinte aufs Brillenglas, der die gestresste Frau nur noch Flecken in der Gegend wahrnehmen lässt. Kein seltenes, aber bedenkliches Symptom unter hoher Belastung. Der Putzwahn ist vorprogrammiert. Zwar wird die Irritation mit einem Schmunzeln weggewischt, aber trotzdem munter weitergewienert was das Zeug, beziehungsweise der Lack aushält. Auch Tati hilft fleißig mit. Anstatt Billigung der Umwelt, gilt so vielleicht die Reinlichkeit der Autos – eher als Drecksschleudern verrufen – viel mehr als Hybris der Menschen, die überall nur noch Verschmutzungen sehen können. Wer eine saubere Haube vorzuweisen hat, provoziert wenigstens keine unangenehmen Fragen. Doch am Ende besitzt wahrscheinlich jeder seine eigene Oberfläche, die tunlichst vor Verunreinigungen beschützt werden soll, sei es ein Auto, eine Brille, oder ein Bildschirm. Was würden die Hunde dazu sagen?

Der Sessel im Gartenbaukino

Gartenbaukino, innen / Detailaufnahme von gepolsterten Kino-Klappsesseln (Lucca Chmel / Robert Kotas, 1961) Quelle: ÖNB, Bildarchiv Austria, CHM 2338.

Man kennt ihn. Nach einer halben Stunde, also etwa nach Ende des ersten Aktes, macht er sich bemerkbar. Manchmal aber auch schon direkt nachdem man Platz genommen hat. Jedenfalls immer dann, wenn man es sich gerade richtig gemütlich machen will. Ein hölzerner oder vielleicht stählerner Balken drückt sich allmählich durch das Polster auf den Rücken, während gleichzeitig die Knie davor an die Rückwand des vorderen Stoßen. Das alles, nachdem der Kampf um die Armlehne befriedet wurde. Mit ein wenig Glück hat man freie Sicht. Meistens jedoch verdeckt ein Hinterkopf einen nicht unwesentlichen Teil des Bildes. Wenig später schafft es noch ein Nachzügler in den Saal. Missmutig erhebt sich eine Gruppe, von zehn Personen. Eine unruhige Mischung aus Peinlichkeit und Empörung macht sich breit. Doch bald sind die Wogen wieder besänftigt. Irgendwie gehört das ja auch dazu.

Das letzte Mal als ich das Vergnügen mit den Sesseln des Gartenbaukinos hatte, liegt schon ein paar Monate zurück. Ich sah mir den neuen Film von Hong Sang-soo, Domangchin yeoja während der Viennale an. Es war eine Spätvorstellung und ich hatte an diesem Tag gearbeitet, war also entsprechend müde. Dankbarer Weise ließen mich der Sessel nicht schlafen, vielleicht war es aber auch der Kaffee, den ich zuvor noch trank. Der Saal war nahezu leer, geradezu ausgebrannt. Er vermittelte den Eindruck, als hätte auch er unter den Strapazen des Festivals gelitten. Die vielen Menschen, die mir noch im Foyer entgegen strömten, hatten ihren Abdruck hinterlassen. Sang-soos Film endete im Kino. Es war ebenso leer, wenngleich steriler als das, in dem ich mich befand. Ein paar Tage später unterhielt ich mich mit Kollegen über den Film. Ich kam nicht umhin, mich über die Sitze zu beschweren. Lächelnd stimmte man mir zu.

Seitdem ist einiges geschehen. Die sterile, gähnende Leere aus Sang-soos Film hat gänzlich auf die Säle der Stadt umgegriffen. Der Angst, die die Kinolandschaft noch im Frühjahr 2020 erfüllte, ist einer Resignation gewichen. Es ist still geworden und die Zukunft ungewiss. Doch nicht für das Gartenbaukino. Ein paar Wochen nachdem die Kinos wieder schließen mussten, las ich eine Meldung, welche die Renovierung dieses altehrwürdigen Kinos ankündigte. Wie automatisch versuchte ich mich zu erinnern, wie es aussah, um dieses Bild für mich zu behalten. Ich hatte Sorge es nicht mehr wiederzuerkennen.

Ist es denn wirklich so schlimm um das Kino bestellt, dass das notwendig ist? Gibt es denn nichts wichtigeres für das Kino als eine Renovierung? Womöglich ist es doch notwendig. Auf Facebook startete vor einiger Zeit ein Aufruf nach Bildern der Sessel aus den 1960er Jahren. Nun ist März 2021 und von den siebenhundertsechsunddreißig Sesseln fehlt jede Spur.

Stattdessen öffnet das Haus seine Pforten für eine Pressekonferenz, welche die Planungsschritte der Sanierung vorstellt. Auf der Bühne stehen verloren ein paar Buchstaben der alten Leuchtreklame, dahinter mit Abstand Geschäftsführer Norman Shetler, die Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, Staatssekretärin für Kunst und Kultur Andrea Mayer und der Architekt Manfred Wehdorn. Nach den obligatorischen Zahlen hat Wehdorn das Wort. Er schildert das Konzept der Sanierung. So wolle man das Kino wieder in den ursprünglichen Zustand der 1960er Jahre versetzen. Damals, als die Zeiten nach den ‚schlimmen Kriegsjahren‘ endlich wieder ‚gemütlicher‘ wurden. Jene ‚schlimmen Kriegsjahre‘, von denen auch in den persönlichen Annalen des Gartenbaukinos, zwischen „Einbau der Tonanlage“ 1930 und „Übernahme der Kino-Konzession durch die KIBA (Kinobetriebsanstalt Ges.m.b.H)“ 1947 jede Spur fehlt. Man will zurück zu dem Kino, das Robert Kota 1954 umgestaltete. Dieser Robert Kota, der an einigen Projekten ab 1933 von Carl Wittmann (baute Theaterinnenausstattungen für Propagandazwecke und erhielt nach Ende des Zweiten Weltkriegs Berufsverbot) mitwirkten. [1] Es soll schließlich alles werden, wie es einmal zu Zeiten von Robert Kota war – damals, in der guten alten Zeit. Alles soll wieder in dem festlichen Ambiente und Glamour erstrahlen. Und das alles bis zur kommenden Viennale – „Das geht nicht anders!“

Ziel sei es in erster Linie die Technik zu erneuern und die Räume zu restaurieren. Dieses Vorhaben am denkmalgeschützten Objekt soll so gewissermaßen ein Paradebeispiel für die Zukunftsfähigkeit des Kinos sein, gleichwohl haben nicht alle Wiener Kinos dieses Privileg. Aber sieht so die Zukunft des Kinos aus? Leider behält Lars Henrik Gass womöglich schneller recht, als uns lieb ist, wenn er fordert, dass man das Kino nur in die Zukunft retten kann, indem man es zum Museum erklärt. Aber muss die Zukunft des Kinos in der Vergangenheit liegen? Das Kino ausgerechnet in einer Zeit zurückzuführen, als es noch nicht um seinen gesellschaftlichen Stellenwert bangen musste, lässt einen gewissen Zynismus durchscheinen, der vor der Realität die Augen verschließt und sich in eine sorgenlose Vergangenheit flüchtet. Es heißt von Seiten Shetlers, es zähle der Komfort. Der Komfort, der leider zu gut nach Wien passt, wo Kino nur für die Privatangelegheit der eigenen nostalgischen Sehnsüchte dient, wo Moderne nicht gelebt wird, sondern fetischisiert wird. Mir scheint, bald schon soll der Film beginnen, bevor der Projektor überhaupt angeschaltet wurde. In eben dieser glorreichen besungenen Zeit der 1960er Jahre hielt Christian Metz in den Cahiers du Cinéma fest:

„Die Summe der Eindrücke teilt sich nach Henri Wallon bei der Projektion eines Filmes in zwei völlig voneinander getrennte Reihen, die ‚visuelle Reihe‘ (d.h. den Film, die Diegese) und die ‚propriozeptive Reihe‘, d.h. das Bewusstsein vom eigenen Körper – und damit das der realen Welt –, das nur noch eine schwache Rolle spielt (nämlich dann, wenn man sich in seinem Sessel bewegt, um eine bessere Lage zu finden)“[2]

Gerade jetzt vermisse ich diesen unbequemen Sessel, der auf den Rücken drückt und einem mitteilt, dass man immer noch in irgendeinem Kino sitzt. Wenn man Filme wieder „kollektiv“ schauen und vor allem im Kino „streiten“ will, wie es Andrea Mayer in Aussicht stellte, dann sind die neuen Sitze wohl kaum eine Hilfe dafür, es sei denn, sie meinte mit „streiten“ gemütlich plauschen oder lästern. Eher will man, eine „Bindung“ zum Publikum herstellen. Diese Bindung gibt es, soviel Spätmoderne darf sein, bei Startnext zu erkaufen, kostet 360€ und sichert einem eine Sesselpatenschaft, die darin besteht, seinen Namen mit einer Plakette für fünf Jahre an einen Kinosessel anzubringen. Dies wird stolz am Ende der Pressekonferenz verkündet. Danach flimmert über den ORF-Livestream von der Pressekonferenz die Projektion des Kampagnen-Teasers auf der riesigen Leinwand des Gartenbaukinos  – ein bisschen wie das Ende in Sang-soos Film. Wo einst vor ein paar Monaten die Wiener Unterwelt vergangener Tage zu sehen war, sieht man nun zusammengetrommelt die Größen des österreichischen Films, um dort mit ihren Erinnerungen für das Kino herzuhalten, als wären sie Zeitzeug_innen einer längst vergangenen Epoche. Ob „Gartenbau Forever“ ein glücklicher Slogan für den Aufbruch in die Zukunft ist, wage ich zu bezweifeln. Es bleibt am Ende doch alles, wie es war.

[1] https://www.gartenbaukino.at/das-kino/die-geschichte-des-kinos.html. Im Online-Geschichtslexikon der Stadt Wien finden sich leider auch nur spärlich Information. Die einzige Notiz über die ominösen Jahre, war „eine Gedächtnisfeier für den verewigten Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß“. (https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Gartenbaukino)

[2] Christian Metz, „Zum Realitätseindruck im Kino“ in Semiologie übers. v. Renate Koch, München, Fink 1972, S. 30. Orig.: „A propos de l’impression de réalité du cinéma“ in Cahiers du Cinéma, Paris, de l’Étoile. – Nr. 166-167, Mai-Juni 1965, S. 75-82.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: GRÜN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel kneifen sich und träumen weiter im Sog der beleuchteten Vierecke. Dabei verschmelzen die Erfahrungen zwischen den Filmen mehr und mehr und wenn man die Augen am Abend vor dem Schlafen schließt, sieht man tausende Farben eines Kinos, das noch zu nahe unter den Lidern lebt, um schon verstanden zu werden.

Mehr zur Viennale bei uns

Taxi Driver De Niro

Patrick

  • Nachts fährt man durch eine fast leere Stadt (es sollte immer noch Wien sein, es sei denn ich habe mich verfahren) nach dem letzten Film des Tages. Sie streichen alle Fahrradwege grün. Mein Rad macht komische Geräusche auf diesem Farbgeruch. Ich blicke auf die feuchten Farbkörner des frischen Belags, die an meinem Vorderrad hochspritzen und dann auf das Licht meiner schwächlichen Vorderlampe, die den grünen Boden immerwährend beleuchtet, als würde ich das Kino mit auf meinem Weg nehmen.
  • Martin Scorsese steht mit einem Megafon im Gartenbaukino und schreit Touristen an, die ein Foto von ihm machen wollen. Eine Welle bricht ins Kino und mit ihr ein riesiges Schiff.
  • In Transit, der letzte Film von Albert Maysles, zeigt uns wie verklärt Amerika noch immer sein kann. (life is peaceful there) Der Film macht etwas anderes. Er baut eine Utopie der Menschlichkeit auf. So verklärt ist nicht mal Amerika.
  • Jem Cohen hat in seinem Publikumsgespräch gesagt, dass man verschiedenen Filmemacher einfach nicht nachahmen sollte…man sollte nicht versuchen, einen Bresson-Film oder Ford-Film zu machen. Perrone hat in Los actos cotidianos versucht, einen Pedro Costa-Film zu machen. Er hat sicherlich gute Dinge dabei gefunden, aber etwas anmaßendes liegt in dieser Haltung, die Cohen Recht gibt.
  • Trotzdem denkt man dann an Vanda. Ich weiß gar nicht weshalb. Ich denke an ihre Nahaufnahmen oder an sie.
  • Ein ehrlicher Film verliert meist von seiner Ehrlichkeit, wenn er im Festivalkontext gezeigt wird.

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Ioana

  • Der Perrone von heute sieht noch mehr wie Costa aus, als der Perrone von gestern. Nur ohne die Worte, die wie das Letzte klingen, was man vor dem Sterben sagt, ohne die schweren Blicke, ohne dass die Türen mehr als Türen sind. Eigentlich ohne alles. Daher verabschiede ich mich schon von seiner ersten Phase und warte trotzdem neugierig darauf, Filme aus seiner zweiten zu sehen.
  • Vielleicht ist In Transit eine gute Art sich zu verabschieden. Wer weiß?
  • Sobytie ist extrem interessant aus zahlreichen Gründen, aber die meisten Fragen muss ich mir über Loznitsas Umgang mit dem Archivmaterial stellen. Wie kann er mit Material arbeiten, das nicht von ihm gedreht wurde und darin das, was ich als seine Perspektive einschätze, durchsetzen? (Editing) Wieso sieht das fast wie continuity editing aus (natürlich eine Übertreibung) – war das Material teilweise montiert? Hat er Teile, die schon montiert waren, so übernommen? Wie viele Quellen gibt es? Wie kann der Film so abgeschliffen aussehen? Ich wusste, dass er mit Archivmaterial [aus der Zeit] gearbeitet hat und die ersten Minuten schienen mir trotzdem aus einem ‘Spielfilm’ (nein, den Unterschied gibt es so gar nicht) zu stammen. Ich stelle mir dreimal so viele Fragen über die Tonebene.
  • Ich finde manches aus der Beschreibung des Films, die auf der Seite der Viennale zu finden ist, komisch: “Loznitsa montiert seinerzeit entstandenes Material mit bewährter Zurückhaltung und konzentriert sich auf die Gesichter; man lernt: Im Moment ihres Geschehens ist Geschichte banal und du und ich sind auch durch bloßes Herumstehen daran beteiligt.”   
  • Kurz nach dem Film musste ich an Videogramme einer Revolution von Harun Farocki – die Vorbereitung auf die TV Sendung – denken und lachen. – Was sagen wir jetzt? Die hinten mit der Flagge – Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen.  Dann musste ich natürlich an Porumboiu denken, ich frage mich, ob er noch in Wien ist.
  • Ich habe eine Thermosflasche in der Viennale-Tasche gehabt und die Tasche ist ein wenig geschmolzen, weil die Flasche heiß war und die Tasche aus Plastik oder etwas Ähnliches ist und ich habe mich geschämt, weil meine Tasche im Kino gestunken hat, aber du hast es nicht gemerkt.
  • A Poem is a Naked Person ist bunt und zerstreut und war ein guter Anfang für den Tag und ein Mann isst einen Becher.
  • Morgen kann man die Karte für Cemetery of Splendour reservieren, es darf nicht schiefgehen.

Vienna Independent Shorts: Eröffnung oder „Über den Lauf der Dinge und den Sinn des Lebens“

"Unstill Life" von Zeitguised

Über Ostern war ich als Jugend ohne Film-Außenkorrespondent in Kopenhagen unterwegs, nun wechsle ich die Seiten und berichte die nächsten Tage quasi als Innenkorrespondent vom Vienna Independent Shorts Festival aus Wien.

Der Kurzfilm wird oft bloß als „Ausbildungsmedium“ für den „echten Film“ wahrgenommen, aber wenn schon Alain Resnais diese Auffassung nicht teilte, brauche ich das auch nicht zu tun. Kurzfilme sind großartig: Sie korrespondieren mit meiner Aufmerksamkeitsspanne. Sind sie schlecht, so dauert die Qual wenigstens nicht allzu lange, und sind sie gut führen sie zu Momente luzider Klarheit, die durch ihre Kürze nie an Frische und Elan verlieren. Ein weiterer entscheidender Aspekt: die filmische Avantgarde, die mir immer mehr ans Herz wächst, greift zumeist auf die Kurzform zurück – auf Festivals wie dem VIS erwarte ich mir also eine geballte Ladung experimenteller, visueller Geschmacksexplosionen.

Nicht zuletzt möchte ich die Umstände betonen, in denen Kurzfilme gezeigt werden: Ist beim Langfilm das Double Feature das höchste der Gefühle, so kann ein Kurator eines Kurzfilmprogramms aus dem Vollen schöpfen und die einzelnen Filme zu einem größeren Ganzen emporheben.

"Unstill Life" von Zeitguised

Unstill Life von Zeitguised

Nach dieser kurzen Vorrede nun ein konkreter erster Einblick in das bunte Treiben: Freitagabend lud das Festival zur feierlichen Eröffnung im Gartenbaukino. Wobei feierlich vielleicht das falsche Wort dafür ist. Das VIS gibt sich betont studentisch-hip-alternativ. Zum einen weil es dem persönlichen Charakter des jungen Teams entspricht, zum anderen wohl auch aus budgetären Gründen. Die Präsentation des Festivals und der Partner gestaltet sich dementsprechend schlank, reduziert, humorvoll, selbstironisch. Gesprochen wurde erfreulicherweise nur vergleichbar kurz – dafür auf Englisch – den Hauptteil des Abends bilden die Filme selbst. Neun Werke wurden gezeigt, die die volle Bandbreite des Kurzfilms repräsentieren. Von abstrakter Digitalkunst bis Ultrakurzdokumentarfilm war alles dabei, der älteste Beitrag (Bert Haanstras Zoo) stammte aus dem Jahr 1962, der jüngste (Momoko Setos Planet Σ) wurde erst vor zwei Wochen fertiggestellt.

Trotz dieser Programmierung wirken die Filme nie zusammengewürfelt und zerfahren. Diesen Effekt ruft allerdings das unmögliche Publikum hervor, das sich nach dem ersten Block in Massen aus dem Saal begibt um sich mit Getränken zu versorgen. Solch ein Verhalten stößt bei mir auf Unverständnis – zumal die Reden, wie bereits erwähnt, kurzgehalten waren. Von dem Titel „Manifest für ein geschlossenes Kino“ für diesen Artikel habe ich dann doch abgesehen. Aber gerade ein Filme Boring Angel, Clonal Colonies oder Unstill Life verlieren enorm an Effekt, wenn die Aufmerksamkeit durch öffnende Kinotüren gestört wird.

"Zoo" von Bert Haanstra

Zoo von Bert Haanstra

 

Nach dem Festivaltrailer (großartig: ein explodierender Goldfisch) durfte John Michael Bolings Boring Angel das Festival filmisch eröffnen. Der Film ist eine Abfolge von gängigen und weniger gängigen Emoticons in wechselnder Geschwindigkeit vor weißem Hintergrund. Das mag abstrakt klingen, lässt sich aber narrativ als die Geschichte des Lebens deuten (der Film endet mit einem Totenkopf). Neue Dimensionen eröffnen sich aber durch einen ästhetischen Blick. Die rasche Abfolge einiger dieser Emoticons führt zu einem überlappenden Eindruck – ein Festmahl für Gestalttheoretiker – der Film zeigt mehr als seine Einzelbilder.

Auf diesen rasanten Einstieg folgte der imposanteste der neun Beiträge an diesem Abend. Momoko Setos Planet Σ, der im Rahmen von Setos Aufenthalt als Artist in Residence im Museumsquartier entstanden ist. Der Film ist zugleich Genesis wie Apokalypse. In beeindruckenden Bildern (aber laut Filmemacherin ohne Computerunterstützung) betätigt sich Seto als Weltenschöpferin in einem fremden Universum. Lässt Insekten aus ihrem ewigen Schlaf erwachen um ihnen schlussendlich den Gar aus zu machen. Eine große Parabel über die Entstehung und den Niedergang der Welt? Bestimmt aber ein atemberaubendes visuelles Spektakel.

La Lampe du Beurre de Yak von Hu Wei und Colonal Colonies von Brett Battey mit Live-Soundbegleitung durch Richard Eigner rundeten den ersten Filmblock ab. Wei zeigt einen Fotografen, der in (Tibet?) China verschiedene Familien porträtiert. Der Film wurde begeistert beklatscht – die Redundanz und das brachiale „Save Tibet!“-Gehabe scheinen angesichts der politischen Dimension des Films in den Hintergrund zu treten. Colonal Colonies hingegen ist ein unpolitischer Film und mit Abstand das abstrakteste was an diesem Abend gezeigt wurde – eine Abfolge von digitalen Mustern und Grafikelementen – beinahe halluzinatorisch.

"La lampe au beurre de yak" von Hu Wei

La lampe au beurre de yak von Hu Wei

 

Nach einer kurzen Zwischenrede durch die Moderatorin folgte das zweite Filmprogramm. Der erste Film des Programms Michael S., Versammelt ist eine famose, aber leider sehr kurzen Dokumentation über einen deutschen Sammler von 8mm-Filmen bzw. dem Einfluss seines Hobbys auf sein soziales Leben. In eine ähnliche Kerbe schlug Person to Person von Dustin Guy Defa – ein 16mm-Film über den Besitzer eines nerdigen Plattenladenbesitzers, der nach einer WG-Party mit einer schlafenden Frau auf seinem Flur konfrontiert ist. „Person to Person“ war, darf man dem Publikumszuspruch und meinem persönlichen Gefühl trauen, der unterhaltsamste Film des Abends.

Zwischen diesen beiden Filmen kam mit Harmony Korines Snowballs der Star des Abends im Programm (mit Korines Namen wurde aktiv für das Festival geworben und tatsächlich ist er wohl der prominenteste Regisseur im Aufgebot). Snowballs eignet sich sehr gut als absurdes Zwischenspiel inmitten liebevoller und persönlicher Filmporträts, kann aber seinen marktschreierisch-schrillen Gestus (wie man ihn von Korine gewohnt ist) nie ganz ablegen.

Die Künstlertruppe Zeitguised lieferte mit ihrem neuesten Film Unstill Life den wohl enigmatischsten Beitrag an diesem Abend. Computeranimation mit betont fotorealistischem Look – bewegende Formen – sind es Betonbrücken? Das Leben steht nicht still – schön.

Abschließend wurde noch ein Film gezeigt, der stellvertretend für eines der Spotlights des Festivals steht. In Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum und dessen 50-jährigem Geburtstag zeigt das VIS ein Programm aus Filmen, die 1962 bei der von Peter Konlechner geleiteten Internationalen Kurzfilmwoche liefen. Der niederländische Beitrag Zoo von Bert Haanstra, ein komisches, dialogloses Klamaukspiel, das Zoobewohner und Zoobesucher gegenüberstellt. Ein leichtmütiger Abschluss für einen angenehmen Abend – danach durfte wieder einmal das Gartenbaukino-Foyer als Tanzfläche von allen Partywütigen zweckentfremdet werden.